Dysreguliertes Nervensystem: Symptome, Behandlung und Wege zur inneren Balance

Das menschliche Nervensystem ist ein komplexes Netzwerk, das aus Milliarden von Nervenzellen besteht. Es gliedert sich in das zentrale Nervensystem (ZNS) und das periphere Nervensystem (PNS). Ein wichtiger Bestandteil des PNS ist das vegetative Nervensystem, auch autonomes Nervensystem genannt. Dieses steuert lebenswichtige Körperfunktionen, die wir nicht bewusst steuern können, wie Herzfrequenz, Blutdruck, Atmung, Verdauung, Stoffwechsel, Körpertemperatur und sexuelle Reaktionen. Wenn dieses System gestört ist, kann dies zu einer Vielzahl von Problemen führen, die oft unter dem Begriff vegetative Dystonie zusammengefasst werden.

Was ist eine vegetative Dystonie?

Eine vegetative Dystonie bedeutet wörtlich übersetzt eine "fehlregulierte Spannung des vegetativen Nervensystems". Dieses System koordiniert lebenswichtige Körperfunktionen, die sich willentlich kaum oder gar nicht beeinflussen lassen, wie Herzschlag, Atmung und Verdauung. Dementsprechend können unter dem Überbegriff vegetative Dystonie verschiedene Symptome zusammengefasst werden, von Herz-Kreislauf-Beschwerden und Kopfschmerzen bis hin zu zitternden Händen und Durchfall.

Während die Diagnose "vegetative Dystonie" in den 1950er-Jahren ein Massenphänomen war, wurde sie inzwischen teilweise von unterschiedlichen Synonymen abgelöst, wie neurovegetative Störung, vegetative Neurose und autonome Dysregulation. Wenn Patienten dauerhaft unter Symptomen leiden, für die sich keine körperlichen Ursachen finden lassen, sprechen Ärzte generell von somatoformen Störungen oder funktionellen Syndromen.

Es ist wichtig zu beachten, dass die vegetative Dystonie nicht mit der Dystonie verwechselt werden darf, einem Sammelbegriff für verschiedene Bewegungsstörungen wie schiefe Kopfhaltung oder Verkrampfungen in verschiedenen Körperregionen.

Das vegetative Nervensystem verstehen

Das vegetative Nervensystem, auch autonomes Nervensystem genannt, steuert alle automatisch ablaufenden Körperfunktionen. Es reguliert Blutdruck, aktiviert Schweißdrüsen und verengt bei grellem Licht die Pupillen. Im Gegensatz dazu ist das somatische Nervensystem aktiv, wenn wir uns bewusst zu einer Bewegung oder Wahrnehmung entscheiden. Die meiste Zeit arbeiten beide Systeme eng zusammen.

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Das vegetative Nervensystem wird in zwei funktionelle Gegenspieler unterteilt:

  • Sympathisches Nervensystem (Sympathikus): Aktiviert den Körper in Stresssituationen und steigert die körperliche Leistungsfähigkeit (Kampf- oder Fluchtmodus).
  • Parasympathisches Nervensystem (Parasympathikus): Setzt in Entspannungsphasen ein, senkt den Blutdruck, kurbelt den Stoffwechsel an, fördert die Verdauung und unterstützt die Regeneration des Körpers.

Gerät dieses Wechselspiel von Sympathikus und Parasympathikus aus dem Gleichgewicht, stört dies den Ablauf lebenswichtiger Prozesse. Fachleute sprechen dann von einer vegetativen Dystonie oder von somatoformen Störungen. Somatoforme oder funktionelle Störungen beschreiben Beschwerden, für die es keine organische Ursache gibt, was für die Betroffenen oft mit einem hohen Leidensdruck einhergeht.

