Die Nerven: Eine Dekonstruktion des Hypes um die Stuttgarter Rockband

Die Nerven, gegründet 2010 in Stuttgart, haben sich zu einer der wichtigsten Bands der deutschen Musikszene entwickelt. Ihr neues Album „Fake“, erschienen am 20. April, wird neben Tocotronics „Die Unendlichkeit“ und Kreiskys „Blitz“ als eine der besten deutschsprachigen Veröffentlichungen des Jahres gefeiert. Die Band, bestehend aus Max Rieger (Gitarre, Gesang), Julian Knoth (Bass, Gesang) und Kevin Kuhn (Schlagzeug), präsentierte ihr Album am 27. April in der Manufaktur in Schorndorf.

Die Wahrheit hinter der "Fake"-Welt

In einer Welt der Digitalisierung, des Internets und der sozialen Medien, in der sich Informationen rasend schnell verbreiten, ist es oft schwer, Wahrheit von Falschheit zu unterscheiden. Die Nerven thematisieren diesen gesellschaftlichen Umbruch auf ihrem Album „Fake“. Sie nehmen eine Bestandsaufnahme vor und agieren als Beobachter und Chronisten der medialen Welt. „Her mit euren Lügen/her mit eurem Neid“ heißt es im Titeltrack des Albums. Die Band fordert den Wahnsinn, der durch alle Kanäle jagt, geradezu heraus.

Musikalische Entwicklung und thematische Relevanz

„Fake“ wird als das bisher beste Album der Nerven betrachtet. Julian Knoth und Max Rieger haben sich als Texter weiterentwickelt, und auch die musikalische Reife der Band ist deutlich spürbar. Das Spiel mit Kontrasten ist für Die Nerven nichts Neues. Auf „Fake“ ist die Ambivalenz jedoch vielschichtiger als auf den Vorgängeralben. Die Stücke sind stellenweise melodischer und zurückgenommener, ohne dass sich ein kompletter Stilwechsel vollzogen hat. Die Bandbreite ist lediglich höher. Obwohl die Thematik der Texte eine Art roten Faden bildet, handelt es sich laut Aussage der Band nicht um ein Konzeptalbum. Gitarrist Rieger, Bassist Knoth und Schlagzeuger Kuhn meistern den Spagat zwischen Pop und Lärm mit Bravour, ohne Zugeständnisse oder Kompromisse einzugehen.

Live-Erlebnis in der Manufaktur Schorndorf

Wer bereits ein Konzert der Nerven erlebt hat, weiß, was die Besucher der Manufaktur erwartet: ein lautes, forderndes und energiegeladenes Set mit einer eigenwilligen Dramaturgie. Rieger fordert das Publikum auch gerne mal zu absoluter Stille auf, bevor die Schleusen wieder geöffnet werden.

"Fake": Ein Album der Widersprüche

Die Nerven lehren uns, Widersprüche auszuhalten. „Wir machen alles falsch, wir machen alles richtig“, heißt es in der Hardcore-Nummer „Alles falsch“. Das Postrock-Epos „Dunst“ verirrt sich in ein falsches Leben, und das Album beginnt und endet mit Songs übers Lügen („Neue Welle“, „Fake“). Selbst der Zorn der Nerven ist auf einmal zweifelhaft. Das Gegenstück zum sanften „Fake“ ist das fies groovende „Frei“, in dem Max Rieger dekonstruiert, was die eigene Bandgeschichte ausmacht.

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Pop-Elemente und individuelle Einflüsse

Mit dem Zorn ist den Nerven auch etwas der Lärm abhandengekommen. „Ich hatte das Gefühl, wir hatten immer schon gute Melodien“, sagt Rieger, „die hat man bisher nur nicht so gehört.“ Inzwischen nähert sich die Band mehr und mehr großartigen Popentwürfen an. Die Bandmitglieder haben sich auseinandergelebt, was die Arbeit verkompliziert, aber auch bereichert. Rieger hört R-’n’-B-Alben von Beyoncé und Frank Ocean, Knoth schwärmt vom Indierock von Wolf Alice, und Kuhn bevorzugt die skurril-kuriosen Ausgrabungen des Light-in-the-Attic-Labels. Einige Stücke sind auf der Stuttgarter Theaterbühne entstanden. Das „Fake“-Kapitel des Nerven-Pop-Entwicklungsromans wurde in der Toskana in einem mobilen Studio von Ralv Milberg aufgenommen.

