Unser Gehirn, die komplexeste Struktur, die wir kennen, besteht aus rund 86 Milliarden Nervenzellen, die durch Billionen von Synapsen in einem einzigartigen Muster verbunden sind. Die Entwicklung dieses Organs erstreckt sich über Jahre.
Frühe Phasen der Gehirnentwicklung
Die Entwicklung des Gehirns beginnt früh in der Embryonalentwicklung.
Zellteilung und frühe Embryonalentwicklung
Der Organismus beginnt seine Entwicklung mit zahlreichen Zellteilungen. Aus der befruchteten Eizelle entsteht zunächst die Morula, ein Zellhaufen, der an eine Maulbeere erinnert. Anschließend bildet sich die Blastula, in der sich die Zellen zusammenfinden, die später den Embryo bilden.
- Morula: Ein Zellball aus etwa 30 Zellen, der 96 Stunden nach der Befruchtung entsteht.
- Blastozyste: Eine Hohlkugel, die sich drei bis vier Tage nach der Befruchtung aus der Morula entwickelt. Ein kleiner Haufen innerer Zellen, der Embryoblast, bildet sich an einer Stelle dieser Kugel.
Neurulation und Neuralrohrbildung
Die eigentliche Gehirnentwicklung beginnt etwa am 18. Tag der Embryonalentwicklung mit der Abschnürung des Neuralrohrs aus dem Ektoderm. Das Neuralrohr ist der Vorläufer des Rückenmarks und des Gehirns. Am vorderen Ende des Neuralrohrs bilden sich drei Ausstülpungen, die als Hirnbläschen bezeichnet werden. Zu diesem Zeitpunkt ist der Embryo etwa zwei Millimeter groß.
Entwicklung der Hirnstrukturen
In den folgenden Wochen differenzieren sich die Hirnbläschen weiter aus.
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- Vierte Woche: Die Augenflecken bilden sich, und das Herz beginnt zu schlagen.
- Sechste Woche: Die Anlagen für wichtige Hirnstrukturen wie Brücke und Kleinhirn, Thalamus, Basalganglien und Großhirnrinde entstehen.
- Neunte Woche: Das Rückenmark beginnt, erste Bewegungen zu steuern.
- Drei Monate: Der Fötus ist etwa zwölf Zentimeter groß und hat gut ausgebildete Strukturen im Mittel- und Hinterhirn, aber die Großhirnrinde ist noch glatt und undifferenziert.
- 24. Woche: Die typischen Furchen des Großhirns bilden sich erstmals. Dieser Prozess setzt sich auch nach der Geburt bis etwa zum ersten Geburtstag fort.
Zellwanderung und Spezialisierung
Junge Neuronen entstehen aus Stammzellen in einer Gewebeschicht des Neuralrohrs. Von dort wandern sie an ihre Zielorte im Gehirn und beginnen bereits während dieser Wanderung, sich für ihre spezifischen Aufgaben zu spezialisieren. Die Entstehungszeit und die chemischen Faktoren in ihrer Umgebung bestimmen ihre Aufgabe. Zuerst entstehen die inneren Schichten des Großhirns, während jüngere Zellen an den älteren vorbeiziehen, um die weiter außenliegende Schicht zu bilden. Dieser Prozess wird durch radiale Gliazellen unterstützt, die als eine Art Geländer dienen, an dem sich die Neuronen entlanghangeln.
Neuronale Verbindungen und Synapsenbildung
Ist ein Neuron an seinem Platz angekommen, muss es sich mit seiner Zielregion verbinden. Es streckt einen Neuriten aus, an dessen Spitze ein Wachstumskegel sitzt. Dieser Wachstumskegel bahnt dem Neuriten den Weg durch das dichte Gewebe, wobei anziehende und abstoßende Stoffe auf den Oberflächen der umgebenden Zellen sowie Wachstumsfaktoren die Richtung bestimmen.
Überlebensfaktoren und Apoptose
Hat der Wachstumskegel sein Ziel erreicht, muss der Zellkern darüber informiert werden, damit die Gene für den Fortbestand des Neurons aktiviert werden. Bleibt dieses Signal aus, fällt das Neuron in Apoptose und begeht Selbstmord. Die massenhafte Produktion von Neuronen im Gehirn des Embryos führt dazu, dass zeitweise zu viele Neuronen vorhanden sind. Sie konkurrieren miteinander, und nur die mit den stabilsten Verbindungen bleiben bestehen. Bis zu 80 Prozent der Neuronen werden wieder abgebaut.