Symptome eines dysregulierten Nervensystems

Ein dysreguliertes Nervensystem befindet sich oft im Alarmzustand und scannt ständig die Umgebung nach potenziellen Gefahren. Dies kann sich in einer Vielzahl von Symptomen äußern, darunter:

  • Emotionale Überforderung: Regelmäßige Überflutung von Emotionen, die die Kontrolle übernehmen.
  • Unsicherheit: Ein ständiges Gefühl der Unsicherheit, egal was man tut.
  • Energiemangel: Wenig Energie und das Gefühl, dass alles schwer und unüberwindbar ist.
  • Selbstablehnung: Ablehnung eigener Verhaltensweisen und Versuche, diese zu unterdrücken.
  • Vergangenheitsorientierung: Leben in der Vergangenheit oder Sorgen um die Zukunft, anstatt im Hier und Jetzt zu sein.
  • Mangelndes Selbstvertrauen: Schwierigkeiten, sich selbst und anderen zu vertrauen.
  • Ungesunde Beziehungen: Verstrickung in Beziehungen, die nicht guttun.
  • Konzentrationsschwierigkeiten: Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und das Gefühl, tausend Dinge auf einmal erledigen zu müssen.
  • Schlafstörungen: Einschlaf- und Durchschlafprobleme und ständige Anspannung.
  • Körperliche Entfremdung: Wenig Zugang zu den eigenen Gefühlen oder dem Körper.
  • Selbstsabotage: Ständige Selbstsabotage und pessimistische Einstellung.
  • Gefahrenwahrnehmung: Sehen von Gefahren oder Angriffen in vielen Dingen des Alltags.
  • Selbstschädigendes Verhalten: Zeigen von Formen selbstschädigenden Verhaltens.
  • Unvollständigkeit: Das Gefühl, dass etwas im Leben fehlt.
  • Unruhe und Ängste: Ständige Unruhe, Nervosität, Ängste und Panikattacken.

Es ist wichtig zu beachten, dass ein reguliertes Nervensystem nicht bedeutet, immer entspannt und positiv gestimmt zu sein. Auch ein reguliertes Nervensystem geht bei Stress und Gefahr in den Alarmmodus, was notwendig ist, um in Notfällen angemessen reagieren zu können. Der Unterschied besteht darin, dass ein reguliertes Nervensystem nach der Stresssituation wieder in einen Zustand der Entspannung und Sicherheit umschalten kann, ohne in der Überaktivierung stecken zu bleiben.

Symptome im Detail

Liegt eine Störung des vegetativen Nervensystems vor, kann sich diese auf unterschiedliche Weise äußern. Zu den häufigsten Symptomen gehören:

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  • Herzbeschwerden wie Herzstechen oder Herzklopfen/-rasen
  • Schwindel oder Ohnmacht beim Aufstehen
  • Übermäßiges Schwitzen oder mangelndes Schwitzen
  • Sexuelle Funktionsstörungen beim Mann
  • Probleme beim Entleeren der Blase
  • Verdauungsbeschwerden wie Verstopfung oder Durchfall inkl. Magenlähmung
  • Schluckbeschwerden

Die Vielfalt an unspezifischen Symptomen macht es oft schwierig, ein überreiztes Nervensystem unmittelbar zu erkennen. Daher ergibt sich das Krankheitsbild einer vegetativen Dystonie in der Regel über das Ausschlussverfahren anderer Erkrankungen. Grundsätzlich gilt: Wenn einzelne oder mehrere der genannten Symptome über einen längeren Zeitraum bestehen, sollten diese unbedingt ärztlich abgeklärt werden, um eine ernsthafte Erkrankung auszuschließen.

Ursachen und Risikofaktoren

Für eine vegetative Dystonie gibt es oft keine konkrete Ursache. Es können sowohl körperliche als auch psychische Faktoren eine Rolle spielen, nicht selten in Kombination. Zu den häufigsten körperlichen Ursachen zählt Diabetes mellitus (Typ 2), da die Stoffwechselerkrankung das autonome Nervensystem, einschließlich des Sympathikus, schädigen kann.

Ebenso kann die vegetative Dystonie durch neurologische Erkrankungen wie Parkinson oder Erkrankungen des peripheren Nervensystems ausgelöst werden. Seltener sind Verletzungen des Rückenmarks, Medikamente oder Virusinfektionen die Ursache für eine Funktionsstörung des vegetativen Nervensystems.

