Die embryonale Entwicklung des Gehirns ist ein komplexer und faszinierender Prozess, der die Grundlage für unsere kognitiven Fähigkeiten, unser Verhalten und unsere Persönlichkeit legt. Störungen in dieser entscheidenden Phase können zu einer Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen führen, die sich entweder in der Kindheit oder im Erwachsenenalter manifestieren. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Aspekte der Gehirnentwicklung, von den frühesten Zellteilungen bis zur Reifung des Gehirns nach der Geburt.
Frühe Stadien der Embryonalentwicklung
Die Entwicklung des menschlichen Organismus beginnt mit der Befruchtung der Eizelle durch eine Samenzelle. Etwa 24 Stunden nach der Befruchtung vereinen sich die mütterlichen und väterlichen Chromosomen zur Erbanlage des neuen Individuums, und die erste Zellteilung beginnt. Die befruchtete Eizelle teilt sich in den folgenden Tagen mehrfach und bildet zunächst die Morula, einen Zellhaufen, der einer Maulbeere ähnelt. Aus der Morula entwickelt sich die Blastozyste, eine Hohlkugel, in der sich die Zellen in äußere und innere Zellen differenzieren. Der Embryo entsteht ausschließlich aus den innersten Zellen, dem Embryoblast, während die übrigen Zellen Hilfsorgane wie die Plazenta und die Eihäute bilden.
Drei bis vier Tage nach der Befruchtung wandert der Embryo den Eileiter hinunter, während sich die Zellen des Embryoblasten in die drei Keimblätter Endoderm, Mesoderm und Ektoderm falten. Aus dem Endoderm entstehen später die inneren Organe, aus dem Mesoderm Knochen, Muskeln und Bindegewebe. Das Ektoderm bildet die Haut und das zentrale Nervensystem, einschließlich des Gehirns, in einem Prozess namens Neurulation.
Die Neurulation und die Bildung des Neuralrohrs
Die Gehirnentwicklung beginnt etwa am 18. Tag der Embryonalentwicklung mit der Abschnürung des Neuralrohrs aus dem Ektoderm. Zu diesem Zeitpunkt bemerkt die Mutter möglicherweise gerade erst, dass sie schwanger ist. Im Ektoderm bildet sich zunächst eine Vertiefung, die sich kurz darauf abschnürt und das Neuralrohr bildet, den Vorläufer des Rückenmarks. Am vorderen Ende des Neuralrohrs entstehen drei Ausstülpungen, die als Hirnbläschen bezeichnet werden.
Der Embryo hat seine Wanderung in der Gebärmutterschleimhaut abgeschlossen und ist nun etwa zwei Millimeter groß. In den folgenden Tagen knickt der oberste Bereich des Neuralrohrs mit den Hirnbläschen leicht ab, und erste Ansätze der Hirnhälften werden erkennbar. Durch massive Zellwanderungen vergrößert sich dieser Bereich stark und unterscheidet sich immer deutlicher vom Rückenmark.
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Vier Wochen nach der Befruchtung bilden sich die Augenflecken, und das Herz beginnt zu schlagen. Nach sechs Wochen entstehen die Anlagen zu Hirnstrukturen wie Brücke und Kleinhirn, Thalamus, Basalganglien und Großhirnrinde. In der neunten Woche, wenn winzige Finger und Zehen bereits zu erkennen sind, beginnt das Rückenmark, erste Bewegungen zu steuern. Nach drei Monaten ist der Embryo, der nun Fetus genannt wird, zwölf Zentimeter groß und hat gut ausgebildete Strukturen im Mittel- und Hinterhirn, aber seine Großhirnrinde ist noch glatt und undifferenziert.
Die Rolle der radialen Gliazellen
Bei der Entwicklung des Gehirns spielen radiale Gliazellen eine entscheidende Rolle. Diese entstehen zu Beginn der Neurogenese aus den Epithelzellen des Neuralrohrs. Als Progenitorzellen stehen sie zwischen den Stammzellen und den ausdifferenzierten Zellen und können einige, aber nicht alle Zellarten hervorbringen.
