Dissoziation ist ein psychologischer Zustand, der eine Trennung zwischen verschiedenen Aspekten des Bewusstseins bewirkt. Diese Trennung kann das Gedächtnis, die Wahrnehmung, das Identitätsgefühl und das Bewusstsein betreffen. Wenn Realität und Bewusstsein sich trennen, kann dies zu erheblichen Verwirrungen und Stress führen. Betroffene erleben häufig eine veränderte Wahrnehmung der Außenwelt und fühlen sich von ihrem eigenen Körper oder ihrer Umgebung entfremdet. Diese Trennung kann sporadisch oder anhaltend sein und das tägliche Leben und Funktionieren stark beeinträchtigen.
Formen der Dissoziation
Dissoziation kann in verschiedenen Formen auftreten, die sich in ihren Symptomen und der Intensität unterscheiden:
- Depersonalisation: Betroffene haben das Gefühl, von ihrem eigenen Körper oder ihren eigenen Gedanken losgelöst zu sein. Sie fühlen sich oft wie ein Beobachter ihres eigenen Lebens, als ob sie außerhalb ihres Körpers stehen und sich selbst zusehen. Diese Erfahrung kann sehr beunruhigend sein und führt häufig zu Gefühlen der Entfremdung und Isolation. Menschen mit Depersonalisation berichten, dass ihre eigene Stimme oder ihre Bewegungen ihnen fremd erscheinen, als ob sie von jemand anderem stammen.
- Derealisation: Die Außenwelt wird als unwirklich oder fremd wahrgenommen. Menschen mit Derealisation haben das Gefühl, dass ihre Umgebung sich verändert hat oder nicht real ist. Bekannte Orte und Menschen können plötzlich fremd wirken, und die betroffene Person hat Schwierigkeiten, sich in ihrer Umgebung zurechtzufinden. Diese Wahrnehmungsstörung führt oft zu starken Ängsten und dem Gefühl, die Kontrolle über die Realität zu verlieren.
- Dissoziative Amnesie: Das Unvermögen, sich an wichtige persönliche Informationen oder Ereignisse zu erinnern, die zu umfangreich sind, um durch gewöhnliche Vergesslichkeit erklärt zu werden. Diese Form der Amnesie tritt oft plötzlich auf und kann Stunden, Tage oder länger anhalten.
- Dissoziative Identitätsstörung (DIS): Früher bekannt als multiple Persönlichkeitsstörung, ist gekennzeichnet durch das Vorhandensein von zwei oder mehr unterschiedlichen Persönlichkeitszuständen, die abwechselnd die Kontrolle über das Denken und Verhalten der betroffenen Person übernehmen. Diese Persönlichkeitszustände können unterschiedliche Namen, Denk- und Verhaltensweisen sowie Erinnerungen haben. Gemäß DSM-5 ist die DIS charakterisiert durch „a) das Vorhandensein von zwei oder mehr unterscheidbaren Persönlichkeitszuständen oder einem Erleben von Besessenheit und b) wiederholten Episoden von Amnesie“. Im ICD-11 wird sie definiert als eine „Identitätsstörung, bei der zwei oder mehr verschiedene Persönlichkeitszustände (dissoziative Identitäten) mit je eigenem Muster des Erlebens, der Wahrnehmung, der Vorstellung und der Beziehung zu sich selbst, dem Körper und der Umwelt vorliegen, die mit deutlichen Unterbrechungen des Selbst- und Handlungsgefühls einhergehen“.
- Dissoziativer Stupor: Eine Person reagiert für eine gewisse Zeit nicht auf äußere Reize und befindet sich in einem tranceähnlichen Zustand. Menschen, die an einem dissoziativen Stupor leiden, reagieren auf ein traumatisches Ereignis, indem sie sich kaum oder gar nicht mehr bewegen, nicht mehr sprechen und nicht auf Licht, Geräusche oder Berührungen reagieren. In diesem Zustand ist es kaum möglich, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Die Person ist jedoch nicht bewusstlos, denn die Muskeln erschlaffen nicht und die Augen bewegen sich.
