Die dissoziative neurologische Symptomstörung (DNSS) ist ein komplexes Krankheitsbild, das an der Schnittstelle zwischen Neurologie und Psychotraumatologie angesiedelt ist. Sie äußert sich in neurologischen Symptomen, für die keine klare organische Ursache gefunden werden kann. Die Symptome stehen oft in Zusammenhang mit psychischen Belastungen oder traumatischen Erlebnissen.
Definition der dissoziativen neurologischen Symptomstörung
Die dissoziative neurologische Symptomstörung, früher auch als Konversionsstörung oder funktionelle neurologische Störung bezeichnet, ist durch neurologische Symptome gekennzeichnet, die nicht durch eine strukturelle oder organische Erkrankung des Nervensystems erklärt werden können. Stattdessen wird angenommen, dass die Symptome Ausdruck einer psychischen Belastung oder eines unbewussten Konflikts sind. Die Betroffenen erleben echte Symptome, die jedoch auf einer Fehlanpassung der Informationsverarbeitung im Gehirn beruhen.
In der ICD-11 wird Dissoziation als unwillkürliche Unterbrechung von Empfindungen, Wahrnehmungen, Affekten, Gedanken, Erinnerungen, Kontrolle über Körperbewegungen, Verhalten und Identitätserleben definiert. Diese Unterbrechung kann im Laufe der Zeit variieren.
Ursachen und Entstehung
Die Ursachen für die Entstehung einer DNSS sind vielfältig und komplex. Es wird angenommen, dass ein Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren eine Rolle spielt.
Traumata und psychische Belastungen
Traumatische Erfahrungen in der Kindheit oder im späteren Leben sind ein wichtiger Risikofaktor für die Entwicklung einer DNSS. Etwa 90 Prozent der Patienten mit schweren dissoziativen Symptomen haben im Vorfeld eine traumatische Erfahrung gemacht. Die traumatische Erfahrung kann zu einer starken Stressreaktion und zu einer Überforderung der Psyche führen. Dabei wird vermehrt das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, das die Funktion des Hippocampus, einer Gehirnregion, die für das Abspeichern und Abrufen von Erinnerungen zuständig ist, beeinträchtigen kann. Dies kann dazu führen, dass bestimmte Informationen nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert werden oder so gespeichert werden, dass sie vorübergehend nicht zugänglich sind. Dies könnte ein Schutzmechanismus sein, der es den Betroffenen ermöglicht, in der Extremsituation handlungsfähig zu bleiben. Dagegen ist die Amygdala - eine Gehirnregion, die bei emotionalen Reaktionen eine wichtige Rolle spielt - während des Traumas stark aktiviert. Dadurch können bestimmte äußere Reize ein Wiedererleben der traumatischen Erfahrungen auslösen. Das könnte dazu führen, dass man sich ähnlich wie in der traumatischen Situation „wie betäubt“ fühlt oder die Sinneswahrnehmung oder die Bewegungsfähigkeit beeinträchtigt sind.
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Bindungsstörungen
Bindungsstörungen, die aus adaptiv emotionalen Fehlreaktionen primärer Bezugspersonen auf die Bedürfnisse von Kindern resultieren, können ebenfalls eine Rolle spielen. Im Erwachsenenalter schlägt sich die Qualität der Bindungsstile im Beziehungsverhalten nieder, wobei vermeidende Bindungsstile (ängstlich und desorganisiert) als Risikofaktoren für dissoziative Prozesse gelten. Hier besteht ein Zusammenhang zu Depersonalisations‑/Derealisations-Symptomen, die von Patienten mit dissoziativen Anfällen häufig berichtet werden. Bindungsstörungen stehen auch im Zusammenhang mit dem Merkmal der Alexithymie, das bei Menschen mit dissoziativen Anfällen häufig zu finden ist und im Screening erhoben werden sollte.