Ein Teil der radialen Gliazellen erzeugt andere Arten von Gliazellen, darunter die Oligodendrozyten, die Isolierhüllen der Axone bilden, und die Astrozyten, die als Wegweiser und später als Ernährer der Neuronen fungieren. Ein anderer Teil generiert bei der Teilung die Neuronen selbst. Im späten Entwicklungsstadium des Embryos und nach der Geburt haben sich die meisten radialen Gliazellen zu anderen Zellformen ausdifferenziert.
Neuronale Migration und Spezialisierung
Junge Neuronen entstehen aus Stammzellen in einer Gewebeschicht des Neuralrohrs. Während der Schwangerschaft werden durchschnittlich 250.000 neue Neuronen pro Minute gebildet. Diese Neuronen wandern an ihre Zielorte im Gehirn und spezialisieren sich bereits während dieser Wanderung für ihre jeweilige Aufgabe, z. B. als Sehzellen oder Riechzellen. Ihre Aufgabe hängt von ihrer Entstehungszeit und von chemischen Faktoren in ihrer Umgebung ab.
Zuerst entstehen die inneren Schichten des Großhirns. Jüngere Zellen wandern an den älteren vorbei und bilden die weiter außenliegende Schicht. Dabei nutzen sie radiale Gliazellen als eine Art Geländer, an dem sie sich entlanghangeln.
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Axonwachstum und Synapsenbildung
Sobald ein Neuron seinen Platz erreicht hat, muss es sich mit seiner Zielregion verbinden. Wenn sich ein Neuron beispielsweise in der Netzhaut des Auges befindet, muss es an das Sehzentrum im Thalamus andocken. Dazu streckt es einen Neuriten aus, an dessen Spitze ein Wachstumskegel sitzt. Der Wachstumskegel bahnt dem Neuriten, etwa einem Axon, den Weg durch das dichte Gewebe, manchmal sogar bis in die andere Hälfte des Gehirns.
Die Richtung, in die der Wachstumskegel wächst, wird durch anziehende und abstoßende Stoffe auf den Oberflächen der umgebenden Zellen sowie durch Wachstumsfaktoren beeinflusst. Wachstumsfaktoren sind kleine Proteine, die von den Zielregionen der Neuriten ausgesandt werden und die der Wachstumskegel mit Rezeptoren auf seinen zahlreichen Tentakeln wahrnehmen kann.
Hat der Wachstumskegel sein Ziel erreicht, muss der Zellkern darüber informiert werden, dass der Neurit angekommen ist. Dazu muss der Wachstumsfaktor rückwärts durch den Neuriten in den Zellkörper befördert werden. Dort angekommen, löst er eine Signalkaskade aus, die im Zellkern dazu führt, dass Gene für den Fortbestand des Neurons aktiviert werden. Bleibt dieses Signal aus, fällt das Neuron in Apoptose, das heißt, es begeht Selbstmord.
Synaptische Plastizität und neuronale Konkurrenz
Die massenhafte Produktion von Neuronen im Gehirn des Embryos führt dazu, dass es zeitweise viel zu viele Neurone gibt. Diese konkurrieren miteinander, und nur die mit den stabilsten Verbindungen bleiben bestehen. Bis zu 80 Prozent der Neurone werden wieder abgebaut. Ein Großteil der erfolgreichen Axone wird später von Oligodendrozyten umkleidet. Diese Myelinisierung beginnt in den ältesten Strukturen des Gehirns, dem Hirnstamm, und setzt sich bis in die jüngsten fort. Sie isoliert die Axone von den Vorgängen in ihrer Umgebung und ermöglicht eine bis zu hundert Mal schnellere Weiterleitung der elektrischen Impulse, mit denen die Zellen kommunizieren.
