Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist eine komplexe psychische Erkrankung, die durch Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten gekennzeichnet ist. Ein häufig auftretendes Symptom ist die emotionale Taubheit, ein Zustand, in dem Betroffene eine verminderte oder fehlende Fähigkeit erleben, Emotionen zu fühlen. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen und Hintergründe der emotionalen Taubheit bei Borderline und bietet einen umfassenden Überblick für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte.
Einführung in die Borderline-Persönlichkeitsstörung
Der Begriff "Borderline" wurde 1938 von Adolf Stern geprägt und basiert auf einem psychoanalytischen Grundverständnis von Sigmund Freud. Stern definierte die Störung als ein "psychisches Kontinuum zwischen Neurose und Psychose", wobei "Borderline" als eine unscharfe und fluktuierende "Grenzlinie" zwischen diesen beiden Zuständen verstanden werden kann.
Die Borderline-Störung wurde erst 1980 im DSM III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) offiziell anerkannt und in den Bereich der Persönlichkeitsstörungen eingeordnet. Das DSM IV erweiterte den Kriterienkatalog auf neun Punkte, die ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie deutlicher Impulsivität beschreiben.
Verbreitung und Geschlechterverteilung
Die Angaben zum Vorkommen der Borderline-Störung in der Bevölkerung variieren, wobei Schätzungen zwischen 1,2 % und 2,0 % liegen. Unumstritten ist jedoch der höhere Anteil erkrankter Frauen, der in klinischen Studien zwischen 70 % und 75 % liegt. Feldstudien deuten auf eine geringere Geschlechterdifferenz von 60 % Frauen zu 40 % Männern hin. Experten vermuten, dass sich männliche Borderliner seltener in therapeutische Behandlung begeben und häufiger straffällig werden.
Symptome der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung manifestiert sich in einer Vielzahl von Symptomen, die sich auf unterschiedliche Lebensbereiche auswirken können. Zu den häufigsten Symptomen gehören:
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- Instabile Beziehungen: Intensive, aber instabile Beziehungen, die durch Idealisierung und Abwertung gekennzeichnet sind. Betroffene idealisieren ihr Gegenüber zunächst, um es bei der kleinsten Enttäuschung abzuwerten.
- Identitätsstörung: Ein instabiles Selbstbild und schwankende Selbstwahrnehmung. Zielsetzungen, berufliche Pläne, religiöse Anschauungen, Wertvorstellungen oder die Einschätzung der eigenen sexuellen Orientierung können sich plötzlich ändern.
- Impulsivität: Impulsives Verhalten in potenziell selbstschädigenden Bereichen wie Glücksspielen, Substanzmissbrauch, risikoreichem Geschlechtsverkehr oder rücksichtslosem Fahren.
- Selbstverletzendes Verhalten: Wiederholte Suizidhandlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen sowie selbstverletzendes Verhalten wie Schneiden, Verbrennen oder Schlagen.
- Affektive Instabilität: Heftige Stimmungsschwankungen, die abrupt von einer dysphorischen Grundstimmung auf Wut, Angst oder Verzweiflung umschlagen können. Diese Zustände dauern gewöhnlich nur wenige Stunden oder selten länger als einige Tage.
- Chronisches Gefühl der Leere: Ein anhaltendes Gefühl innerer Leere, das als quälend und beängstigend erlebt wird.
- Unangemessene Wut: Heftige Wutausbrüche oder langanhaltende Wut, die schwer zu kontrollieren sind, insbesondere bei wahrgenommener Zurückweisung oder Vernachlässigung.
- Paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome: Vorübergehende paranoide Vorstellungen oder dissoziative Symptome, die gewöhnlich von geringem Ausmaß oder kurzer Dauer sind, wenn die Belastung als besonders extrem erlebt wird.
- Angst vor dem Verlassenwerden: Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden, und intensive Angst vor dem Alleinsein.
Emotionale Taubheit als Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung
Emotionale Taubheit ist ein Zustand, in dem Betroffene eine verminderte oder fehlende Fähigkeit erleben, Emotionen zu fühlen. Sie kann sich als Gefühl der inneren Leere, der Distanziertheit von der eigenen Gefühlswelt oder als Unfähigkeit, Freude oder Trauer zu empfinden, äußern. Emotionale Taubheit kann als Schutzmechanismus dienen, um sich vor überwältigenden Emotionen zu schützen, die bei Borderline-Patienten häufig auftreten.