- Dissoziative Fugue: Eine seltene Form, bei der die betroffene Person plötzlich und unerwartet von ihrem üblichen Umfeld weggeht, dabei oft eine neue Identität annimmt und keine Erinnerung an ihre Vergangenheit hat. Menschen, die an einer Dissoziativen Fugue leiden, entfernen sich plötzlich aus der gewohnten Umgebung und nehmen eine neue Identität an. Die plötzliche Flucht entsteht nicht aus Reise- oder Abenteuerlust, sondern ist vom Willen des Erkrankten unabhängig. Während der Fugue sind sie unsicher, wer sie sind und können sich an ihr vorheriges Leben nicht mehr oder nur teilweise erinnern. Einige Betroffene nehmen während dieser Phase, die von ein paar Stunden bis zu mehreren Monaten dauern kann, eine neue Identität an.
- Dissoziative Anfälle: Bei Dissoziativen Anfällen verlieren Betroffene vorübergehend die Kontrolle über ihren Körper - mit Zuckungen, Ohnmachtsanfällen oder Verkrampfungen. Typisch ist ein plötzlicher Kontrollverlust über den Körper. Es kann zu Zuckungen, Verkrampfungen oder einem Ohnmachtsanfall kommen. Anders als bei Epilepsie fehlt jedoch eine krankhafte elektrische Entladung im Gehirn. Die Anfälle entstehen ohne erkennbare körperliche Ursache und dauern oft mehrere Minuten.
Ursachen von Dissoziation
Verschiedene Faktoren können Dissoziation auslösen:
- Trauma: Insbesondere in der Kindheit ist eine der häufigsten Ursachen. Traumatische Ereignisse können überwältigend sein und das psychische System überfordern, was zu dissoziativen Reaktionen führt. Untersuchungen deuten darauf hin, dass Dissoziationen oft durch das Erleben eines Traumas ausgelöst werden. 90 Prozent der Patienten mit schweren dissoziativen Symptomen haben im Vorfeld eine traumatische Erfahrung gemacht. Es wird angenommen, dass die traumatische Erfahrung zu einer starken Stressreaktion und zu einer Überforderung der Psyche führt. Dabei wird vermehrt das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, das die Funktion des Hippocampus, einer Gehirnregion, die für das Abspeichern und Abrufen von Erinnerungen zuständig ist, beeinträchtigen kann. Das kann dazu führen, dass bestimmte Informationen nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert werden oder so gespeichert werden, dass sie vorübergehend nicht zugänglich sind.
- Chronischer oder intensiver Stress: Kann ebenfalls Dissoziation auslösen. Wenn der Stresspegel so hoch ist, dass die Bewältigungsmechanismen überfordert sind, kann der Geist dazu übergehen, sich von der belastenden Realität abzutrennen.
- Ängste: Können ebenfalls eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von dissoziativen Zuständen spielen. Die ständige Angst und Besorgnis können dazu führen, dass sich der Betroffene von der Realität distanziert, um sich vor den überwältigenden Gefühlen zu schützen.
- Neurobiologische Grundlagen: Dissoziation ist nicht nur ein psychologisches Phänomen, sondern hat auch neurobiologische Grundlagen. Forschungen haben gezeigt, dass bestimmte Hirnregionen und neurochemische Prozesse bei der Entstehung dissoziativer Zustände eine Rolle spielen.
Diese verschiedenen Ursachen können einzeln oder in Kombination auftreten und führen zu den komplexen und vielfältigen Erscheinungsformen der Dissoziation.
Symptome und Auswirkungen auf das tägliche Leben
Verschiedene psychische Störungen können Dissoziation als Symptom beinhalten. Zusätzlich zu Depersonalisation und Derealisation gibt es weitere Symptome, die auf dissoziative Zustände hinweisen können. Gedächtnislücken und Schwierigkeiten, sich an wichtige persönliche Informationen oder Ereignisse zu erinnern, sind häufige Anzeichen. Diese Form der Amnesie ist besonders beunruhigend, wenn Betroffene feststellen, dass sie sich nicht an bedeutende Teile ihres Lebens erinnern können. Diese Gedächtnislücken sind oft mit traumatischen Ereignissen oder extremem Stress verbunden.