Einfluss von Umweltfaktoren
Der Aufbau des menschlichen Gehirns ist nur in groben Zügen genetisch vorgegeben. Seine Feinstruktur ist das Ergebnis eines komplexen Organisationsprozesses, bei dem auch Umweltfaktoren eine Rolle spielen. Dazu gehören die Ernährung der Mutter und eventuelle Erkrankungen oder Kontakte mit Giftstoffen.
Ernährung und gesunde Entwicklung
Wie die Schwangere, so die Kinder: Eine gesunde Ernährung im ersten Lebensjahr kann die Gehirnentwicklung positiv beeinflussen. Das Gehirn spielt eine zentrale Rolle bei allen körperlichen, kognitiven und emotionalen Prozessen eines Menschen.
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Nährstoffe und Gehirnwachstum
Dieses rasante Wachstum des Gehirns, die unzähligen, täglichen Eindrücke, die das Baby verarbeiten muss, und die nahezu pausenlose Bildung von Synapsen erfordern eine hohe Dosis spezifischer Nährstoffe und viel Energie. Langkettige, mehrfach ungesättigte Fettsäuren (LCP), Eisen und Cholin spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Gehirns. Nicht nur in der Schwangerschaft, sondern auch in der Stillzeit kann der Genuss von fettreichem Meeresfisch wie Lachs, Hering oder Makrele die Gehirnentwicklung des Kindes positiv beeinflussen, da diese Lebensmittel viel DHA (Docosahexaensäure) enthalten, einen wichtigen Baustein für die optimale Entwicklung von Gehirn und Sehvermögen.
Entwicklung im Mutterleib
Bereits im Mutterleib nimmt das Gehirn des Ungeborenen Informationen auf. Es wird angenommen, dass durch das Wahrnehmen der Sprache der Eltern das Erlernen der Muttersprache schon vor der Geburt geprägt wird.
Sensibilität und äußere Einflüsse
Während der gesamten Schwangerschaft sind die neuronalen Strukturen äußerst empfindlich und damit anfällig gegenüber äußeren Einflüssen. Alkoholkonsum, Rauchen, Strahlung, Jodmangel und bestimmte Erkrankungen der Mutter, wie beispielsweise Infektionskrankheiten, können zu einer Schädigung des sich entwickelnden Nervensystems führen. Auch Medikamente sollten nur nach Absprache mit dem Arzt eingenommen werden, um eventuelle negative Auswirkungen auf den Embryo zu verhindern.
Aufnahme von Informationen
Schon im Mutterleib nimmt das Gehirn des Ungeborenen Informationen auf. So geht man davon aus, dass durch das Wahrnehmen der Sprache der Eltern das Erlernen der Muttersprache schon vor der Geburt geprägt wird.
Entwicklung nach der Geburt
Mit der Geburt ist die Entwicklung von Gehirn und Nervensystem noch lange nicht abgeschlossen. Zwar sind zu diesem Zeitpunkt bereits die große Mehrheit der Neuronen, etwa 100 Milliarden, im Gehirn vorhanden, sein Gewicht beträgt dennoch nur etwa ein Viertel von dem eines Erwachsenen.
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Wachstum und Vernetzung
Die Gewichts- und Größenzunahme des Gehirns im Laufe der Zeit beruht auf der enormen Zunahme der Verbindungen zwischen den Nervenzellen und darauf, dass die Dicke eines Teils der Nervenfasern zunimmt. Das Dickenwachstum ist auf eine Ummantelung der Fasern zurückzuführen. Dadurch erhalten sie die Fähigkeit, Nervensignale mit hoher Geschwindigkeit fortzuleiten.
Reflexe und frühe Fähigkeiten
Beim Säugling stehen zunächst Reflexe im Vordergrund. Dabei werden körpereigene Signale und Umweltreize bereits auf der Ebene des Rückenmarks und des Nachhirns in Äußerungen und Reaktionen umgesetzt. In dieser Phase dient der ganze Körper des Säuglings dazu, grundlegende Bedürfnisse und Empfindungen wie Hunger, Angst und Unwohlsein zum Ausdruck zu bringen. Nach 6 Monaten hat sich das Gehirn soweit entwickelt, dass Babys lernen, Oberkörper und Gliedmaßen zu kontrollieren.