Ursachen emotionaler Taubheit bei Borderline
Die Ursachen emotionaler Taubheit bei Borderline sind vielfältig und komplex. Folgende Faktoren können eine Rolle spielen:
- Traumatisierungen: Traumatisierende Erlebnisse in der Kindheit, wie sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt oder emotionale Vernachlässigung, können zu einer gestörten Emotionsregulation führen. Betroffene entwickeln Strategien, um sich vor überwältigenden Emotionen zu schützen, was langfristig zu emotionaler Taubheit führen kann.
- Neurobiologische Veränderungen: Bildgebende Verfahren haben gezeigt, dass bei Borderline-Patienten Hirnareale, die für die Emotionsregulation eine Rolle spielen, verändert sind. Insbesondere Amygdala und Hippocampus können im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen verkleinert sein. Ob diese neurobiologischen Veränderungen die Erkrankung verursachen oder von dieser hervorgerufen werden, ist noch nicht abschließend geklärt.
- Dissoziation: Dissoziative Symptome, bei denen die Wahrnehmung des eigenen Körpers oder der Umgebung verändert ist, können zu emotionaler Taubheit führen. Betroffene fühlen sich wie in Watte gehüllt oder nehmen die Außenwelt nur noch gedämpft wahr.
- FehlendeValidierung von Emotionen: Wenn die Gefühle eines Kindes in der frühen Kindheit wiederholt lächerlich gemacht oder entwertet werden, kann dies zu einer gestörten Emotionsregulation führen. Betroffene lernen, ihre eigenen Gefühle nicht ernst zu nehmen und entwickeln Strategien, um sie zu unterdrücken, was langfristig zu emotionaler Taubheit führen kann.
- Störung der Gefühlsregulation: Die Borderline-Störung ist durch eine Störung der Gefühlsregulation gekennzeichnet. Kleinigkeiten können heftige Emotionen hervorrufen, die die Patienten als unkontrollierbar wahrnehmen. Um sich vor diesen überwältigenden Emotionen zu schützen, können Betroffene emotionale Taubheit entwickeln.
- Selbstverletzendes Verhalten: Selbstverletzendes Verhalten kann als Versuch dienen, innere Anspannung abzubauen und sich wieder zu spüren. In manchen Fällen wird Selbstverletzung eingesetzt, um subeuphorisches Verhalten auszulösen, wie die Verbesserung der Stimmung, der Kreativität und der Konzentration. Nach Bohus geschieht dies zu 80% in einem Zustand, in dem die Schmerzen nicht gespürt werden (analgetischer Zustand). Als Effekt beschreiben Menschen mit Borderline-Störung ein Gefühl der Entspannung, Entlastung, Ruhe und Geborgenheit. Erst nach ca. 20 Minuten stellt sich dann das Körperempfinden wieder ein.
Auswirkungen emotionaler Taubheit auf das Leben von Borderline-Patienten
Emotionale Taubheit kann erhebliche Auswirkungen auf das Leben von Borderline-Patienten haben. Sie kann zu folgenden Problemen führen:
- Beziehungsschwierigkeiten: Emotionale Taubheit kann es erschweren,Empathie zu zeigen und enge Beziehungen aufzubauen. Partner und Freunde fühlen sich möglicherweise nicht verstanden oder abgelehnt.
- Soziale Isolation: Betroffene ziehen sich möglicherweise zurück, umKonfrontationen mit ihren Emotionen zu vermeiden. Dies kann zu sozialer Isolation und Einsamkeit führen.
- Berufliche Probleme: Emotionale Taubheit kann die Arbeitsleistung beeinträchtigen, da die Fähigkeit, sich zu motivieren und mit anderen zusammenzuarbeiten, eingeschränkt sein kann.
- Erhöhtes Risiko für psychische Begleiterkrankungen: Emotionale Taubheit kann das Risiko für Depressionen, Angststörungen und Suchterkrankungen erhöhen.