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Dissoziative Zustände können sich auch in anderen, weniger offensichtlichen Symptomen manifestieren. Dazu gehören Konzentrationsprobleme, die zu Leistungsproblemen bei der Arbeit oder in der Schule führen können. Betroffene berichten häufig, dass sie leicht ablenkbar sind und es ihnen schwerfällt, längere Zeit fokussiert zu bleiben. Emotionale Taubheit oder eine eingeschränkte Fähigkeit, Emotionen zu empfinden und auszudrücken, sind ebenfalls häufig. Betroffene können sich emotional von ihrer Umgebung und den Menschen in ihrem Leben distanziert fühlen, was zu Beziehungsproblemen führen kann. Diese Symptome können sporadisch auftreten oder anhaltend sein und variieren in ihrer Intensität.
Identitätsprobleme sind ebenfalls ein häufiges Symptom dissoziativer Zustände. Betroffene der dissoziativen Identitätsstörung haben oft Schwierigkeiten, ein konsistentes Selbstbild aufrechtzuerhalten und erleben ihre Identität als fragmentiert. Sie fühlen sich, als ob sie mehrere Persönlichkeiten in sich tragen, die abwechselnd die Kontrolle über Denken und Handeln übernehmen.
Die emotionalen Belastungen, die mit dissoziativen Zuständen einhergehen, sind erheblich. Betroffene fühlen sich oft ängstlich, depressiv und isoliert. Die Entfremdung von sich selbst und der Umgebung kann zu einem tiefen Gefühl der Einsamkeit führen. Diese emotionalen Belastungen können auch zu Problemen in zwischenmenschlichen Beziehungen führen, da Betroffene Schwierigkeiten haben, ihre Emotionen zu empfinden und auszudrücken.
Diagnosemethoden
Die Diagnose von dissoziativen Störungen erfolgt in der Regel durch einen erfahrenen Psychiater oder Psychotherapeuten.
- Klinisches Interview: Ein ausführliches Gespräch mit dem Betroffenen, in dem die Symptome, die Vorgeschichte und die aktuellen Lebensumstände erfragt werden.
- Diagnostische Tests: Standardisierte Fragebögen und Tests, wie die „Dissociative Experiences Scale“ (DES), können verwendet werden, um das Ausmaß der Dissoziation zu messen. Um „imitierende“ Personen, die davon überzeugt sind, dass sie eine dissoziative Störung haben, aber in Wirklichkeit die diagnostischen Kriterien nicht erfüllen, von Personen mit dissoziativen Störungen zu unterscheiden, sind strukturierte klinische Interviews wie das SCID-D essentiell.
- Differentialdiagnose: Der Therapeut wird auch andere mögliche psychische oder körperliche Erkrankungen ausschließen, die ähnliche Symptome verursachen können. Die Symptome dissoziativer Störungen können denen anderer psychischer Erkrankungen ähneln, was die Diagnose kompliziert machen kann.
Mögliche Fehldiagnosen sind:
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- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS): Obwohl PTBS und dissoziative Störungen oft gemeinsam auftreten, gibt es Unterschiede.
- Schizophrenie: Schizophrenie und dissoziative Störungen können ähnliche Symptome wie Realitätsverlust oder fragmentierte Identität aufweisen.
- Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS): Dissoziation ist auch ein häufiges Symptom bei BPS.
Eine sorgfältige und umfassende Diagnostik ist entscheidend, um die richtige Behandlung für dissoziative Störungen zu finden.
Umgang mit dissoziativen Zuständen
Der Umgang mit dissoziativen Zuständen im Alltag kann eine Herausforderung darstellen, sowohl für die Betroffenen selbst als auch für ihre Angehörigen und Freunde.
- Selbstwahrnehmung und Achtsamkeit: Durch regelmäßige Achtsamkeitsübungen können Betroffene lernen, ihre Symptome frühzeitig zu erkennen und bewusst damit umzugehen. Achtsamkeit kann helfen, das Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment zu schärfen und dadurch dissoziative Symptome zu verringern. Regelmäßige Achtsamkeitsübungen fördern die Selbstwahrnehmung und das emotionale Gleichgewicht. Eine tägliche Meditationspraxis kann das Bewusstsein stärken und eine tiefe Entspannung fördern, sei es durch geführte Meditationen oder stille Sitzmeditationen. Bewusste Atemübungen, wie das tiefe Atmen oder die 4-7-8-Atemtechnik, können helfen, sich zu beruhigen und den Geist zu zentrieren. Achtsamkeit lässt sich auch in alltägliche Aktivitäten integrieren.
