Dissoziative Störungen präsentieren sich in vielfältiger Form. Ein häufiges und beeinträchtigendes Symptom ist die dissoziative Bewegungsstörung, die sich in Lähmungen oder anderen motorischen Beeinträchtigungen äußern kann. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte dieser Störung, von den Symptomen über die Ursachen bis hin zu Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten.
Was sind Dissoziative Störungen?
Dissoziative Störungen sind psychische Erkrankungen, die durch eine Störung der normalerweise integrierten Funktionen des Bewusstseins, des Gedächtnisses, der Identität oder der Wahrnehmung gekennzeichnet sind. Das Wort Dissoziation stammt aus dem Lateinischen und bedeutet so viel wie „trennen“ oder „auflösen“. In der heutigen Terminologie wird unter Dissoziation die intrapsychische Möglichkeit verstanden, sich der Umwelt und der inneren Wahrnehmung unbewusst zu entziehen, z.B. schwer erträgliche Belastungen und traumatische Erlebnisse auszuhalten.
Die Wahrscheinlichkeit, mindestens einmal im Leben an einer dissoziativen Störung zu erkranken, liegt bei etwa zwei bis vier Prozent. Meist tritt die Erkrankung zum ersten Mal vor dem 30. Lebensjahr auf, dabei nimmt die Häufigkeit mit zunehmendem Alter ab. Frauen sind von dissoziativen Störungen etwa drei Mal so oft betroffen wie Männer. Die meisten dissoziativen Störungen halten nur kurze Zeit, meist einige Wochen oder Monate lang an und gehen dann spontan wieder zurück. Es können sich aber auch chronische Störungen entwickeln - vor allem dann, wenn der Beginn mit unlösbaren (zwischenmenschlichen) Problemen verbunden war. Günstig für den Verlauf ist es dagegen, wenn die dissoziative Störung frühzeitig behandelt wird.
Das Erscheinungsbild Dissoziativer Störungen
Dissoziative Störungen haben kein einheitliches Bild. Der Verlust der Erinnerungen für oft wichtige, einschneidende Ereignisse kann Folge einer dissoziativen Störung sein. Meist sind diese Erinnerungslücken nicht vollständig. Die Wahrnehmung der Umwelt sowie die Selbstwahrnehmung ist gestört. Diese Wahrnehmungsstörungen - in Form von gestörten integrativen Hirnfunktionen - können zu Beeinträchtigungen des Gedächtnisses, der Wahrnehmung der eigenen Person, des Körpers, der Umwelt und des eigenen Identitätserlebens führen.
Dissoziative Bewegungsstörungen: Eine Übersicht
Bewegungsstörungen sind die häufigsten dissoziativen Symptome. Bei dissoziativen Bewegungsstörungen sind Betroffene nicht mehr in der Lage, einen oder mehrere Körperteilen willkürlich zu bewegen, ohne dass dafür eine organische Ursache vorliegt. Auch die Sprechmuskeln können davon betroffen sein. Beispielsweise können Betroffene nicht mehr frei stehen oder gehen, haben Koordinationsstörungen oder können sich nicht mehr artikulieren. Auch Lähmungen sind möglich. Die Symptomen können denen neurologischer Störungen sehr ähneln, was die Diagnose erschweren kann.
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Symptome der Dissoziativen Bewegungsstörung
- Lähmungen: Lähmungen einzelner oder mehrerer Gliedmaßen können Folgen einer solchen Störung sein. Die häufigste Form der dissoziativen Bewegungsstörungen ist der vollständige oder teilweise Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperteile (teilweise auch der Sprache).
- Koordinationsstörungen: Eine dissoziative Bewegungsstörung kann sich auch in Form von unterschiedlichen Arten und Ausprägungen mangelnder Koordination (Ataxie) äußern. Diese Koordinationsprobleme kommen hauptsächlich in den Beinen vor, sodass es zu einem bizarren Gang kommt oder zur Unfähigkeit, alleine stehen zu können (Astasie, Abasie). Auch starkes Zittern oder Schütteln einer oder mehrerer Extremitäten bzw.
- Unsicherer Gang: Ein unsicherer Gang, die Unfähigkeit, freihändig zu stehen oder zu gehen, können Folgen einer solchen Störung sein.
- Bewegungsstarre (dissoziativer Stupor): Die Bewegungsstarre oder die deutliche Einschränkung der Beweglichkeit einer Person wird dissoziativer Stupor genannt. Normale Reaktionen auf Berührungen, Geräusche oder Licht können fehlen. Die betroffenen Personen sprechen nicht.
Abgrenzung zu anderen Anfallsformen
Dissoziative Krampfanfälle sehen auf den ersten Blick wie ein epileptischer Anfall aus. Anders als ein epileptischer Anfall entsteht ein psychogener Anfall oder dissoziativer Krampfanfall nicht durch neurophysiologische Veränderungen des Gehirns. Stattdessen liegt diesem eine psychische Ursache zugrunde. Dissoziative Anfälle werden auch als psychogene Anfälle bezeichnet. Sie sind zwar in ihrer Symptomatik der Epilepsie ähnlich, beschreiben allerdings ein eigenständiges Krankheitsbild.