Ralv Milberg und die Perfektionierung des Sounds

Die Arbeit an dem Album war für alle Beteiligten ein Härtetest. Doch das Ergebnis gibt allen recht. „Fake“ ist präziser, dramaturgisch raffinierter, intensiver und variationsreicher als alle bisherigen Platten der Nerven. Alles falsch gemacht. Alles richtig gemacht.

Die Nerven im medialen Hype

Angesichts der medialen Omnipräsenz der Nerven stellt sich die Frage, wie man noch über sie schreiben soll. Jede Gazette, jedes Feuilleton, jeder Blog und jedes Kultur-Magazin erhebt das neue Album zum besten, wichtigsten und unbedingtsten deutschen Album aller Zeiten. Der Konsens ist schon fast beängstigend.

Die Hälfte: Ein vielversprechender Support-Act

Das Konzert in der Manufaktur war ausverkauft, und das Publikum war bunt gemischt. Die Eröffnung der noch weitestgehend unbekannten 2-Mann-Kombo Die Hälfte setzte ein Ausrufungszeichen. Philipp Knoth am Schlagzeug und Bassist David Eibeck produzierten mit ihrer Minimalbesetzung einen extrem markanten Sound, irgendwo im Spannungsfeld zwischen Postpunk und Postrock mit verfrickelten Bass-Läufen, die schon fast etwas krautrockiges haben. Das Publikum war begeistert.

Die Nerven live: Maximale Präsenz und musikalische Intensität

Die Nerven betraten die Bühne und zeigten eine maximale Präsenz und Orientierung zum Publikum. Der Vortrag war makellos, präzise und druckvoll, und der Sound war perfekt gemischt. Das Programm bestand zum größten Teil aus Titeln des „Fake“-Albums, die live bestens funktionierten.

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Die Verwandlung von Max Rieger

Die bemerkenswerteste Veränderung war an Gitarrist Max Rieger zu beobachten. Er gab sich betont aufgeräumt und wirkte charmant und präsent. Letztlich wurde auch der Autor von dieser Mischung aus maximaler musikalischer Intensität und selbstverständlicher Brachialität mitgerissen.

Dekonstruktion des Hypes

Nach allem, was über Die Nerven geschrieben, gesagt und gelobt wurde, fällt es bisweilen schwer, die Realität vom Hype zu trennen. Hat man sie von all den Lorbeeren befreit, kann man sich ihnen über die Musik nähern. Die drei blicken sich einen Augenblick tief in die Augen, der Schlagzeuger Kevin Kuhn zählt den ersten Song an. Die Musik bricht los wie ein Gewitter.

Die reinigende Kraft ihrer Musik

Ihre Musik hat etwas reinigendes. Ein brachialer, kompromissloser und schroffer Blick auf Rock und Punk, bis an die Schmerzgrenze verzerrt und so laut, dass man förmlich gegen eine Wand läuft, wenn man sich gen Bühne bewegt. Und doch liegt eine Klarheit in ihrem wuchtigen Sound, dass man förmlich hineingezogen wird in diesen Strudel aus kathartischer Wut, verzweifelter Nonchalance und abgekämpftem Wahnsinn. Eine paranoiderweise beruhigende Wirkung geradezu, die einer Trance gleichkommt. Ja, Die Nerven sind wahr, ja, sie sind echt. Und die Wahrheit, die muss bisweilen laut sein.

Die Rolle des Produzenten Ralv Milberg

Ralv Milberg, der Produzent ihrer beiden Alben, saß auch an diesem Abend hinter dem Mischpult. Die Nerven klangen an diesem Abend in der Manufaktur genau so, wie sie klingen wollen, sollen und müssen.

Die Energie auf der Bühne

Es passiert etwas mit diesen drei introvertierten, seltsam gekleideten Typen, wenn sie auf einer Bühne stehen. Es geht ein Ruck durch sie, ein Stromschlag, der aus drei stillen Männern Derwische macht. Kevin Kuhn lässt die Hosen zwar an, flippt hinter den Drums aber dermaßen aus, dass selbst das Tier aus der Muppet Show nur anerkennend grunzen kann. Schon nach dem ersten Song „Albtraum“, so scheint es, hat er sein Instrument in Grund und Boden geprügelt. Ohne Hemmungen, ohne Rücksicht auf Verluste - ein Credo, das durchaus für diesen Abend gilt.