Myelinisierung und Synapsenbildung
Im Alter von 2 Jahren haben die meisten Nervenfasern von Rückenmark, Nachhirn und Kleinhirn ihre endgültige Dicke erreicht und damit ihre Ummantelung abgeschlossen. Sie können nun Nervensignale mit hoher Geschwindigkeit hin und her schicken. Im Gehirn nimmt die Anzahl der Verbindungen zwischen den Nervenzellen, die Synapsen, in den ersten 3 Lebensjahren rasant zu. In dieser Zeit entsteht das hochkomplexe neuronale Netz, in dem jede Nervenzelle mit Tausenden anderer Neurone verbunden ist. Mit 2 Jahren haben Kleinkinder so viele Synapsen wie Erwachsene und mit 3 Jahren sogar doppelt so viele. Diese Zahl bleibt dann etwa bis zum zehnten Lebensjahr konstant.
Synaptische Reduktion und Optimierung
In den darauffolgenden Jahren verringert sich die Zahl der Synapsen wieder um die Hälfte. Ab dem Jugendalter treten bei der Zahl der Synapsen keine größeren Veränderungen mehr auf. Die große Zahl der Synapsen bei 2- bis 10-Jährigen ist ein Zeichen für die enorme Anpassungs- und Lernfähigkeit der Kinder in diesem Alter. Art und Anzahl der sich formenden und bestehen bleibenden Synapsen hängen mit speziellen erlernten Fertigkeiten zusammen. Bei der weiteren Entwicklung des Gehirns treten dann andere Dinge in den Vordergrund. Die wenig benutzten und offenbar nicht benötigten Verbindungsstellen werden abgebaut, die anderen Nervenfasern zwischen den Neuronen dagegen intensiver genutzt. Das ist der Grund für den Abbau der Synapsen ab dem 10. Lebensjahr um die Hälfte.
Gedächtnis und kognitive Entwicklung
Bereits Babys besitzen die Fähigkeit sich zu erinnern. Allerdings bleiben Erlebnisse bei 6 Monate alten Säuglingen lediglich 24 Stunden im Gedächtnis. Sind sie 9 Monate alt, steigt das Erinnerungsvermögen auf 1 Monat an. In den nächsten Monaten und Jahren nehmen diese Erinnerungszeiträume weiter zu. Die Entwicklung eines Langzeitgedächtnisses, das uns erlaubt, Erlebnisse und Erfahrungen, die Jahre zurückliegen, zu erinnern, dauert aber noch einige Zeit. Deshalb gibt es an die ersten drei bis vier Lebensjahre keine Erinnerung und meist nur wenige an das 5. und 6. Lebensjahr.
Logisches Denken und soziale Fähigkeiten
Mit etwa 6 Jahren setzen weitere wichtige Prozesse ein. Im vorderen Bereich der Großhirnrinde entwickelt sich zunehmend die Fähigkeit zu logischem Denken, Rechnen und „vernünftigem“ bzw. sozialem Verhalten, das sich an Erfahrungen orientiert. Auch die sprachlichen Fähigkeiten und das räumliche Vorstellungsvermögen, für die der hintere Bereich der Großhirnrinde zuständig ist, werden besser.
Optimierung des Gehirns
Ab dem 10. Lebensjahr wird das Gehirn dann optimiert. Nur die Nervenverbindungen bleiben erhalten, die häufig gebraucht werden, die übrigen verschwinden. Im weiteren Verlauf des Lebens kann die komplexe Struktur des fertig entwickelten Gehirns in gewissen Grenzen umgebaut und umfunktioniert werden. Sterben Nervenzellen durch Alterungsprozesse, Erkrankungen oder andere Einflüsse ab oder sind sie in ihrer Funktion gestört, können häufig andere Bereiche des Gehirns ihre Aufgabe zumindest teilweise übernehmen.
Gehirnstruktur und Funktionen
Das Gehirn hat ein mittleres Gewicht von 1.245 g bei Frauen und von 1.375 g bei Männern.
