Einleitung
Die Behandlung von Demenz-assoziierten Symptomen stellt eine große Herausforderung dar. Schlafstörungen, Unruhe und Verwirrtheit sind häufige Begleiterscheinungen, die die Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Angehörigen erheblich beeinträchtigen können. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich Clomethiazol (Handelsname Distraneurin) eingesetzt. Dieser Artikel beleuchtet die Anwendung von Clomethiazol bei Demenz, seine Wirkungsweise, Risiken und mögliche Alternativen.
Was ist Clomethiazol (Distraneurin)?
Clomethiazol ist ein Sedativum und Hypnotikum, das zur Behandlung von Alkoholentzugssyndromen, Erregungszuständen und Schlafstörungen eingesetzt wird. Es wirkt primär durch die Verstärkung der Wirkung von Gamma-Aminobuttersäure (GABA), einem wichtigen inhibitorischen Neurotransmitter im Gehirn. Durch die Erhöhung der GABAergen Aktivität reduziert Clomethiazol die neuronale Erregbarkeit.
Wirkmechanismus
Clomethiazol moduliert den Gamma-Aminobuttersäure (GABA)-A-Rezeptor, einen Schlüsselrezeptor im zentralen Nervensystem, der die inhibitorische Neurotransmission vermittelt. Durch die Verstärkung der GABAergen Aktivität erhöht Clomethiazol die Öffnungsfrequenz des Chloridkanals, der mit dem GABA-A-Rezeptorkomplex assoziiert ist, was zu einer Hyperpolarisation der Neuronenmembran führt. Darüber hinaus kann Clomethiazol die Freisetzung von Glutamat, einem exzitatorischen Neurotransmitter, reduzieren, was zu einer weiteren Dämpfung der neuronalen Aktivität beiträgt. Diese kombinierten Wirkungen machen Clomethiazol wirksam bei der Behandlung von Zuständen, die mit einer erhöhten neuronalen Erregbarkeit einhergehen.
Anwendung von Clomethiazol bei Demenz
Obwohl Clomethiazol nicht speziell für die Behandlung von Demenz zugelassen ist, wird es in der klinischen Praxis gelegentlich zur Behandlung von Unruhe-, Erregungs- und Verwirrtheitszuständen eingesetzt, insbesondere in der Geriatrie und Gerontopsychiatrie. Es ist zu beachten, dass es keine evidenzbasierte Empfehlung zur medikamentösen Behandlung von Schlafstörungen oder der Tag-Nacht-Umkehr bei an Demenz erkrankten Menschen gibt. Die Anwendung sollte daher nur unter strenger Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen.
Dosierung
Die Dosierung von Clomethiazol muss individuell angepasst werden. In der Geriatrie oder Gerontopsychiatrie wird es gelegentlich in niedriger Dosierung zur Behandlung von Unruhe- und Verwirrtheitszuständen eingesetzt. Die empfohlene Dosierung für Erwachsene bei Delirium, Erregung und Unruhe aufgrund von Hirnschäden beträgt in der Regel 1-2 Kapseln 3-mal täglich, unabhängig von den Mahlzeiten. Bei Schlafstörungen beträgt die empfohlene Dosis 2 Kapseln vor dem Schlafengehen, wobei die Dosis unter ärztlicher Aufsicht auf 4 Kapseln pro Tag erhöht werden kann.
Lesen Sie auch: Fortgeschrittene Demenz: Ein umfassender Überblick
Risiken und Nebenwirkungen von Clomethiazol
Die Anwendung von Clomethiazol ist mit erheblichen Risiken verbunden, insbesondere bei älteren Menschen und Demenzpatienten.
