Einführung
Der Film "Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern", basierend auf dem gleichnamigen Theaterstück von Lukas Bärfuss, thematisiert auf mutige Weise das Recht auf Sexualität und Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung. Regisseurin Stina Werenfels wagt sich an ein Tabuthema und beleuchtet die damit verbundenen Herausforderungen für die Betroffenen und ihre Angehörigen.
Inhalt
Doras Erwachen
Die Geschichte beginnt mit Dora, einer 18-jährigen geistig behinderten jungen Frau, die bis zu ihrem Geburtstag stark sedierende Medikamente erhält. Als ihre Mutter Kristin beschließt, die Medikamente abzusetzen, erwacht Dora aus einem medikamentösen Dämmerzustand und entdeckt ihren Körper, ihre Sinnlichkeit und schließlich auch den Sex. Dieses Erwachen wird clever in subjektiv-verwischten Bildern ihrer selektiven Wahrnehmung eingefangen.
Die Konfrontation mit der Realität
Doras neu gewonnene Lebenslust und ihr Interesse an Sexualität schockieren ihre Eltern. Am Marktstand, wo sie als Verkaufshilfe arbeitet, lernt sie Peter kennen. Die Beziehung zu Peter, einem Mann, der sich fernab der intimen Zweisamkeit wenig für sie interessiert, stellt die Familie vor eine Zerreißprobe.
Die Gratwanderung der Eltern
Die Eltern, insbesondere die Mutter, sind mit der Situation überfordert. Kristin erweitert ihre Tätigkeit im Catering-Bereich und erlaubt sich, ihren Wunsch nach einem zweiten Kind auszusprechen. Gleichzeitig muss sie mit Doras wachsender Selbstständigkeit und ihrem Verhältnis zu Peter umgehen. Sie ist überzeugt, dass ihre Tochter vergewaltigt wurde, doch Dora widerspricht und sagt, dass es ihr gefallen hat.
Doras Sicht der Dinge
Dora wünscht sich nichts mehr, als normal zu sein und eine eigene Familie zu haben. Sie trifft sich ohne das Wissen ihrer Eltern weiterhin mit Peter, der sichtlich von ihrer befreiten Sinnlichkeit angetan ist. Für Dora ist Sexualität eine Art Rückversicherung, eine Bestätigung für das Geschehene. Sie mag es gern hart, sodass sie am nächsten Tag ihre blauen Flecken bewundern und kleine Blessuren betasten kann.
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Die Frage der Selbstbestimmung
Der Film wirft die Frage auf, inwieweit geistig behinderte Menschen ein Recht auf Selbstbestimmung haben und wie weit die Verantwortung der Eltern reicht. Dora ist nach dem Gesetz volljährig, mündig und auch autonom. In der Praxis sieht das aber anders aus, da sie mit dem Körper einer jungen Frau und der geistigen Reife eines zehnjährigen Kindes eine besondere Situation darstellt.
Schwangerschaft und Abtreibung
Dora wird schwanger, treibt aber ab. Kurz darauf wird sie erneut schwanger. Ihre selbstverständliche Fruchtbarkeit steht im Kontrast zur verkrampften Sexualität der Eltern, die unbedingt nochmals und diesmal explizit ein „gesundes“ Kind zeugen wollen.
Analyse
Stärken des Films
- Mutige Thematisierung: Der Film thematisiert ein Tabuthema und regt zur Diskussion über das Recht auf Sexualität und Selbstbestimmung von Menschen mit geistiger Behinderung an.
- Subjektive Kamerablicke: Die zarten, subjektiven Kamerablicke fangen Doras Sicht auf die Schönheit der Welt ein und ermöglichen dem Zuschauer, sich in ihre Perspektive hineinzuversetzen.
- Überzeugende schauspielerische Leistungen: Victoria Schulz überzeugt in der Rolle der Dora, während Jenny Schily sensibel die Mutter spielt.
Schwächen des Films
- Oberflächlichkeit: Der Film bleibt insgesamt zu oberflächlich und geht nicht ausreichend auf die komplexen Handlungszusammenhänge ein.
- Einseitige Darstellung: Die Darstellung der Figuren, insbesondere von Peter, ist zu einseitig und stigmatisierend.
- Dramaturgische Schwächen: Der Perspektivwechsel zu Dora unterbricht immer wieder wichtige Momente und schadet der Dramaturgie.
Die Rolle der Eltern
Der Film porträtiert eine Mutter, die ihrerseits mit den Fallstricken des Lebens zu kämpfen hat und ihren Körper neu erlebt. Die Eltern stehen vor der schwierigen Aufgabe, ihrer Tochter ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und sie gleichzeitig vor Gefahren zu schützen. Die Frage, warum die Eltern Dora bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag so immens unter Medikamente gesetzt haben, obwohl Dora danach einen doch unaufgeregten und vor allem vergleichsweise unkomplizierten Eindruck macht, bleibt unbeantwortet.
Die Figur des Peter
Die Figur des Peter wird zu simplifiziert dargestellt. Er wird als zwielichtiger Mann dargestellt, der Doras Behinderung ausnutzt. Die Figur bietet jedoch wenig Tiefgang und trägt wenig zur Entwicklung der Geschichte bei.
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