Großhirn
Den meisten Platz nimmt das Großhirn ein, das aus zwei Hälften (Hemisphären) besteht, die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind. In der linken Hirnhälfte sind z.B. Sprache, Denkprozesse, Mathematik und Logik verankert, in der rechten Hemisphäre visuell-räumliche Wahrnehmung, Gefühle, Kreativität, Fantasie, Kunst und Musik. Der Stirnlappen umfasst etwa 25% der Gehirnmasse. Er ist zuständig für die Kontrolle der Motorik inklusive des Sprechens. Auch findet hier die grammatikalische Verarbeitung der Sprache statt (Broca Areal). Der Stirnlappen "enthält" das Bewusstsein; in ihm werden Gedanken, Gefühle und Stimmungen wahrgenommen. Ferner laufen im Stirnlappen kognitive Prozesse wie Konzentrieren, Denken, Planen, Urteilen und Entscheiden ab; hier befindet sich das Kurzzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis. Außerdem ist der Stirnlappen Sitz des Willens und der Persönlichkeit.
Scheitellappen
Der Scheitellappen ist zuständig für selektive Aufmerksamkeit, die Integration sensorischer Informationen, die räumliche Orientierung und die visuelle Steuerung von Bewegungen. Hier haben räumliches Denken, Geometrie, Rechnen und Lesen ihren Platz.
Schläfenlappen
Der Schläfenlappen ist verantwortlich für das Hören und das Wortverständnis, aber auch für Musik und andere auditive Informationen. Hier ist das Sprach- bzw. lexikalische Wissen zu finden (Wernicke-Zentrum).
Insellappen
Der Insellappen, der kleinste Abschnitt des Großhirns, ist für das Riechen und Schmecken zuständig. Hier werden Körperempfindungen wie Hunger, Durst, Schmerz oder Blasendruck wahrgenommen, aber auch andere Gefühle. Prinzipiell werden in den Hirnlappen primäre und sekundäre Assoziationsareale unterschieden. Von den primären Arealen gehen direkte Nervenverbindungen zu den Sinnesorganen. Die sekundären Assoziationsareale sind über Parallelfasern untereinander verknüpft und speichern das unbewusst oder bewusst erlernte Wissen.
Kleinhirn
Der nach dem Großhirn zweitgrößte Bereich des Gehirns ist das Kleinhirn, das ebenfalls aus zwei Hemisphären besteht. Es steuert unbewusst die Muskulatur und hält den Körper im Gleichgewicht. Ferner bekommt es über die Brücke willkürliche Bewegungsimpulse aus dem Großhirn und koordiniert die jeweiligen Bewegungen. Außerdem hat das Kleinhirn die Aufgabe, automatisierte Bewegungsabläufe wie z.B.
Zwischenhirn
Das Zwischenhirn umfasst unter anderem den Thalamus und den Hypothalamus. Der Thalamus empfängt zunächst die Wahrnehmungen der Sinnesorgane sowie Empfindungen aus dem Körper. Es erfolgt dann eine primitive Informationsverarbeitung, wobei der Thalamus als Filter fungiert und z.B. anhand von Situationen wie Schlaf oder Nahrungszunahme entscheidet, welche Informationen an das Großhirn weitergeleitet werden sollen. Deshalb wird er oft als "Tor zum Bewusstsein" bezeichnet. Zugleich wird das Großhirn vor Überlastung geschützt. Der Hypothalamus ist das wichtigste Steuerzentrum des vegetativen Nervensystems. Er kontrolliert lebenswichtige Funktionen wie Körpertemperatur, Blutdruck, Nahrungs- und Wasseraufnahme, Schlaf und Geschlechtstrieb.
Hirnstamm
Der Hirnstamm bzw. das Stammhirn ist der entwicklungsgeschichtlich älteste Bereich unseres Gehirns. Der Hirnstamm umfasst das Mittelhirn, die bereits erwähnte Brücke und das verlängerte Rückenmark (Nachhirn). Das Mittelhirn ist eine Umschaltstelle, die Nervenerregungen über das Zwischenhirn an das Großhirn weiterleitet oder auf motorische Nervenzellen umlenkt. Ferner steuert es die meisten Gesichts- und Augenmuskeln. Die Brücke ist ebenfalls eine Umschaltstation, insbesondere für Erregungen, die zwischen den beiden Hälften des Großhirns bzw. des Kleinhirns verlaufen. Das verlängerte Mark steuert grundlegende und überlebenswichtige Funktionen wie Herzfrequenz, Atmung und Blutkreislauf.