- Strukturierter Tagesablauf: Ein gut strukturierter Tagesablauf kann helfen, Unsicherheit und Stress zu reduzieren. Ein strukturierter Zeitplan kann helfen, den Alltag zu organisieren und Stress zu reduzieren. Es ist wichtig, Prioritäten zu setzen und realistische Ziele zu formulieren, um Überforderung zu vermeiden. Regelmäßige Pausen während des Tages sind ebenso wichtig, um sich zu erholen und neue Energie zu tanken.
- Erinnerungshilfen: Gedächtnislücken können durch den Einsatz von Erinnerungshilfen, wie Notizbüchern, Kalendern oder Apps, besser kontrolliert werden.
- Therapie und Unterstützung: Der regelmäßige Besuch bei einem Therapeuten oder einer Selbsthilfegruppe kann emotionale Unterstützung bieten und neue Bewältigungsstrategien vermitteln. Auch Angehörige und Freunde spielen eine wichtige Rolle im Umgang mit dissoziativen Zuständen.
Angehörige und Freunde können helfen durch:
- Verständnis und Geduld: Dissoziative Zustände sind oft schwer nachvollziehbar.
- Offene Kommunikation: Eine offene und ehrliche Kommunikation ist essenziell.
- Stabile Umgebung bieten: Eine stabile und sichere Umgebung kann helfen, die Symptome zu reduzieren.
- Ermutigung zur Selbstfürsorge: Angehörige können Betroffene ermutigen, auf ihre eigene Gesundheit und ihr Wohlbefinden zu achten.
Prävention und Selbstfürsorge
Die Prävention von dissoziativen Zuständen und die Förderung der Selbstfürsorge sind entscheidend, um das Wohlbefinden zu verbessern und das Risiko für schwere dissoziative Episoden zu verringern.
- Stressmanagement: Stress ist ein bedeutender Auslöser für dissoziative Zustände. Ein effektives Stressmanagement kann daher helfen, das Auftreten von Dissoziation zu verhindern oder zu minimieren. Entspannungstechniken wie progressive Muskelentspannung oder autogenes Training können hierbei sehr hilfreich sein. Darüber hinaus spielt körperliche Aktivität eine entscheidende Rolle. Regelmäßige sportliche Betätigung hilft, Stress abzubauen und die psychische Gesundheit zu fördern.
- Gesunder Umgang mit belastenden Situationen: Der Umgang mit belastenden Situationen auf eine gesunde Weise ist essenziell, um Dissoziation zu verhindern. Regelmäßige Selbstfürsorge ist hierbei von großer Bedeutung. Dazu gehören ausreichender Schlaf, gesunde Ernährung und Zeit für Aktivitäten, die Freude bereiten und entspannen. Ein starkes soziales Netzwerk aus Freunden, Familie oder Selbsthilfegruppen kann emotionale Unterstützung bieten. Offene Gespräche über Gefühle und Herausforderungen können helfen, Stress abzubauen. Es ist auch wichtig, persönliche Grenzen zu erkennen und zu respektieren. Dies beinhaltet, Nein zu sagen, wenn die eigenen Kapazitäten erreicht sind, und sich nicht zu überfordern. Bei anhaltendem Stress oder belastenden Situationen ist es wichtig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Therapieansätze
Verschiedene Therapieansätze können bei der Behandlung von dissoziativen Störungen helfen. In der Privatklinik Friedenweiler werden ganzheitliche und innovative Therapieansätze eingesetzt, um Menschen bei der effektiven Bewältigung von dissoziativen Zuständen zu unterstützen.
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- EMDR-Methode (Eye Movement Desensitization and Reprocessing): Mittels der EMDR-Methode können die unterschiedlichen Symptome der Dissoziationen und deren Auslöser bewusst gemacht werden.