Da Körper und Psyche über das vegetative Nervensystem eng miteinander verbunden sind, können sich auch psychologische und soziale Faktoren wie Stress, Sorgen oder Überforderung auf das vegetative Nervensystem auswirken. Oftmals lösen die Beschwerden weitere Ängste bei den Betroffenen aus, da sie befürchten, es könne eine schwerwiegende Erkrankung zugrunde liegen, was die Symptome zusätzlich verschlimmern kann.

Weitere mögliche Ursachen und Risikofaktoren sind:

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  • Hormonelle Veränderungen (Wechseljahre, Schwangerschaft)
  • Stressreaktionen aus der Vergangenheit
  • Trauma und chronischer Stress
  • Suchtmittel
  • Ungesunde Ernährung und Lebensstil
  • Soziale Probleme und Veränderungen im Leben (Tod, Scheidung, Umzug usw.)
  • Biochemische Faktoren: Toxine, Schwermetalle, Luftverschmutzung, Bakterien, Viren, Parasiten, Duft- und Haushaltschemie, Plastik, Pestizide, Herbizide, Fungizide, Sulfate und Parabene.

Diagnose

Die vegetative Dystonie ist keine Diagnose im Sinne einer konkreten Krankheit, sondern umfasst ein uncharakteristisches Zustandsbild, bei dem offensichtlich verschiedene Funktionen des vegetativen Nervensystems gestört sind.

Zunächst erkundigt sich der Arzt nach der Krankengeschichte (Anamnese). Er fragt nach Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme, seit wann die Beschwerden bestehen, in welchen Situationen sie auftreten und ob es noch andere belastende Symptome gibt. Auch die jeweilige Lebenssituation sowie der Alkohol- und Drogenkonsum des Patienten liefern wichtige Hinweise.

Dann folgen verschiedene Untersuchungen, um mögliche körperliche Ursachen der Beschwerden abzuklären und auszuschließen:

  • Körperliche Untersuchung: Gibt bereits Aufschluss über manche Symptome.
  • Puls- und Blutdruckmessung: Besonders bei Kreislaufbeschwerden aufschlussreich.
  • Blutuntersuchung: Überprüft, ob Entzündungsprozesse im Körper stattfinden, ob Nährstoffmängel vorliegen oder ob ein Überschuss beziehungsweise Mangel an bestimmten Hormonen besteht.
  • Spezielle Untersuchungen: Je nach Symptomatik folgen spezielle Untersuchungen wie Elektrokardiografie (EKG), Stuhl- oder Urinuntersuchung sowie bildgebende Verfahren wie Ultraschall- und Röntgenuntersuchung.

Einen spezifischen Test auf vegetative Dystonie gibt es wegen der Vielzahl der mögliche Symptome nicht. Die Diagnose stellen Mediziner in der Regel dann, wenn keine körperlichen Ursachen zu finden sind.

Behandlungsmöglichkeiten

Je nach Ursache und Schweregrad der Störung kann eine vegetative Dystonie ernsthafte gesundheitliche Probleme verursachen, lässt sich aber in den meisten Fällen erfolgreich behandeln. Die Behandlung erfordert eine individuelle Herangehensweise, die sich an der eigentlichen Ursache und der Lebenssituation der Patienten orientiert.

Wenn kein Hinweis auf eine organische Ursache zugrunde liegt, zählen sowohl psycho- und physiotherapeutische Maßnahmen als auch der Einsatz bestimmter Medikamente zu den möglichen Behandlungsmethoden. Pflanzliche oder homöopathische Mittel können hierbei eine unterstützende Therapieoption sein, da sie eine gute Verträglichkeit bei geringem Gewöhnungspotenzial aufweisen.

Psychotherapie

Die vegetative Dystonie lässt sich am besten mit psychotherapeutischen Maßnahmen behandeln. Einige Psychotherapeuten sind auf somatoforme Störungen beziehungsweise vegetative Dystonie spezialisiert. Mit dieser Unterstützung lernen viele Betroffene, ihre Beschwerden besser einzuordnen und mit ihnen im Alltag umzugehen, zum Beispiel im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie.

Besonders hilfreich ist es, die Gründe und Gefühle aufzuarbeiten, die hinter den Symptomen stehen. Sind belastende Empfindungen wie Stress, Sorgen oder Trauer aus der Welt zu schaffen oder anders zu verarbeiten, bessern sich auf Dauer meist auch die körperlichen Beschwerden.