Neuronale Kommunikation
Das Gehirn besteht aus rund 100 Milliarden Nervenzellen (Neuronen), die über 100 Billionen Synapsen (Kontaktstellen) mit anderen Neuronen kommunizieren. Somit ist eine Nervenzelle im Durchschnitt mit 1.000 anderen Neuronen verbunden. Dazu hat jede Nervenzelle ein Axon, das zwischen Bruchteilen eines Millimeters und mehr als einem Meter lang sein kann, und Dendriten, die sie mit vielen anderen Neuronen verbinden. Während ein Neuron seinen Input über die Dendriten erhält, leitet es nach Verarbeitung desselben seinen Output über das Axon weiter. Innerhalb der Nervenzelle geschieht dies durch elektrische Signale. Zwischen den Neuronen erfolgt die Kommunikation hingegen durch den Austausch von Neurotransmittern, d.h. von komplexen Aminosäuren wie Serotonin, Endorphin, Dopamin, Adrenalin usw. Diese werden am Ende eines Axons - also an einer seiner vielen Synapsen - freigesetzt, überqueren den synaptischen Spalt und werden dann von den Rezeptoren der Synapse eines Dendrits aufgenommen und wieder in einen elektrischen Impuls umgewandelt. Sobald der Neurotransmitter seine Aufgabe erledigt hat, sorgen Enzyme im synaptischen Spalt für die Trennung von Transmitter und Rezeptor. Eher selten werden zwischen den Synapsen auch Ionen ausgetauscht, also elektrisch positiv bzw. negativ geladene Atome oder Moleküle. Die meisten elektrischen Signale laufen somit innerhalb der Neuronen ab.
Gliazellen
Neuronen machen aber nur die Hälfte der Masse des Gehirns aus. Die andere Hälfte umfasst die sehr viel kleineren Gliazellen - ihre Zahl ist etwa 10-mal höher als die der Nervenzellen. Gliazellen bilden ein Stützgerüst für die Neuronen und sind am Stoff- und Flüssigkeitstransport im Gehirn beteiligt. Sie umhüllen die Axone segmentweise mit einer Myelinschicht, wobei kleine Bereiche, sogenannte Ranviersche Schnürringe, zwischen jeweils zwei Segmenten unbedeckt bleiben. Diese Myelinschicht sorgt für die elektrische Isolation der Nervenzellen. Nach neuesten Erkenntnissen sind Gliazellen auch an der Informationsverarbeitung, am Lernen und an höheren Denkprozessen beteiligt. Sie kommunizieren mit den Nervenzellen, reagieren aber genauso auf deren elektrische Aktivität.
Informationsverarbeitung
In jedem Augenblick strömt eine Unmenge an Eindrücken und Wahrnehmungen aus dem Körper und über die Sinne zum Gehirn. Die Impulse werden in viele kleine Einzelteile zerlegt, die in spezialisierten Teilregionen des Gehirns verarbeitet werden - den bereits erwähnten primären Assoziationsarealen. Die von dort ausgehenden "Botschaften" werden in größeren Bereichen des Gehirns interpretiert und miteinander verknüpft, also in den sekundären Assoziationsarealen. An dieser Weiterverarbeitung sind vielfach auch Gedächtnisprozesse beteiligt: Erkennen ist vor allem Wiedererkennen von Gleichem und Ähnlichem. Ferner werden mit Hilfe des Gedächtnisses unvollständige Eindrücke ergänzt. Insbesondere an hochkomplexen Abläufen sind somit viele Bereiche des Gehirns beteiligt.
Gedächtnisprozesse
Natürlich können nicht alle Eindrücke und Wahrnehmungen, Lernerfahrungen und Informationen im Gehirn gespeichert werden. Vielmehr wird ausgewählt: Das Gehirn ignoriert bereits Bekanntes, unterscheidet Wichtiges von Unwichtigem, bildet Kategorien, Muster und Hierarchien, ordnet Ereignisse in sinnvollen Sequenzen, stellt Beziehungen zu anderen Daten her, fügt neu Gelerntes in bereits abgespeichertes Wissen ein. Eindrücke und Informationen werden leichter behalten, wenn sie mit Emotionen verknüpft sind, wenn sie neuartig, ungewöhnlich und besonders interessant wirken, wenn sie leicht in die vorhandenen Gedächtnisinhalte integriert werden können und wenn ein Lebens- bzw. Alltagsbezug gegeben ist. Sind Informationen, Lernprozesse, Erinnerungen emotional bedeutsam, werden Botenstoffe wie Dopamin und Acetylcholin ausgeschüttet, verstärken die Aufmerksamkeit und intensivieren die Gedächtnisleistung. Emotional bedeutsames Wissen wird (bei Rechtshändern) in der rechten Gehirnhälfte, neutrales Fakten- und Weltwissen in der linken Hemisphäre gespeichert. Schlafen und Träumen helfen, Gedächtnisinhalte zu festigen - so wiederholt und verarbeitet das Gehirn in den REM-Phasen äußerst aktiv Eindrücke des Tages. Babys, Ein- und Zweijährige müssen auch während des Tages einmal oder öfters schlafen, da sie - vielleicht auch wegen der intensiven Aktivität in ihrem Gehirn - leicht ermüden. Sogar jeder fünfte Fünfjährige benötigt eigentlich noch ein "Nickerchen" um die Mittagszeit herum, ansonsten reagiert er am Nachmittag oft schläfrig, weinerlich oder gereizt.