Abhängigkeitspotenzial
Clomethiazol hat ein hohes Abhängigkeitspotenzial und kann bei längerer Anwendung zu einer psychischen und physischen Abhängigkeit führen. Dies ist besonders problematisch bei Patienten mit Demenz, die möglicherweise bereits andere Medikamente einnehmen und ein erhöhtes Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen haben. Vor dem Hintergrund eines allgemeinen Anwachsens der Suchtproblematik, besonders des Arzneimittelmißbrauchs und der Mehrfachabhängigkeiten, wurde in den vergangenen Jahren wiederholt vor den Gefahren des Clomethiazols-(Distraneurin®-)Mißbrauchs gewarnt. Das Suchtpotential von Clomethiazol ist seit 1966 bekannt und in zahlreichen klinischen Untersuchungen uneingeschränkt bestätigt worden. Es entsteht innerhalb kurzer Zeit eine ausgeprägte körperliche Abhängigkeit mit dem Risiko des vollentwickelten Entzugsdelirs einschließlich zerebraler Krämpfe, welches sich in keiner Weise von einem alkoholbedingten Delir unterscheidet. Außerdem bildet sich eine besonders hartnäckige, schwer zubehandelnde psychische Abhängigkeit aus.
Nebenwirkungen
Zu den häufigsten Nebenwirkungen von Clomethiazol gehören:
- Verstopfte Nase und vermehrte Sekretion von Nasen- und Bronchialschleim
- Magen-Darm-Beschwerden wie Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Magenschmerzen und Sodbrennen
- Zentralnervöse Störungen wie Kopfschmerzen, Benommenheit, Müdigkeit und Missempfindungen
- Hautreaktionen wie Juckreiz, Hautausschlag und Nesselsucht
- Herzklopfen und Hustenreiz
Bei Patienten mit respiratorischer oder kardialer Insuffizienz kann Sauerstoffmangel zu akuten Verwirrtheitszuständen führen. Bei Alkoholikern besteht das Risiko einer sekundären Abhängigkeitsentwicklung. Bei eingeschränkter Leber- und Nierenfunktion muss Clomethiazol mit großer Vorsicht verwendet werden.
Wechselwirkungen
Clomethiazol kann die Wirkung von ZNS-dämpfenden Arzneimitteln, einschließlich Alkohol und Benzodiazepinen, verstärken. Bei intravenöser Verabreichung von Clomethiazol zusammen mit Carbamazepin steigt die Clomethiazol-Ausscheidung um 30% an. Clomethiazol ist ein Inhibitor der Enzyme CYP2A6 und CYP2E1, was die Metabolisierung und Plasmaspiegel von klinisch relevanten Substraten dieser Enzyme, einschließlich Sedativa, Anästhetika, Analgetika, Antidepressiva, Antiepileptika und Antibiotika, beeinflussen kann.
Lesen Sie auch: Wechselwirkungen zwischen Schmerzmitteln und Demenz
Kontraindikationen
Clomethiazol darf nicht angewendet werden bei:
- Überempfindlichkeit gegen die Inhaltsstoffe
- Schlafapnoe-Syndrom
- Störungen des Atemzentrums im Gehirn
- Arzneimittel-, Alkohol- oder Drogenmissbrauch in der Anamnese
Alternativen zu Clomethiazol bei Demenz
Aufgrund der erheblichen Risiken und Nebenwirkungen von Clomethiazol sollten alternative Behandlungsstrategien bei Demenzpatienten bevorzugt werden.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen
Nicht-medikamentöse Maßnahmen sollten immer die erste Wahl sein, um Verhaltensauffälligkeiten und Schlafstörungen bei Demenz zu behandeln. Dazu gehören:
- Anpassung der Umgebung: Schaffung einer ruhigen, sicheren und vertrauten Umgebung.
- Tagesstrukturierung: Regelmäßige Tagesabläufe mit festen Mahlzeiten, Aktivitäten und Ruhezeiten.
- Kognitive und soziale Aktivierung: Förderung von Gedächtnis, Aufmerksamkeit und sozialer Interaktion durch geeignete Aktivitäten.
- Bewegung und körperliche Aktivität: Regelmäßige Bewegung kann die Schlafqualität verbessern und Unruhe reduzieren.
- Lichttherapie: Einsatz von hellem Licht zur Regulierung des Schlaf-Wach-Rhythmus.
- Validationstherapie: Akzeptanz und Wertschätzung der Gefühle und Bedürfnisse des Patienten, auch wenn sieRealitätsfern erscheinen.
Medikamentöse Alternativen
Wenn nicht-medikamentöse Maßnahmen nicht ausreichend wirksam sind, können in bestimmten Fällen Medikamente in Betracht gezogen werden. Es ist jedoch wichtig, die Risiken und Vorteile sorgfältig abzuwägen und die Behandlung engmaschig zu überwachen.