Medikamente

Medikamente sind in den meisten Fällen nicht notwendig, werden bei großem Leidensdruck aber eingesetzt, um die Symptome zu behandeln. Dazu gehören zum Beispiel Schmerzmedikamente sowie verschiedene moderne Antidepressiva. In der Regel behandelt der Arzt die vegetative Dystonie nicht dauerhaft, sondern nur vorübergehend mit Medikamenten.

Selbsthilfestrategien und Entspannungstechniken

Bei einer vegetativen Störung ist es wichtig, die Balance zwischen Körper und Psyche wiederherzustellen. Helfen können dabei verschiedene Entspannungsmethoden, eine ausgewogene Ernährung sowie eine gesunde Schlafroutine.

  • Entspannungsmethoden: Yoga, Meditation oder andere Achtsamkeitsübungen können helfen, das Stresslevel zu senken und das Nervensystem wieder zu beruhigen. Ebenso fördert regelmäßige Bewegung wie Ausdauertraining oder Krafttraining den Stressabbau.
  • Ausgewogene Ernährung: Vitaminmangel, insbesondere ein Mangel an Vitamin B12, kann die Funktion des Nervensystems beeinträchtigen. Eine ausgewogene Ernährung mit viel Obst, Gemüse, Vollkornprodukten und gesunden Fetten kann die Gesundheit des autonomen Nervensystems unterstützen. Um möglichen Beschwerden vorzubeugen, empfiehlt es sich außerdem, auf Alkohol und Koffein zu verzichten.
  • Ausreichend Schlaf: Ein gesunder Schlaf ist unerlässlich für die Stressbewältigung und Regeneration des Nervensystems.
  • Vagusnerv-Stimulation: Gezielte Übungen wie Atemtechniken, Kältereize oder Summen können den Vagusnerv aktivieren und den Körper beruhigen.
  • Soziale Interaktion: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen vermitteln dem Gehirn, dass die Welt ein sicherer Ort ist.

Verlauf und Prognose

Wie die vegetative Dystonie verläuft, hängt von verschiedenen Umständen ab. In der Regel ist die Prognose gut und schränkt die Lebenserwartung nicht ein. In vielen Fällen bessern sich die Symptome mit der Zeit wieder.

Bei Patienten mit einer sehr ängstlichen und negativen Sicht auf ihre Beschwerden, bei starkem Vermeidungsverhalten und parallelen psychischen Erkrankungen ist die Prognose schlechter. Auch starke psychosoziale Belastungen, die sich nicht auflösen lassen, können sich negativ auswirken.

Es ist wichtig zu betonen, dass es immer die Möglichkeit gibt, dass die vegetative Dystonie sich von selbst zurückentwickelt, auch wenn die Beschwerden zunächst nicht erfolgreich behandelt werden können.

Wege zur Regulation des Nervensystems

Um sich aus einer chronischen Dysregulation zu lösen und dem Nervensystem wieder beizubringen, flexibel zwischen verschiedenen Systemen wechseln zu können, ist es wichtig zu lernen, eine echte Gefahr von dem zu unterscheiden, was es überaktiviert, ohne dass eine echte Bedrohung des Lebens besteht.

Ein wichtiger Bestandteil ist es, sich wieder mit sich und den eigenen körperlichen Empfindungen zu verbinden. Wieder spüren zu lernen, wie sich verschiedene Situationen und Stressoren im Körper anfühlen, und diese Empfindungen anzunehmen, anstatt sie zu ignorieren oder gegen sie anzukämpfen. Mit etwas Übung lernt das System dann zunehmend, sich selbst zu regulieren, um mehr und mehr einen entspannteren Nervensystemzustand einzunehmen.

Je nachdem, wie lange das komplette System sich schon in der Dysregulation befindet, ist es wichtig, diesem Prozess genug Zeit zu geben! Ein zu schnelles Umgewöhnen führt dazu, dass das Nervensystem diesen Zustand nicht lange halten kann, wodurch wiederum Stress entsteht, der den Gefahrenmodus wieder aktiviert.

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