Individuelle Eigenschaften
Neben den Umweltfaktoren scheinen auch individuelle Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit für dissoziative Symptome zu erhöhen. So wird vermutet, dass die Neigung zu Dissoziationen zu einem gewissen Grad erblich bedingt ist. Außerdem wird angenommen, dass Menschen, die besonders suggestibel oder besonders gut hypnotisierbar sind, die zu Phantasien neigen oder besonders offen für neue Erfahrungen sind, eine stärkere Neigung zu Dissoziationen haben. Auf der anderen Seite gibt es auch Schutzfaktoren, die vor dem Auftreten von Dissoziationen bzw. vor der Entwicklung einer dissoziativen Störung schützen können - etwa körperliche und psychische Reifungsprozesse, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften oder ein unterstützendes soziales Umfeld.
Neurobiologische Faktoren
Funktionelle Magnetresonanztomografie-Studien haben gezeigt, dass funktionelle Paresen spezifische neuronale Aktivierungsmuster aufweisen, die sich von denen der bewussten Simulation klar unterscheiden. Der Unterschied zwischen einem funktionellen Tremor und einem bewusst nachgemachten Tremor liegt in einer schwächeren Aktivierung des rechten temporoparietalen Übergangs - einer Hirnregion, die am Abgleich zwischen beabsichtigten und tatsächlichen Bewegungen beteiligt ist. Stimmen Absicht und Bewegung nicht überein, entsteht kein „Handlungsbewusstsein“. Diese Beobachtungen erklären, warum funktionelle Bewegungsstörungen, die eigentlich der Willkürmotorik entspringen, als unwillkürlich empfunden werden. Fehlerhafte motorische oder sensorische „Erwartungen“ (engl. priors), die auf verschiedenen Ebenen der Informationsverarbeitung im Nervensystem verankert sein können, führen zu einer automatischen Fehlanpassung des Systems, die sich als erlebtes oder unbewusst produziertes Symptom äußert.
Symptome der dissoziativen neurologischen Symptomstörung
Die Symptome einer DNSS können vielfältig sein und verschiedene Bereiche des Nervensystems betreffen. Häufige Symptome sind:
- Motorische Symptome: Muskelschwäche bis hin zu Lähmungen, Bewegungsstörungen wie Zittern, Zuckungen, Muskelverkrampfungen und Gangstörungen
- Sensorische Symptome: Missempfindungen, Taubheitsgefühle, Sehstörungen wie Verschwommensehen, Doppeltsehen, Lichtempfindlichkeit, Tunnelblick und Augenflimmern, Hör- und Riechstörungen
- Krampfanfälle: Dissoziative Krampfanfälle, die auf den ersten Blick wie epileptische Anfälle aussehen können
- Dissoziative Symptome: Gedächtnislücken, Depersonalisation (Gefühl, sich selbst fremd zu sein), Derealisation (Gefühl, die Umwelt sei unwirklich)
- Sprach- und Schluckstörungen
- Schwindel
Es ist wichtig zu beachten, dass die Symptome einer DNSS nicht bewusst kontrolliert werden können und nicht vorgetäuscht sind. Die Betroffenen leiden unter den Symptomen und sind in ihrem Alltag oft stark beeinträchtigt.
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Diagnose
Die Diagnose einer DNSS kann eine Herausforderung darstellen, da die Symptome denen anderer neurologischer Erkrankungen ähneln können. Es ist wichtig, eine sorgfältige Anamnese zu erheben und eine umfassende neurologische Untersuchung durchzuführen, um organische Ursachen auszuschließen.
Diagnostische Kriterien
Die Diagnose einer DNSS wird in der Regel anhand der folgenden Kriterien gestellt:
- Vorliegen von neurologischen Symptomen, die nicht durch eine organische Erkrankung erklärt werden können
- Hinweise auf psychische Belastungen oder traumatische Erfahrungen
- Inkonsistenz der Symptome im Zeitverlauf
- Plussymptome (zusätzliche Bewegungen oder Empfindungen, die sich der willentlichen Kontrolle entziehen)
- Minussymptome (Paresen oder eingeschränkte kognitive Funktionen)
Differenzialdiagnostik
Es ist wichtig, andere Erkrankungen auszuschließen, die ähnliche Symptome verursachen können. Dazu gehören:
- Epilepsie
- Multiple Sklerose
- Schlaganfall
- Hirntumor
- Andere psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung
Zusatzuntersuchungen
In einigen Fällen können Zusatzuntersuchungen wie ein Video-EEG oder eine Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns erforderlich sein, um die Diagnose zu sichern und andere Erkrankungen auszuschließen.