Ursachen und Entstehung
Fachleute nehmen an, dass Dissoziationen und dissoziative Störungen durch ein Zusammenwirken von Umweltfaktoren und individuellen Eigenschaften entstehen. Ursache von dissoziativen Bewegungsstörungen sind oft unverarbeitete traumatische Erlebnisse. Die Traumata können dabei schon sehr lange zurückliegen.
Umweltfaktoren: Traumata und starke psychische Belastungen
Untersuchungen deuten darauf hin, dass Dissoziationen oft durch das Erleben eines Traumas ausgelöst werden. 90 Prozent der Patienten mit schweren dissoziativen Symptomen haben im Vorfeld eine traumatische Erfahrung gemacht. Es wird angenommen, dass die traumatische Erfahrung zu einer starken Stressreaktion und zu einer Überforderung der Psyche führt. Dabei wird vermehrt das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, das die Funktion des Hippocampus, einer Gehirnregion, die für das Abspeichern und Abrufen von Erinnerungen zuständig ist, beeinträchtigen kann. Das kann dazu führen, dass bestimmte Informationen nicht im Langzeitgedächtnis gespeichert werden oder so gespeichert werden, dass sie vorübergehend nicht zugänglich sind.
Psychoanalytische Konzepte gehen zudem davon aus, dass bei einer Dissoziation unerträgliche Erlebnisse aus dem Bewusstsein verdrängt und Gefühle und Erfahrungen, die der Betroffene nicht in sein Selbstbild integrieren kann, abgespalten werden. Allerdings entwickeln nur etwa zehn Prozent derjenigen, die ein Trauma erlebt haben, auch Symptome einer Dissoziation. Vermutlich müssen zusätzlich zu einem Trauma weitere Faktoren vorliegen, damit eine dissoziative Störung entsteht. Es wird vermutet, dass traumatische Erfahrungen in der Kindheit das Risiko erhöhen, nach einem erneuten Trauma eine dissoziative Störung zu entwickeln. Außerdem könnten eine besonders starke, anhaltende Stressreaktion nach dem Trauma oder Schwierigkeiten bei der Regulierung von Gefühlen die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine dissoziative Störung entsteht. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit für Dissoziationen erhöht, wenn der Körper nicht ausreichend versorgt ist - etwa bei Schlaf- oder Flüssigkeitsmangel.
Entstehung einzelner dissoziativer Störungsbilder
Bei den dissoziativen Störungen der Bewegung und der Sinnesempfindung nehmen Experten an, dass hier psychische Belastungen aus dem Bewusstsein verdrängt und dann durch körperliche Beschwerden sichtbar gemacht werden. Gleichzeitig erhalten die Betroffenen durch die Symptome oft mehr Aufmerksamkeit und Zuneigung als vorher, was dazu beitragen kann, dass die Störung aufrechterhalten wird (sekundärer Krankheitsgewinn).
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Individuelle Eigenschaften
Neben den Umweltfaktoren scheinen auch individuelle Eigenschaften die Wahrscheinlichkeit für dissoziative Symptome zu erhöhen. So wird vermutet, dass die Neigung zu Dissoziationen zu einem gewissen Grad erblich bedingt ist. Außerdem wird angenommen, dass Menschen, die besonders suggestibel oder besonders gut hypnotisierbar sind, die zu Phantasien neigen oder besonders offen für neue Erfahrungen sind, eine stärkere Neigung zu Dissoziationen haben. Auf der anderen Seite gibt es auch Schutzfaktoren, die vor dem Auftreten von Dissoziationen bzw. vor der Entwicklung einer dissoziativen Störung schützen können - etwa körperliche und psychische Reifungsprozesse, bestimmte Persönlichkeitseigenschaften oder ein unterstützendes soziales Umfeld.
Diagnose
Die Diagnose einer dissoziativen Bewegungsstörung erfordert eine sorgfältige Abklärung, um organische Ursachen auszuschließen und die psychische Genese der Symptome zu bestätigen.
Anamnese und körperliche Untersuchung
Ein Neurologe kann mittels Anamnese und Untersuchungen in der Regel organische Ursachen für die Ausfallerscheinungen ausschließen. Wichtig für die Diagnose einer dissoziativen Störung sind die Symptome, über die der Betroffene dem Arzt/Therapeut im Erstgespräch (Anamnese) berichtet. Der Arzt/Therapeut kann auch gezielt Fragen stellen, zum Beispiel:
- Fehlen Ihnen Erinnerungen an bestimmte Abschnitte Ihres Lebens?
- Finden Sie sich manchmal an Orten wieder, ohne zu wissen, wie Sie dort hingekommen sind?
