In unserer schnelllebigen und stressgeprägten Welt ist es keine Seltenheit, dass unser Nervensystem aus dem Gleichgewicht gerät. Ein dysreguliertes Nervensystem kann sich durch vielfältige Symptome äußern, von innerer Unruhe und Schlafstörungen bis hin zu chronischen Schmerzen und Überforderung. Doch es gibt Hoffnung: Mit gezielten Übungen und Techniken können wir unser Nervensystem beruhigen, regulieren und langfristig widerstandsfähiger gegen Stress machen.
Was ist ein dysreguliertes Nervensystem?
Unser Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk, das unseren Körper steuert und uns ermöglicht, auf unsere Umwelt zu reagieren. Es besteht aus zwei Hauptbereichen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus ist für die "Kampf-oder-Flucht"-Reaktion zuständig, die uns in Stresssituationen aktiviert und in Alarmbereitschaft versetzt. Der Parasympathikus hingegen sorgt für Entspannung, Erholung und Regeneration.
Ein reguliertes Nervensystem zeichnet sich durch ein ausgewogenes Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus aus. Es kann flexibel auf Stressoren reagieren und nach einer Aktivierung wieder in einen entspannten Zustand zurückkehren. Bei einem dysregulierten Nervensystem ist dieses Gleichgewicht gestört. Der Sympathikus ist oft überaktiv, während der Parasympathikus nur unzureichend aktiviert wird. Dies führt zu einem Zustand chronischer Anspannung und Übererregung.
Ursachen für ein dysreguliertes Nervensystem
Es gibt zahlreiche Faktoren, die zu einer Dysregulation des Nervensystems beitragen können. Dazu gehören:
- Trauma: Bindungstrauma, Entwicklungstrauma, Schocktrauma, pränatales Trauma, transgenerationales Trauma
- Langanhaltender chronischer Stress: Berufliche Überlastung, finanzielle Sorgen, Beziehungsprobleme
- Unzureichende Fähigkeit zur Regulation: Mangelnde Bewältigungsstrategien für Stress und Emotionen
- Tiefere seelische Probleme: Depressionen, Angststörungen
- Hochsensibilität: Die Tendenz, mehr Eindrücke aus der Umwelt wahrzunehmen und mehr Zeit zu brauchen, diese Reize zu verarbeiten.
- Long Covid: Ein Zustand nach einer Corona-Infektion, der mit einem dysregulierten Nervensystem einhergehen kann.
Symptome eines dysregulierten Nervensystems
Die Symptome eines dysregulierten Nervensystems können vielfältig sein und sich auf körperlicher, emotionaler und kognitiver Ebene äußern. Häufige Anzeichen sind:
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- Innere Unruhe, das Gefühl, ständig angetrieben zu werden
- Nicht im Hier und Jetzt präsent sein können
- Sich nicht im Körper zu Hause fühlen
- Verkopft sein
- Angst, Panikattacken
- Schlafstörungen
- Antriebslosigkeit, Schwere
- Energielosigkeit, Kraftlosigkeit
- Körperliche Probleme (z.B. Migräne, Verdauungsprobleme, Reizdarm, Asthma, Tinnitus, Neurodermitis, chronische Schmerzen, häufige Infektionen)
- Schnelle Überforderung
- Von Gefühlen überrollt werden
Übungen zur Regulierung des Nervensystems
Glücklicherweise gibt es viele wirksame Übungen und Techniken, die uns helfen können, unser Nervensystem zu beruhigen und zu regulieren. Diese Übungen zielen darauf ab, den Parasympathikus zu aktivieren, Stress abzubauen und ein Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln.
1. Atemübungen
Unsere Atmung ist ein mächtiges Werkzeug, um unser Nervensystem zu beeinflussen. Indem wir bewusst und achtsam atmen, können wir den Parasympathikus aktivieren und den Körper in einen Zustand der Entspannung versetzen.
- Die 3-6-Atemübung: Atme für drei Zählzeiten durch die Nase ein und für sechs Zählzeiten durch den Mund aus. Wiederhole dies für etwa fünf Minuten.
- Verlängerte Ausatmung: Atme durch die Nase ein und langsam durch den Mund aus. Achte darauf, dass der Ausatem etwas länger dauert als der Einatem.
- Die 4-7-8-Atemtechnik: Atme vier Sekunden lang ein, halte den Atem für sieben Sekunden an und atme acht Sekunden lang aus.
- In einen Strohhalm pusten: Atme aus, als ob du in einen Strohhalm pusten müsstest.
- Wechselatmung: Halte ein Nasenloch zu und atme durch das andere ein. Halte dann das andere Nasenloch zu und atme durch das erste aus.
2. Körperübungen
Sanfte Körperübungen können helfen, Verspannungen zu lösen, die Körperwahrnehmung zu verbessern und das Nervensystem zu beruhigen.
- Yin Yoga: Eine ruhige Yoga-Form, bei der Positionen lange gehalten werden, um tiefe Entspannung zu fördern.