Lernen und neuronale Bahnen
Im Gehirn schlagen sich Denken und Lernen auf verschiedene Weise nieder: Bei jeder Interaktion zwischen (Klein-) Kind und Umwelt reagieren zunächst Tausende von Gehirnzellen. Bestehende Verbindungen zwischen ihnen werden intensiviert, neue ausgebildet. Treten nun wiederholt ähnliche Eindrücke, Wahrnehmungen und Erfahrungen auf, schleifen sich bestimmte Bahnen ein. Das heißt, ähnliche Signale folgen immer häufiger demselben Weg, der durch bestimmte, bei wiederholter Stimulierung stärker werdende chemische Signale in den Synapsen zwischen den Neuronen markiert wird. Die zuvor benutzten Verbindungen - und die an ihnen beteiligten Neuronen - verlieren an Bedeutung; viele der kaum oder überhaupt nicht benutzten Nervenzellen werden abgebaut (neuraler Darwinismus). Die entlang der sich einschleifenden Bahnen liegenden Neuronen werden hingegen immer größer, d.h., sie bilden weitere Dendriten aus, die zudem länger werden und zu mehr Nervenzellen führen. Zugleich wird das Gehirn auf eine bestimmte Weise organisiert - je nachdem, für welche Arten von Lernprozessen Neuronen und Nervenbahnen besonders oft aktiviert werden. Die Veränderungen in seiner Struktur können sogar stark ausgeprägt sein, wenn bestimmte Lernerfahrungen sehr häufig gemacht werden: Beispielsweise ist bei Taxifahrern die Gehirnregion für das Ortsgedächtnis größer, wird bei tauben Menschen ein Bereich im Gehirn für die Gebärdensprache abgegrenzt.
Frühe Gehirnentwicklung im Detail
In der dritten Woche nach der Empfängnis faltet sich die dünne Zellschicht des Ektoderms einwärts zu einem flüssigkeitsgefüllten Zylinder, dem so genannten Neuralrohr, und verschließt diesen etwas später. Aus dem Neuralrohr entstehen das Gehirn und das Rückenmark. In ihm wandern die in einem rasanten Tempo entstehenden Nervenzellen zu ihrem jeweiligen Bestimmungsort, wobei sie sich an radial ausgerichteten Gliazellen orientieren. An ihrem Bestimmungsort stellen sie sich dann in Reihen und Schichten auf. So entstehen in der 4. bis 6. Lebenswoche Verdickungen, die drei Hirnbläschen, aus denen sich die Gehirnabschnitte entwickeln. Zugleich verteilen sich Neuronen längs des Neuralrohrs, verästeln sich im übrigen Embryo und bilden so langsam das zentrale Nervensystem aus. In der 10. In den kommenden Lebenswochen werden weiterhin neue Neuronen - etwa 250.000 pro Minute - in der Mitte des Gehirns produziert und wandern von dort zu ihrem Bestimmungsort. Eine Unmenge von Nervenzellen wird aber auch wieder abgebaut. Bis zur 15. Lebenswoche bilden sich Klein- und Mittelhirn sowie der Balken aus. Die beiden Großhirnhälften wachsen rasant (vor allem nach hinten), verdicken sich nach außen und bilden die ersten Furchen aus. Haben die meisten Nervenzellen ihre endgültige Position erreicht, sind alle wichtigen Gehirnstrukturen ausgebildet. Erst dann bilden die Neuronen Axone und Dendriten aus, wobei an der Entstehung der Synapsen Gliazellen beteiligt sind. Eine weitere wichtige Entwicklung im frühkindlichen Gehirnwachstum ist die Ausbildung der Myelinscheide, welche die Axone isoliert.