- Melatonin: Obwohl Studien zur Wirksamkeit von Melatonin bei Demenz-bedingten Schlafstörungen uneinheitlich sind, kann es in einigen Fällen eine Option sein.
- Atypische Neuroleptika: In bestimmten Fällen können atypische Neuroleptika wie Risperidon, Quetiapin oder Olanzapin zur Behandlung von psychotischen Symptomen, Agitation und Aggression eingesetzt werden. Diese Medikamente sind jedoch mit einem erhöhten Risiko für Nebenwirkungen wie extrapyramidale Symptome,Sedierung und kardiovaskuläre Ereignisse verbunden und sollten nur mit Vorsicht eingesetzt werden.
- Antidepressiva: Bei Demenzpatienten mit Depressionen oder Angstzuständen können Antidepressiva wie SSRIs (selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) oder Mirtazapin hilfreich sein. Mirtazapin wird von der FORTA-Liste (33) bei Demenz-assoziierten Schlafstörungen empfohlen, jedoch nur in Kategorie C (ungünstige Nutzen-Risiko-Relation für ältere Patienten) und nur bei Depression, Schlafstörung oder Appetitlosigkeit.
- Cholinesterasehemmer und Memantin: Diese Medikamente sind primär zur Behandlung der kognitiven Symptome der Alzheimer-Krankheit zugelassen, können aber auch positive Auswirkungen auf Verhaltensauffälligkeiten haben.
In der klinischen Praxis werden häufig die Erstgenerations-Antipsychotika Pipamperon und Melperon eingesetzt, die in der Indikation »Schlafstörungen, insbesondere bei geriatrischen Patienten« zugelassen sind. Dafür sprechen die fehlende anticholinerge und delirogene Wirkung, gerade im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva (Trimipramin, Doxepin), anderen niederpotenten AP (Levomepromazin, Chlorprothixen, Prothipendyl) und Antihistaminika (Doxylamin, Diphenhydramin, Promethazin). Bei Melperon ist eine Inhibition von CYP2D6 zu beachten; beide Substanzen verlängern das QTc-Intervall des Herzens. Da auch Pipamperon und Melperon die Mortalität erhöhen (9), sollte der Einsatz einer strengen Nutzen-Risiko-Abwägung unterliegen. Beide Substanzen können zu EPS führen und erhöhen so das Sturzrisiko. Zu Behandlungsbeginn sind Orthostaseprobleme möglich, ein Blutdruckmonitoring ist daher ratsam. Zu empfehlen sind eine niedrige Startdosis und langsames Aufdosieren - auch wenn man die Tabletten dafür (unerlaubt) teilen muss. Wie gut, wenn die Begleitung eines psychiatrisch oder an Demenz erkrankten Menschen so mitfühlend gelingt.
Lesen Sie auch: Ursachen und Behandlung von Zittern bei Demenz
Fazit
Clomethiazol (Distraneurin) ist ein Medikament mit sedierenden und antikonvulsiven Eigenschaften, das in bestimmten Situationen zur Behandlung von Unruhe-, Erregungs- und Verwirrtheitszuständen bei Demenzpatienten eingesetzt werden kann. Aufgrund des hohen Abhängigkeitspotenzials und des Risikos von Nebenwirkungen sollte die Anwendung jedoch nur in Ausnahmefällen und unter strenger ärztlicher Aufsicht erfolgen. Nicht-medikamentöse Maßnahmen und alternative Medikamente sollten bevorzugt werden, um die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern und das Risiko unerwünschter Arzneimittelwirkungen zu minimieren. Es gibt keine evidenzbasierte Empfehlung zur medikamentösen Behandlung von Schlafstörungen bei an Demenz erkrankten Menschen. Im Alltag werden oft Pipamperon und Melperon eingesetzt, aber sie erhöhen Morbidität und Mortalität der Kranken. Es ist wichtig, dass Ärzte, Pflegekräfte und Angehörige eng zusammenarbeiten, um die bestmögliche Behandlungsstrategie für jeden einzelnen Patienten zu entwickeln.
tags: #Distraneurin #Demenz #Anwendung