Dora und Sigmund Freud: Eine Analyse eines berühmten Falles

Der Fall Dora, wie er von Sigmund Freud in seinem Werk "Bruchstück einer Hysterie-Analyse" (1905) dargestellt wurde, ist eine der bekanntesten Fallstudien in der Geschichte der Psychoanalyse. Hinter dem Pseudonym "Dora" verbirgt sich Ida Bauer, eine junge Frau aus Wien, deren Behandlung durch Freud und die anschließende Veröffentlichung ihrer Geschichte weitreichende Folgen für die Entwicklung der psychoanalytischen Theorie und Praxis hatten.

Die Patientin: Ida Bauer alias Dora

Ida Bauer, geboren 1882 in Wien, stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Familie. Ihr Vater schickte sie im Alter von 18 Jahren zu Sigmund Freud, da sie unter psychosomatischen Symptomen wie nervösem Husten, Atemnot und Stimmproblemen litt. Zudem hatte sie Selbstmordgedanken geäußert. Ida war die Schwester von Otto Bauer, einem bedeutenden Theoretiker der österreichischen Sozialdemokratie und Begründer des Austromarxismus.

Freud unterzog Ida seinen neuartigen Behandlungsmethoden, der Sprechkur und der Deutung ihrer Träume. Nach nur elf Wochen brach Ida die Behandlung jedoch eigenmächtig ab, was Freud frustrierte.

Freuds "Bruchstück einer Hysterie-Analyse"

Freuds Bericht über den Fall Dora, der 1901 geschrieben, aber erst 1905 veröffentlicht wurde, stellt eine wichtige Verbindung zwischen seinem Werk "Die Traumdeutung" (1900) und den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" (1905) dar. In dieser Fallschilderung zog Freud zum ersten Mal klinische Konsequenzen aus seiner "Traumdeutung" und entwickelte das Konzept von Übertragung und Gegenübertragung.

Freud selbst bezeichnete seine Fallbeschreibungen als "psychoanalytische Novellen" und war sich der Nähe der psychoanalytischen zu literarischen Methoden bewusst. Er betonte jedoch den Unterschied zwischen literarischer Fiktion und psychoanalytischer Non-Fiction. Während man über fiktionale Verhältnisse spekulieren könne, sei es bei realen Personen möglich, durch Auswertung von Zeugenaussagen und Quellenkritik etwas über sie herauszufinden, was der Autor nicht gewusst haben könne.

Lesen Sie auch: Kritische Betrachtung von Dora

Die literarische Aufarbeitung des Falls Dora

Die Geschichte von Ida Bauer und ihrer Behandlung durch Freud hat zahlreiche wissenschaftliche Monografien und literarische Nacherzählungen inspiriert. Diese Werke beleuchten den tragischen Konflikt einer intelligenten und vitalen jungen Frau mit den patriarchalischen Lebensverhältnissen des späten Habsburgerreichs.

Ein Beispiel hierfür ist der Roman "Ida" von Katharina Adler, der Urenkelin von Ida Bauer. Adler gibt ihrer Urgroßmutter eine eigene Stimme und erzählt deren Leben nach dem Abbruch der Psychoanalyse. Sie beschreibt Idas politische Aktivität in der österreichischen Sozialdemokratie, ihre Ehe, ihre Beziehungen zu ihrem Bruder und ihrem Sohn, den "Anschluss" und die Faschisierung Österreichs, den Verlust ihres Vermögens, das Exil und das Leben in Amerika.

Adlers Roman ist als Widerlegung von Freuds "Bruchstück einer Hysterie-Analyse" angelegt. Während Freud die "Überdeterminierung" der Realität betont, vereinfacht und abstrahiert Adler den Konflikt zwischen lebendigem Lebensleid und fühlloser Wissenschaft.

Kritik an Freuds Deutung

Der Fall Dora ist auch Gegenstand kritischer Auseinandersetzung. Einige Kritiker werfen Freud vor, Vorgänge, die heute als sexueller Übergriff eines älteren Mannes interpretiert würden, ohne große Empathie als Belegmaterial für seine Neurosentheorie und Traumdeutung verarbeitet zu haben. Sie argumentieren, dass Freud in den frauenfeindlichen Vorurteilen seiner Zeit befangen gewesen sei und die Patientin in ihrer viktorianischen Familiensituation nicht ausreichend unterstützt habe.

Die Bedeutung des Falls Dora für die Psychoanalyse

Trotz der Kritik bleibt der Fall Dora ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der Psychoanalyse. Er verdeutlicht die Komplexität der menschlichen Psyche und die Herausforderungen der psychoanalytischen Behandlung. Zudem hat er die Entwicklung wichtiger Konzepte wie Übertragung und Gegenübertragung angestoßen.

Lesen Sie auch: Sexuelle Neurosen in "Dora" analysiert

Vera King untersucht die Bedeutung von Adoleszenz und Geschlechterspannung im Schöpfungsprozess der Psychoanalyse. Im Zentrum ihrer Rekonstruktion des Theoriebildungsprozesses steht der Fall Dora, die erste große psychoanalytische Fallgeschichte, in der Freud in der analytischen Auseinandersetzung mit einer adoleszenten jungen Frau das Verhältnis von Traum, Neurose und Sexualität neu entfaltet und die Übertragung "entdeckte". Der Fall Dora wird dabei als Urszene der Psychoanalyse entziffert, aus der heraus Freud u.a. die Technik der Psychoanalyse und der Übertragung entwickelte.

Das Leben von Ida Bauer nach Freud

Katharina Adlers Roman "Ida" zeichnet das Bild einer eigensinnigen und selbstbewussten Frau, die ihren eigenen Weg geht. Sie beschreibt Idas enttäuschende Ehe mit dem erfolglosen Komponisten Ernst Adler, ihre Versuche, im verarmten Nachkriegs-Österreich mit einem Bridge-Club ihren Lebensunterhalt zu verdienen, ihre Emigration 1939 in die USA, wo ihr Sohn Kurt Adler sich bereits als Opern- und Konzertdirigent einen Namen gemacht hatte, und wo sie 1945 an Krebs starb.

Adler porträtiert Ida als eine Person, die nie wirklich verstanden und anerkannt wurde und die nach dem Erlebnis sexuellen Missbrauchs als 14-jähriges Mädchen nur in einer sehr gebrochenen Form ins Leben zurückfand. Sie beschreibt ein Mädchen, dessen Trauma nicht vernarben kann und durch Sigmund Freuds Deutungen und Interventionen nur schmerzhafter und schließlich unheilbar geworden ist.

Lesen Sie auch: Sexuelle Neurosen in "Dora" analysiert

tags: #Dora #Fall #Sigmund #Freud