Stina Werenfels' Film Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern aus dem Jahr 2015, basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Lukas Bärfuss aus dem Jahr 2003, ist ein mutiges und kontroverses Drama, das sich mit der Sexualität von Menschen mit Behinderung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Tabus auseinandersetzt. Der Film wirft wichtige Fragen nach Selbstbestimmung, Verantwortung und den Grenzen der elterlichen Fürsorge auf und zwingt den Zuschauer, sich mit seinen eigenen Vorurteilen und Ängsten auseinanderzusetzen.
Handlung
Die 18-jährige Dora (Victoria Schulz), eine geistig behinderte junge Frau, erwacht aus einem medikamentösen Dämmerschlaf, nachdem ihre Mutter (Jenny Schily) in Absprache mit dem Arzt beschließt, ihre sedierenden Psychopharmaka abzusetzen. Dora entdeckt ihren Körper, ihre Sinnlichkeit und schließlich auch den Sex. Ihre neu gewonnene Lebenslust und ihr unbändiges Verlangen schockieren jedoch ihre Eltern.
Bei ihrer Arbeit als Marktverkäuferin lernt Dora Peter (Lars Eidinger) kennen. Sie stellt ihm mit einem Granatapfel nach und folgt ihm in eine Bahnhofstoilette, wo es zum ersten sexuellen Kontakt kommt. Die entsetzte Mutter interpretiert dies als Missbrauch und will Dora den Umgang mit Peter verbieten. Dora hingegen schwärmt von ihren Erfahrungen mit Peter, was die Situation zusätzlich verkompliziert.
Es entwickelt sich eine Beziehung zwischen Dora und Peter, die von sexueller Ausbeutung, Abhängigkeit und Zuneigung geprägt ist. Als Dora schwanger wird, stehen alle Beteiligten vor schwierigen Entscheidungen und müssen ihre Beziehungen und Wertvorstellungen überdenken.
Themen und Motive
Der Film behandelt eine Reihe von komplexen und tabuisierten Themen:
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- Sexualität und Behinderung: Der Film stellt die Frage, ob und inwieweit Menschen mit Behinderung ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung haben. Er thematisiert die Schwierigkeiten, die mit der Ausübung dieses Rechts verbunden sind, und die Gefahr von Ausbeutung und Missbrauch.
- Selbstbestimmung vs. Schutz: Der Film beleuchtet das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Schutz, insbesondere bei Menschen mit Behinderung. Er wirft die Frage auf, wo die Grenzen der elterlichen Fürsorge liegen und wann sie in Bevormundung umschlägt.
- Verantwortung und Schuld: Der Film stellt die Frage nach der Verantwortung der Eltern, der Gesellschaft und des Einzelnen im Umgang mit Menschen mit Behinderung. Er thematisiert Schuldgefühle, Überforderung und die Schwierigkeit, die richtigen Entscheidungen zu treffen.
- Normalität und Anderssein: Der Film hinterfragt den Begriff der Normalität und zeigt, dass Menschen mit Behinderung oft ausgegrenzt und stigmatisiert werden. Er plädiert für eine offene und tolerante Gesellschaft, die Vielfalt akzeptiert und respektiert.
- Elterliche Neurosen: Der Filmtitel deutet an, dass die Schwierigkeiten im Umgang mit Doras Sexualität auch auf die "sexuellen Neurosen" der Eltern zurückzuführen sind. Die Mutter, die selbst mit künstlicher Befruchtung um ein "gesundes" Kind kämpft, reagiert mit Angst und Aggression auf Doras Schwangerschaft. Der Film zeigt, wie die eigenen Ängste und Unsicherheiten der Eltern die Beziehung zu ihrem Kind beeinflussen können.
Inszenierung und Stil
Stina Werenfels wählt eine subjektive und einfühlsame Inszenierung, die den Zuschauer in die Gefühlswelt von Dora hineinzieht. Verschwommene Bilder und Close-ups vermitteln Doras selektive Wahrnehmung und ihre unbefangene Sicht auf die Welt. Die Kamera fängt die Schönheit des Alltäglichen ein und zeigt Doras Freude an kleinen Dingen.
Gleichzeitig scheut sich der Film nicht, explizite Sexszenen zu zeigen, die jedoch nie voyeuristisch oder ausbeuterisch wirken. Sie dienen vielmehr dazu, Doras Körperlichkeit und ihre Lust auf das Leben zu verdeutlichen.
Die Musik spielt eine wichtige Rolle im Film. Die Szene, in der Dora und Peter im Cabrio zu "Verschwende Deine Jugend" von DAF Pogo tanzen, ist ein Schlüsselerlebnis, das Doras Befreiung und ihre Lebenslust symbolisiert.
Schauspielerische Leistungen
Victoria Schulz überzeugt in ihrer ersten Filmrolle als Dora mit einer beeindruckenden Natürlichkeit und Unerschrockenheit. Sie verkörpert Doras Vitalität und ihre unbändige Lebenslust auf berührende Weise.
Lars Eidinger spielt Peter mit einer gefährlichen Mischung aus Zuneigung und Ausbeutung. Er zeigt die Ambivalenz der Figur und macht es dem Zuschauer schwer, ihn zu verurteilen.
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Jenny Schily verkörpert die überforderte Mutter mit großer Sensibilität. Sie zeigt die Zerrissenheit der Figur und ihre Schwierigkeit, mit Doras neu gewonnener Freiheit umzugehen.
Kontroverse und Kritik
Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern hat bei seiner Veröffentlichung eine heftige Kontroverse ausgelöst. Einige Kritiker warfen dem Film vor, die sexuelle Ausbeutung von Menschen mit Behinderung zu verharmlosen und voyeuristisch darzustellen. Andere lobten den Film für seinen Mut, ein Tabuthema anzusprechen und wichtige Fragen nach Selbstbestimmung und Verantwortung aufzuwerfen.
Ein Kritikpunkt war, dass Stina Werenfels keine Schauspielerin mit Behinderung für die Rolle der Dora besetzt hat. Dies wurde von einigen als verpasste Chance kritisiert, die Perspektive von Menschen mit Behinderung stärker in den Film einzubringen.
Trotz der Kontroverse ist der Film ein wichtiger Beitrag zur Debatte über Sexualität und Behinderung. Er zwingt den Zuschauer, sich mit seinen eigenen Vorurteilen auseinanderzusetzen und über die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung nachzudenken.
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