Therapie
Die Therapie einer DNSS ist multimodal und umfasst in der Regel eine Kombination aus Psychotherapie, Körpertherapie und gegebenenfalls medikamentöser Behandlung.
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Psychotherapie
Die Psychotherapie ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung einer DNSS. Ziel der Psychotherapie ist es, die zugrunde liegenden psychischen Belastungen oder traumatischen Erfahrungen zu bearbeiten, die zur Entstehung der Symptome beigetragen haben. Häufig eingesetzte Therapieformen sind:
- Traumatherapie: Spezielle Therapieformen, die auf die Bearbeitung traumatischer Erfahrungen ausgerichtet sind, wie z. B. EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) oder KReST (Körper-, Ressourcen- und Systemorientierte Traumatherapie)
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Hilft, dysfunktionale Gedanken und Verhaltensweisen zu erkennen und zu verändern
- Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT): Eine spezielle Form der Verhaltenstherapie, die bei der Behandlung von emotionaler Instabilität und selbstschädigendem Verhalten eingesetzt wird
- Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT): Ein Therapieverfahren, das sich für die Behandlung dissoziativer PatientInnen sehr gut eignet und mittels einer hilfreichen Beziehung die Selbstberuhigungsfähigkeit betont und durch Imagination (be-)übt und fördert.
Körpertherapie
Körpertherapeutische Verfahren können helfen, die Körperwahrnehmung zu verbessern und im Körper stecken gebliebene Schutz-, Verteidigungs-, Flucht- oder Kampfimpulse zu lösen. Häufig eingesetzte Methoden sind:
- Somatic Experiencing: Ein körperorientierter Ansatz, der darauf abzielt, die im Körper gebundenen Energien von erstarrter Hilflosigkeit zu befreien und aufzulösen
- Meditativer Tanz: Hilft, den Körper wieder bewusst wahrzunehmen und die Einheit von Körper, Geist und Seele zu erfahren
- Zapchen Somatics: Ein körpernaher Ansatz, der auf den Erkenntnissen der Psychosomatik, Psycho- und Körpertherapien und der tibetischen Geistesschulungs- und Heiltradition ruht.
Medikamentöse Behandlung
Eine medikamentöse Behandlung kann bei Begleitstörungen wie Depressionen, Angststörungen oder Schlafstörungen sinnvoll sein. Es gibt jedoch keine Medikamente, die speziell für die Behandlung der DNSS zugelassen sind.
Weitere Therapieansätze
- Bewegungstherapie: Gezielte Übungen zur Verbesserung der Koordination, des Gleichgewichts und der Körperwahrnehmung
- Physiotherapie: Kann bei der Behandlung von motorischen Symptomen wie Lähmungen oder Gangstörungen helfen
- Ergotherapie: Unterstützung bei der Bewältigung alltäglicher Aufgaben und der Verbesserung der Selbstständigkeit
Prognose
Die Prognose einer DNSS ist unterschiedlich und hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z. B. der Schwere der Symptome, dem Vorliegen von Begleitstörungen und der Bereitschaft zur Therapie. Eine frühzeitige und umfassende Behandlung kann die Prognose verbessern und den Betroffenen helfen, ein besseres Lebensgefühl zu entwickeln.
Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit
Die Behandlung einer DNSS erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachdisziplinen, wie z. B. Neurologen, Psychiatern, Psychotherapeuten, Körpertherapeuten und Physiotherapeuten. Nur so kann eine umfassende Diagnostik und eine individuelle Therapieplanung gewährleistet werden.
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