- Tierbegleitete und Tiergestützte Therapie: Die tiergestützte Therapie nutzt den Umgang mit Tieren, um das emotionale Wohlbefinden zu fördern. Diese Form der Therapie kann besonders hilfreich sein, um Gefühle von Entfremdung und Isolation zu mildern, da der Kontakt mit Tieren nachweislich Stress reduziert und das allgemeine Wohlbefinden verbessert.
- Kreativ- und Kunsttherapie: Die Kreativ- und Kunsttherapie ermöglicht es den Patientinnen und Patienten, durch kreative Ausdrucksformen wie Malen, Zeichnen oder Bildhauerei ihre inneren Erlebnisse zu verarbeiten und auszudrücken. Diese Form der Therapie kann besonders hilfreich sein, um dissoziative Symptome zu lindern, da der kreative Prozess eine Brücke zwischen dem bewussten und unbewussten Erleben schafft.
- Musik- und Stimmtherapie: Musik- und Stimmtherapie nutzen musikalische Elemente, um emotionale und psychologische Heilungsprozesse zu unterstützen. Diese Therapieform kann besonders wirksam sein, um dissoziative Zustände zu mindern, da Musik und Gesang helfen, tiefer liegende Emotionen freizusetzen und zu verarbeiten.
- Entspannungsverfahren: Techniken wie die Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und geleitete Imagination werden angeboten. Diese Methoden zielen darauf ab, körperliche und geistige Entspannung zu fördern und sind effektiv im Abbau von Stress und Angst. Entspannungsverfahren können dazu beitragen, dissoziative Episoden zu reduzieren, indem sie den Betroffenen helfen, einen Zustand der Ruhe und des Wohlbefindens zu erreichen.
- Psychotherapie: Kern der Behandlung von dissoziativen Störungen ist die Psychotherapie. Diese erfolgt in zwei Phasen: In der ersten Therapiephase geht es darum, den Betroffenen emotional zu stabilisieren. Erst wenn der Patient sich körperlich und geistig sicher fühlt, können die eigentlichen Ursachen angegangen werden. Im weiteren Verlauf der Therapie lernt der Betroffene, seine Gefühle bewusst wahrzunehmen und Spannungszustände rechtzeitig abzubauen. Außerdem lernt er, Hinweise auf eine kommende dissoziative Störung rechtzeitig zu erkennen und erlernt Strategien, um dagegen vorzugehen. In der zweiten Phase werden die Traumata bearbeitet. Ziel ist es, die abgespaltenen Erfahrungen wieder hervorzuholen und emotional zu verarbeiten. Dabei kann die Kreativtherapie eine sinnvolle Ergänzung sein, um sich an das Trauma langsam heranzutasten und das Erlebte zunächst ohne Worte zum Ausdruck zu bringen. Es wird darauf hingearbeitet, dass der Betroffene seine Erinnerungen ausspricht und Zugang zu den abgespaltenen Erfahrungen gewinnt. Indem er sie ausspricht, gewinnt er Kontrolle und Distanz. Das traumatische Geschehen wird weniger bedrohlich, und die betroffene Person kann ihr Abwehr- und Vermeidungsverhalten nach und nach aufgeben und alternative Bewältigungsstrategien erlernen.
- Hypnotherapeutische Verfahren und EMDR: Um einen therapeutischen Zugang auch zu diesem impliziten Gedächtnis (Traumabewusstsein) zu bekommen, hat sich die Kombination analytischtiefenpsychologischer und verhaltenstherapeutischer Verfahren mit hypnotherapeutischen Verfahren und/oder EMDR (Eye Movement Desensitiziation and Reprocessing) als besonders effektiv erwiesen.
- Gruppentherapie: In einer meist längeren Phase der Stabilisierung, für die nach meiner Erfahrung besonders eine Gruppentherapie von großem Nutzen sein kann, geht es u. a. das Erlernen von Selbstfürsorglichkeit und Fürsorglichkeit für andere (z. B.