- Haben Sie manchmal den Eindruck, etwas getan zu haben, an das Sie sich nicht erinnern können? Finden Sie beispielsweise Dinge in Ihrer Wohnung, von denen Sie nicht wissen, wie sie dorthin gekommen sind?
- Haben Sie manchmal das Gefühl, eine völlig andere Person zu sein?
Hilfreich können auch Hintergrundfragen sein, etwa zur aktuellen Lebenssituation, zum familiären Hintergrund und zu möglichen psychischen Problemen in der Familie. Informationen von dritter Seite (z.B. frühere Arztbefunde, bei Minderjährigen: Berichte von Eltern und Lehrern) können die Diagnosefindung ebenfalls unterstützen.
Ausschluss organischer Ursachen
Eine dissoziative Störung kann nur dann diagnostiziert werden, wenn sich organische Ursachen für die Symptome ausschließen lassen. Denn Anzeichen wie Krampfanfälle, Bewegungsstörungen oder Störungen der Sinnesempfindung können beispielsweise auch durch Epilepsie, Migräne oder Hirntumoren ausgelöst werden. Deshalb prüft der Arzt zum Beispiel die Seh-, Geruchs- und Geschmacksnerven sowie die Bewegungsabläufe und Reflexe des Patienten. In manchen Fällen werden zusätzlich mithilfe einer Computertomografie (CT) detaillierte Schnittbilder des Gehirns angefertigt. Bei Minderjährigen sucht der Arzt unter anderem auch nach möglichen Anzeichen von Misshandlung oder Missbrauch.
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Psychosomatische Abklärung
In der psychosomatischen Abklärung wird gemeinsam mit dem Patienten untersucht, ob sich die Beschwerden durch unbewusste emotionale Faktoren erklären lassen. Auch Fragebögen zur Selbsteinschätzung können verwendet werden.
Behandlung
Bei dissoziativen Bewegungsstörungen ist Psychotherapie das Mittel der Wahl. Verschiedene Therapieformen sind zur Behandlung der dissoziativen Bewegungsstörungen möglich. Die Art der Therapie sollte davon abhängig sein, welche und wie viele weitere dissoziativen Symptome vorliegen. Die Behandlung der dissoziativen Störung findet vor allem durch Psychotherapie statt. Im Psychotherapieverlauf wird schließlich erreicht, dass abgespaltene Anteile integriert werden können und wieder vollständig Bestandteil des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns werden.
Psychotherapie
Bei der Behandlung einer dissoziativen Konversionsstörung bieten sich Verhaltenstherapien und psychotherapeutische Gespräche an. So können psychische Auslöser erkannt und der Betroffene aus seiner selbst geschaffenen Isolation in die Realität zurückgeholt werden.
Stabilisierung und Symptomreduktion: Zu Beginn der Therapie klärt der Therapeut den Patienten ausführlich über das Krankheitsbild der dissoziativen Störung auf. Selbst wenn der Patient nicht ansprechbar ist, informiert ihn der Therapeut über das Störungsbild. Psychotherapeuten bezeichnen diese Aufklärung als Psychoedukation.
Im weiteren Verlauf lernt der Patient, seine Gefühle bewusst wahrzunehmen und Spannungszustände rechtzeitig abzubauen. Um dissoziative Symptome zu reduzieren, erarbeitet der Therapeut mit dem Patienten Strategien, die ihm bei der Stressbewältigung helfen.
Außerdem lernt der Patient, Hinweise auf kommende dissoziative Symptome rechtzeitig zu bemerken und dagegen vorzugehen. Fällt der Patient dennoch in einen dissoziativen Zustand, bringt ihn der Therapeut mithilfe von Atem- und Gedankenübungen zurück. Es werden auch starke Gerüche oder laute Musik eingesetzt, um den Patienten wieder in die Realität zu holen.
Auseinandersetzung mit dem Trauma: Liegen traumatische Erfahrungen in der Vergangenheit vor, werden sie in der Therapie bearbeitet. Sind sie für den Patienten stark belastend, achtet der Therapeut auf eine schrittweise Auseinandersetzung mit dem Thema, um den Betroffenen nicht zu überfordern. Damit Patienten während einer Traumabearbeitung nicht erneut in eine Dissoziation fallen, setzt der Therapeut verschiedene Techniken ein. Dazu soll der Betroffene zum Beispiel auf einer wackligen Unterlage stehen, während er von den Erinnerungen erzählt.
Um verborgene Erinnerungen (etwa bei einer dissoziativen Amnesie) an die Oberfläche zu holen, kann der Therapeut den Patienten hypnotisieren. Sobald ein Zugang zu den verschütteten Erinnerungen geschaffen ist, kann der Betroffene mithilfe des Therapeuten beginnen, das Trauma aufzuarbeiten.
Medikamentöse Behandlung
Begleitend ist eine Behandlung der Konversionsstörung mit Medikamenten möglich.
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