- Suizidalität: In schweren Fällen kann emotionale Taubheit zuSuizidgedanken und -handlungen führen.
Umgang mit emotionaler Taubheit bei Borderline
Es gibt verschiedene Strategien, die Borderline-Patienten helfen können, mit emotionaler Taubheit umzugehen:
- Psychotherapie: Eine störungsspezifische Psychotherapie, wie dieDialektisch Behaviorale Therapie (DBT) oder die Schematherapie, kann Betroffenen helfen, ihre Emotionen besser zu regulieren und gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln.
- Skills-Training: Im Rahmen der DBT lernen Betroffene sogenannteSkills, um mit innerem Stress umzugehen und negative Gefühle rechtzeitig zu erkennen, um sie unter Kontrolle zu bringen.
- Achtsamkeitstraining: Achtsamkeitstraining kann helfen, die eigene Gefühlswelt bewusster wahrzunehmen und zu akzeptieren.
- Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen inSelbsthilfegruppen kann ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Verständnisses vermitteln.
- Medikamentöse Behandlung: In manchen Fällen könnenMedikamente eingesetzt werden, um Begleiterkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen zu behandeln.
Stille Borderline: Emotionale Taubheit im Verborgenen
Stille Borderliner sind das genaue Gegenteil des lauten, aggressiven, streitsüchtigen Klischees. Sie ziehen sich meist vollkommen zurück und leiden im Stillen, häufig sogar unbemerkt von ihrem Umfeld. Stille Borderlinerinnen leiden häufig unter einem krankhaften Perfektionismus. Betroffene schleppen sich jeden Tag zur Arbeit, sind nach Feierabend aber so fertig, dass sie sich allein zu Hause mit Alkohol betäuben oder selbst verletzen, um mit ihren Gefühlen klarzukommen. Stille Borderlinerinnen sind oft sehr empathische Menschen. Viele stille Borderlinerinnen neigen sogar zum extremen People Pleasing und tun alles für das Wohl anderer und vergessen sich selbst dabei. Obwohl die Angst vor dem Verlassenwerden generell ein Diagnosekriterium für Borderline ist, haben stille Betroffene besonders damit zu kämpfen. Sie haben, aufgrund ihrer zurückhaltenden Natur, meist nicht viele soziale Kontakte und neigen deshalb dazu, sich an die wenigen wichtigen Menschen, zum Beispiel ihre Partnerinnen oder andere Bezugspersonen, zu klammern. Der große Unterschied zum „klassischem“ Borderline liegt aber darin, dass die Entwertung in der Regel nicht durch Angriffe, Beleidigungen oder „Ich hasse dich“-Ausrufe vonstattengeht, sondern die Betroffenen sich gänzlich aus den Beziehungen zurückziehen. Stille Borderliner*innen haben häufig extreme Probleme, mit anderen über ihre Gefühle zu sprechen.
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Fazit
Emotionale Taubheit ist ein häufiges und belastendes Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie kann durch traumatische Erfahrungen, neurobiologische Veränderungen, Dissoziation und eine gestörte Emotionsregulation verursacht werden. Emotionale Taubheit kann erhebliche Auswirkungen auf das Leben von Borderline-Patienten haben, insbesondere auf ihre Beziehungen, ihr soziales Leben und ihre berufliche Leistungsfähigkeit. Mit Hilfe von Psychotherapie, Skills-Training, Achtsamkeitstraining und Selbsthilfegruppen können Betroffene lernen, mit emotionaler Taubheit umzugehen und ihre Lebensqualität zu verbessern. Es ist wichtig, dass Betroffene und Angehörige sich über die Borderline-Persönlichkeitsstörung und ihre Symptome informieren und sich professionelle Hilfe suchen, um die bestmögliche Behandlung zu erhalten.
Die Auseinandersetzung mit der Borderline-Störung und ihren vielfältigen Erscheinungsformen, einschließlich der emotionalen Taubheit, kann die Arbeit im Umgang mit Menschen mit Borderline-Störung sehr erleichtern, wenn man nicht den Fehler macht, den Menschen rein deskriptiv zu betrachten und nur seine Störung zu sehen.
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