Neurologische Veränderungen bei dissoziativen Störungen
Die Forschung zur neurologischen Basis dissoziativer Beschwerden steckt noch in den Kinderschuhen. Es wird vermutet, dass verschiedene neuronale Signaturen je nach Symptomkonstellation, statt wenige distinkte Hirnregionen für die Unterschiede verantwortlich sind. Eine strukturelle MRT-Studie mit DIS-Patientinnen schlägt ein durch Traumatisierung bedingtes, verringertes CA1-Hippocampus-Volumen als potenziellen Biomarker für dissoziative Amnesie vor. Kürzlich konnten einzigartige Konnektivitätsmarker identifiziert werden, die die DIS mit dem zentralen exekutiven Netzwerk (engl.: „central executive network (CEN)“) in Verbindung bringen, was auf Veränderungen in den exekutiven Funktionen bei DIS-Patientinnen hindeuten könnte.
Eine aktuelle Studie untersuchte BPS-Patientinnen, welche in der Kindheit physisch/sexuell missbraucht wurden. Es wurde nachgewiesen, dass solche Patientinnen, die eine chronifizierte PTBS entwickelt haben, die beschriebenen neuralen und psychischen Veränderungen auch aufweisen. BPS-Patientinnen, die in der Folge des Kindesmissbrauches jedoch eine dissoziative Störung (Dissoziative Amnesie, DA, oder Dissoziative Identitätsstörung, DIS) ausgebildet haben, weisen trotz vergleichbarer Krankheitsschwere diese änderungen nicht auf. Hippocampus- und Amygdala-Volumina sind in dieser Patientinnengruppe normal, und auch kognitiv bestehen keine Defizite. Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass der superiore Parietallappen, welcher für das Bewusstsein, Selbstbeobachtung und Imagination wesentlich ist, bei BPS-Patientinnen mit DA oder DID vergrößert ist. Ein solcher Effekt ist bei BPS-Patientinnen mit PTBS nicht zu beobachten. Aus diesen Ergebnissen könnte gefolgert werden, dass ein hochdissoziativer Abwehrstil Stress-bezogene schädigende Einflüsse auf das Gehirn abmildert oder gar verhindert. Auf der anderen Seite könnte es auch sein, dass die anlagebedingte Größe von Hippocampus und Amygdala mitbestimmen, ob eine traumatisierte Person eine PTBS entwickelt oder nicht. Ein in der Kindheit und Jugend auftretender hochdissoziativer Abwehrstil könnte eventuell dazu führen, dass sich, für Bewusstseinsprozesse relevante, parietale Hirnregionen anomal entwickeln. Diese Anomalitäten könnten dann im Sinne eines Circulus vitiosus z…
Verbreitung und Verlauf
In der US-amerikanischen Bevölkerung beträgt die Prävalenz der pathologischen Dissoziation 4,1 %. Die 12-Monats-Prävalenz der DIS wird in den USA auf 1,5 % geschätzt. Die Prävalenzschätzungen dissoziativer Störungen unter psychiatrischen Patientinnen in den USA variieren je nach untersuchter Population und verwendeten Messinstrumenten zwischen 5 % und 29 %. In europäischen Studien wurden unter psychiatrischen Patientinnen niedrigere Zahlen gefunden, z. B. wurde in den Niederlanden eine Prävalenz von 2 % für DIS unter stationären Patient*innen berichtet. Auch wenn dissoziative Störungen in der klinischen Praxis viel häufiger bei Frauen als bei Männern diagnostiziert werden, treten selbstberichtete dissoziative Symptome in der allgemeinen Bevölkerung bei Männern und Frauen gleichermaßen häufig auf.
Patientinnen berichten retrospektiv häufig, dass die ersten Symptome der DIS in der frühen Kindheit zwischen fünf und acht Jahren auftraten. Die DIS scheint einen chronischen und fluktuierenden Verlauf zu nehmen, wobei die Schwere der Symptome und funktionellen Einschränkungen sowie die Beeinträchtigungen in der Lebensqualität je nach Kontext variieren. Außerdem zeigt sich, dass Patientinnen mit DIS oft schon mehrere Jahre in der psychiatrischen Versorgung wegen verschiedener Beschwerden behandelt wurden und häufig mehrere andere Diagnosen erhalten haben, bevor die Diagnose DIS gestellt wird.
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