Sensorische Entwicklung im Mutterleib
Schon im Mutterleib nimmt das Gehirn Informationen auf und verarbeitet diese. Beispielsweise reagiert der Fötus ab der 19. Woche auf Schmerz; ein Schmerzbewusstsein tritt rudimentär aber erst nach der 28. Woche auf. Der Fötus kann ab der 26. Woche hören, ab der 29. Woche schmecken und ab der 32. Woche sehen; dann können auch Schlafphasen inklusive REM-Schlaf beobachtet werden. Um diese Zeit herum bildet sich eine Art Kurzzeitgedächtnis aus, in dem z.B. wiederkehrende, zunächst erschreckende Töne abgespeichert werden. Dann scheint es auch schon ein rudimentäres Bewusstsein zu geben. Ab der 35.
Gehirn bei der Geburt
Bei der Geburt enthält das Gehirn eines Säuglings rund 100 Milliarden Neuronen, die gleiche Anzahl wie beim Erwachsenen. Die Nervenzellen des Neugeborenen sind aber noch nicht voll ausgebildet und wenig vernetzt. Ein Neuron hat durchschnittlich nur 2.500 Synapsen; bei Kleinkindern sind es hingegen bis zu 15.000 Synapsen. Auch bewegen sich Nervenimpulse viel langsamer: Die neurale Geschwindigkeit nimmt zwischen Geburt und Adoleszenz um das 16fache zu - (Klein-) Kinder verfügen noch über zu viele mögliche Leitungsbahnen, was Erregungen länger "fließen" lässt. Somit ist das Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt immer noch recht unreif; lediglich ein Grundgerüst wurde angelegt. In der Regel ist die rechte Hemisphäre etwas weiter entwickelt als die linke. Kommt ein Baby zur Welt, kann es sehen, hören und auf Berührungen reagieren. Zunächst überwiegen Reflexe wie z.B. das Saugen und Schlucken. Auch wird der ganze Körper genutzt, um Bedürfnisse wie Hunger oder Gefühle wie Angst zum Ausdruck zu bringen. Bedingt durch die Unmenge der Wahrnehmungen und Erfahrungen nimmt die Zahl der Synapsen in den ersten drei Lebensjahren rasant zu. Mit zwei Jahren entspricht die Menge der Synapsen derjenigen von Erwachsenen; mit drei Jahren hat ein Kind mit 200 Billionen Synapsen bereits doppelt so viele. Das Gehirn eines Dreijährigen ist mehr als doppelt so aktiv wie das eines Erwachsenen und hat somit auch einen fast doppelt so hohen Glukoseverbrauch. Bis zu 50% des täglichen Kalorienbedarfs wird für das Gehirn benötigt; bei Erwachsenen sind es nur rund 18%. Verbunden mit dem rasanten Wachstum von Synapsen ist eine rasche Gewichtszunahme des Gehirns: von 300 g bei der Geburt über 750 g am Ende des 1. Lebensjahrs bis 1.300 g im 5. Lebensjahr. In der Pubertät wird schließlich das Endgewicht erreicht. Die im dritten Lebensjahr erreichte Anzahl von Synapsen bleibt bis zum Ende des ersten Lebensjahrzehnts relativ konstant.
Plastizität und Lernfähigkeit
Die Ausbildung von doppelt so vielen Synapsen wie letztlich benötigt ist ein Zeichen für die große Plastizität des Gehirns - und die enorme Lern- und Anpassungsfähigkeit des Säuglings bzw. Kleinkinds. Das Neugeborene fängt geistig praktisch bei null an: Abgesehen von ein paar angeborenen Verhaltensweisen ist es weitgehend auf Wahrnehmung und Reaktion beschränkt. Die Regionen des Gehirns, die später für komplexe Funktionen wie Sprechen oder Denken zuständig sind, liegen weitgehend brach. Aber das ist genau die große Chance des Menschen: Der Neugeborene ist praktisch für ganz unterschiedliche Kulturen und Milieus offen - für einen Indianerstamm bestehend aus Jägern und Sammlern genauso wie für die moderne, hoch technisierte Welt.
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