- Schütteln, Wackeln, Wippen: Stelle dich hüftbreit hin und beginne, sanft aus den Knien heraus zu wippen. Intensiviere die Übung bis hin zu einem starken Schütteln des ganzen Körpers.
- Tanzen: Bewege dich intuitiv zu deiner Lieblingsmusik.
- Selbstmassage: Massiere deine Füße, Arme, Beine oder andere Körperteile.
- Abklopfen: Klopfe sanft auf deine Brust, deinen Rücken oder deine Schultern.
- Druck gegen eine Wand: Stelle dich an eine Wand und drücke mit den Händen oder Armen fest dagegen.
- Bewegung: Mache eine Bewegung mit deinem Körper, die sich angenehm anfühlt (z.B. mit dem Oberkörper pendeln, die Hände bewegen, mit dem Kiefer wackeln, Yoga…).
3. Erdungsübungen
Erdungsübungen helfen uns, uns im Hier und Jetzt zu verankern und ein Gefühl von Stabilität und Sicherheit zu entwickeln.
- Füße spüren: Nimm bewusst deine Füße auf dem Boden wahr. Stelle dir vor, wie Stress und Anspannung aus deinem Körper über die Füße in den Boden fließen.
- Körper spüren: Spüre deine Sitzhöcker auf dem Stuhl oder deinen gesamten Körper, wenn du liegst. Nimm die Verbindung zur Erde wahr.
- Orientierung im Raum: Schau dich bewusst in deiner Umgebung um und nimm Details wahr. Benenne die Gegenstände, die du siehst.
- 5-4-3-2-1-Übung: Nenne fünf Dinge, die du sehen kannst, vier Dinge, die du fühlen kannst, drei Dinge, die du hören kannst, zwei Dinge, die du riechen kannst und einen Dinge, das du schmecken kannst.
- Füße auf den Boden: Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Füße, die auf dem Boden stehen. Spüre, wie sie den Boden berühren.
4. Vagusnerv-Stimulation
Der Vagusnerv spielt eine zentrale Rolle bei der Regulation des Nervensystems. Durch gezielte Stimulation können wir seine beruhigende Wirkung verstärken.
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- Singen, Summen, Chanten: Erzeuge Vibrationen im Kehlbereich.
- Ohren massieren: Massiere sanft deine Ohren.
- Hals streichen: Streiche mit den Händen langsam und achtsam an den Seiten deines Halses entlang nach unten Richtung Herz.
- Kältereize: Wasche dein Gesicht mit kaltem Wasser oder nimm eine kalte Dusche.
- Nah- und Fernsicht: Fixiere abwechselnd einen Punkt in der Nähe und einen Punkt in der Ferne.
- Zunge entspannen: Entspanne deine Zunge und lege sie leicht an die oberen Zähne.
5. Achtsamkeit und Meditation
Achtsamkeitspraktiken helfen uns, unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zu lenken und unsere Gedanken und Gefühle ohne Wertung wahrzunehmen. Meditation kann helfen, den Geist zu beruhigen und das Nervensystem zu regulieren.
- Body Scan: Richte deine Aufmerksamkeit auf verschiedene Körperteile und nimm wahr, welche Empfindungen vorhanden sind.
- Achtsame Pause: Nimm dir regelmäßig kurze Pausen, um bewusst zu atmen, deinen Körper zu spüren und deine Umgebung wahrzunehmen.
- Meditation: Setze dich bequem hin, schließe die Augen und konzentriere dich auf deinen Atem oder ein Mantra.
6. Weitere hilfreiche Strategien
Neben den genannten Übungen gibt es noch weitere Strategien, die zur Regulation des Nervensystems beitragen können:
- Natur: Verbringe Zeit in der Natur.
- Soziale Kontakte: Pflege liebevolle Beziehungen zu anderen Menschen.
- (Selbst-)Berührung: Umarme dich selbst oder lass dich von anderen berühren.
- Klang und Töne: Höre entspannende Musik oder Klangschalen.
- Grundbedürfnisse erfüllen: Achte auf ausreichend Schlaf, gesunde Ernährung und regelmäßige Bewegung.
- Emotionen zulassen: Erlaube dir, deine Gefühle auszudrücken.
- Kreativität: Male, zeichne, schreibe oder musiziere.
Integration in den Alltag
Es ist wichtig, die Übungen zur Regulierung des Nervensystems regelmäßig in den Alltag zu integrieren. Beginne mit kleinen Schritten und wähle Übungen aus, die dir Freude bereiten und leicht umzusetzen sind.
- Rituale schaffen: Integriere die Übungen in deine Morgen- oder Abendroutine.
- Erinnerungen setzen: Nutze Erinnerungen auf deinem Smartphone oder schreibe dir Notizen, um dich an die Übungen zu erinnern.
- Flexibel bleiben: Passe die Übungen an deine Bedürfnisse und deinen Zeitplan an.
Professionelle Unterstützung
In manchen Fällen kann es sinnvoll sein, professionelle Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Ein Therapeut oder Coach kann dir helfen, die Ursachen deiner Nervensystem-Dysregulation zu erkennen, individuelle Bewältigungsstrategien zu entwickeln und die Übungen effektiv anzuwenden.
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