Gehirnentwicklung nach der Geburt
Das Gehirn ist bei der Geburt des Kindes keineswegs fertig. Die Geburt ist vielmehr der Startschuss zu einem enormen Wachstumsschub. Im ersten Lebensjahr wächst das Gehirn um das Dreifache, und der Kopf erreicht drei Viertel seiner erwachsenen Größe. Dieser Wachstumsschub beruht zum Teil auf der Entstehung neuer Neuronen und zum Teil darauf, dass die Nervenfasern durch die Myelinisierung dicker werden und die Neurone zahlreiche Synapsen zu ihren Nachbarn aufbauen.
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Dieser Aufbau von Synapsen geschieht zunächst einmal rasant und wahllos. Mit drei Jahren haben Kinder doppelt so viele Synapsen wie Erwachsene. Im Laufe der Zeit werden jedoch nur die aktivsten Synapsen erhalten, während die anderen abgebaut werden (synaptic pruning). Dieser Prozess dauert bei Wirbeltieren bis zum Einsetzen der Pubertät an und führt dazu, dass die kognitiven Prozesse effizienter funktionieren.
Der Einfluss von Umweltfaktoren
Der Aufbau des menschlichen Gehirns ist nur in groben Zügen genetisch vorgegeben. Seine Feinstruktur ist das Ergebnis eines komplexen Organisationsprozesses, bei dem auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Dazu gehören die Ernährung der Mutter und eventuelle Erkrankungen oder Kontakte mit Giftstoffen.
Schon im Mutterleib nimmt das Gehirn des Ungeborenen Informationen auf. So geht man davon aus, dass durch das Wahrnehmen der Sprache der Eltern das Erlernen der Muttersprache schon vor der Geburt geprägt wird. Nach der Geburt spielen Erfahrungen und Lernprozesse eine entscheidende Rolle bei der weiteren Entwicklung des Gehirns.
Neurotransmitter und Gehirnentwicklung
Einige Botenstoffe im Gehirn entscheiden nicht nur über unsere Stimmungslage, Gedächtnisleistung oder Bewegungskoordination, sondern sind auch an der Bildung des Gehirns während der Embryonalentwicklung beteiligt. Diese speziellen Neurotransmitter kontrollieren die Wanderung der Nervenzellen und können ihre Geschwindigkeit beeinflussen.
Neurotransmitter beeinflussen die Geschwindigkeit, aber nicht die Richtung der neuronalen Migration. Einige Neurotransmitter wirken nur in bestimmten Bereichen des Klein- und Hinterhirns und sind entweder als Beschleuniger oder Bremser aktiv.
Störungen der Gehirnentwicklung
Störungen der embryonalen Gehirnentwicklung können zu einer Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen führen, die sich entweder in der Kindheit oder im Erwachsenenalter manifestieren. So haben beispielsweise manche bekannte Erkrankungsgene oder Risikogene für die Schizophrenie oder den Morbus Parkinson bereits eine Funktion in der Gehirnentwicklung.
Kleine Fehler in der Entwicklung können die Verletzlichkeit des Gehirns für Erkrankungen im Erwachsenenalter festlegen, die dann zutage treten, wenn weitere Faktoren wie Alterung hinzukommen. Störungen in der Nervenzell-Migration können zu schweren neurologischen Erkrankungen und psychischen Beeinträchtigungen führen.
Forschung und regenerative Medizin
Die Erforschung der embryonalen Gehirnentwicklung ist von entscheidender Bedeutung für das Verständnis der Entstehung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen und für die Entwicklung neuer Therapieansätze. Die Fähigkeit, Zellen umzuprogrammieren, birgt große Chancen für die regenerative Medizin.
In den letzten Jahren haben Forschende vor allem mit embryonalen Stammzellen und mit sogenannten induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) gearbeitet. Letztere können aus jeder unserer ausgereiften Zellen erzeugt werden, so dass die ethischen Bedenken, die sich bei der Verwendung menschlicher Embryonen ergeben, entfallen.
Die Umprogrammierung von Zellen zu Beginn des Lebens ist äußerst effizient. Wenn es gelingen sollte, die Fähigkeit des Embryos zur Umprogrammierung nachzuahmen, birgt dies bahnbrechende Möglichkeiten für Zellersatztherapien und Methoden der regenerativen Medizin.
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