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Fazit

Eine Stunde schweben, eine Stunde ungeschönte Rockmusik, eine Stunde im Beisein von Die Nerven. Die Band Die Nerven kommt zum Heimspiel nach Stuttgart. Die Nerven sind eine Band, die sich stetig weiterentwickelt und immer wieder neu erfindet. Sie sind eine wichtige Stimme in der deutschen Musikszene und ihre Konzerte sind ein unvergessliches Erlebnis.

Die "Stuttgarter Schule" und ihre Bedeutung

Vor zehn Jahren wurden Die Nerven und eine Handvoll andere Bands als Vertreter der "Stuttgarter Schule" gefeiert. Mit krachigem Noise Rock und Post-Punk ließen sie die Musikjournaille schwärmen. 2015 sprach der "Musikexpress" von einem neuen Seattle. Der Grund: Die Nerven und ein paar andere Bands wie Karies, Human Abfall oder Levin Goes Lightly, die jung und unangepasst drauflosmusizieren, zwischen Noise Rock, Punk und Post-Punk. Eine wichtige Anlaufstelle für sie sind die Waggons am Nordbahnhof, jene ungeplante künstlerische Bastion der Untergrund-Kunst, die Stuttgart 21 ungewollt hervorgebracht hatte.

Die Nerven und die Theaterbühne

2016 machten die Nerven Musik fürs Schauspiel Stuttgart, für Armin Petras' Bühnenversion des Frank-Witze-Romans "Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969".

Die Texte und ihre Bedeutung

Die Texte schreiben Max Rieger und Julian Knoth. Beide setzen auf Reduktion. Rieger hat „Frei“ geschrieben, er sagt: „Für mich wirkt es eher so, als würden wenige Worte viel mehr aussagen. Knoth, Texter von „Niemals“: „Mir ist aufgefallen, dass ich zu kompliziert gedacht habe, zu viel hineinlegen wollte. Ich hatte es mit Storytelling versucht - das hat nicht funktioniert - und es dann wieder heruntergebrochen. Es gibt bei ihnen wiederkehrende Textmotive. Eines ist das für eine Krachcombo bemerkenswerte von der zu lauten Stille, so in „Unersättlich“, einem Song ihres Debüts „Fluidum“.

Die Nerven: Eine Band von Zweiflern für Zweifler

Die Nerven sind eine Band von Zweiflern für Zweifler. Die Skepsis trifft auch die schnellen Vergleiche, mit denen HörerInnen ihrer Musik oft begegnen. Sonic Youth wären so ein Referenzpunkt, die legendäre New Yorker Noiserock-Band, bei der die Gitarren schon mal mit dem Schraubenzieher bearbeitet worden sind und die in den späten Achtzigern zu einer tendenziell zugänglichen Kratzbürstigkeit fand. Die Antwort der Nerven ist ein sehr langgezogenes „Jaaaah“.

Die Nerven und die "alternativen Fakten"

Die Nerven-Sänger Max Rieger sagt, er habe vor Jahren mal einen Wikipedia-Artikel geändert und ziemlichen Quatsch reingeschrieben. Monate später stand die falsche Information immer noch dort. Seit einiger Zeit gibt es dafür den unsäglichen Begriff „alternative Fakten“.

Die Entstehung von "Fake"

Dass es überhaupt ein neues Nerven-Album geben würde, war gar nicht so selbstverständlich. Die drei Mitglieder leben mittlerweile in verschiedenen Städten, sich einfach mal im Proberaum treffen und herumjammen ging nicht mehr. Dazu kamen noch diverse Nebenprojekte, die zwar kreativen Input lieferten, aber eben auch Zeit wegnahmen. Weiter verkompliziert wurde das Vorhaben von ihrem eigenen Anspruch, vor den eigentlichen Aufnahmen Songstrukturen und Arrangements schon fertig zu haben. Bei den Vorgängeralben hatten sie sich über solche Dinge kaum Gedanken gemacht. Entstanden sind die Songs über zwei Jahre bei Soundchecks, Sessions und auf der Theaterbühne. Die neuen Songs sind melodischer und zugänglicher, als man das von Die Nerven kennt. Statt die Texte zu schreien oder zu sprechen, wird auf Fake mehr gesungen. Neben geradezu poppigen Stücken kommt der Lärm aber nicht zu kurz und stürmt dann fast schon überraschend auf den Hörer ein. Und auch wenn sie nicht mehr nur mit geballter Faust daherkommen, unzufrieden bzw. genervt sind Die Nerven natürlich immer noch. Laut vs. leise, Pop vs. Lärm - der abwechslungsreichere Sound und die ausgefeiltere Produktion auf Fake steht den Nerven gut.

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