Gehirntumoren und Epilepsie scheinen auf den ersten Blick zwei unterschiedliche Erkrankungen zu sein. Doch in der Realität können sie eng miteinander verbunden sein. Epileptische Anfälle können das erste Anzeichen eines Hirntumors sein, und umgekehrt können Menschen mit Epilepsie ein erhöhtes Risiko haben, einen Hirntumor zu entwickeln. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen und Zusammenhänge zwischen Epilepsie und Hirntumoren, die verschiedenen Arten von Anfällen, die bei Hirntumorpatienten auftreten können, sowie die diagnostischen und therapeutischen Optionen.
Fallbeispiel: Angelika W.
Die 34-jährige Angelika W. erlitt ihren ersten epileptischen Anfall, während sie mit ihrem Mann am Frühstückstisch saß. Ihr Mann beobachtete, dass zunächst ihr rechter Arm zuckte und später schlaff herunterhing. Angelika war jedoch die ganze Zeit ansprechbar. In den Monaten vor dem Anfall hatte ihr Mann eine Wesensveränderung und erhöhte Müdigkeit bei ihr festgestellt. Sie verhielt sich ihren Kindern gegenüber merkwürdig und klagte ständig über Kopfschmerzen. Bei einer ersten Untersuchung stellte der Hausarzt eine leichte Kraftlosigkeit im rechten Arm und Bein sowie einen leicht hängenden rechten Mundwinkel fest. Diese Kombination aus neurologischen Ausfällen und seit längerem bestehenden Beschwerden führte zur Diagnose eines Glioblastoms.
Was ist Epilepsie?
Epilepsie ist keine einzelne Krankheit, sondern eine Folge verschiedener Hirnerkrankungen, die durch eine erhöhte Neigung zu Anfällen gekennzeichnet sind. Bei einem epileptischen Anfall senden Nervenzellen im Gehirn gleichzeitig große Mengen elektrischer Signale. Die Erscheinungsformen von Epilepsie sind vielfältig und reichen von leichten Wahrnehmungsstörungen bis hin zu Bewusstlosigkeit und Krampfanfällen.
Man schätzt, dass in Deutschland etwa 400.000 bis 800.000 Menschen an Epilepsie leiden, wobei jährlich etwa 30.000 Neuerkrankungen hinzukommen. Bei etwa 70 % der Patienten können die Anfälle durch Medikamente so behandelt werden, dass keine Anfälle mehr auftreten. Es gibt jedoch auch pharmakoresistente Epilepsien, bei denen Medikamente keine Anfallsfreiheit bewirken.
Ursachen von Epilepsie
Häufig ist die Epilepsie genetisch bedingt (idiopathische Epilepsie). Andere Hirnerkrankungen wie Hirntumoren, Entzündungen oder Hirnverletzungen können jedoch ebenfalls Ursache einer Epilepsie sein.
Lesen Sie auch: Kann ein Anfall tödlich sein?
Arten von epileptischen Anfällen
Ärzte unterscheiden zwischen drei wesentlichen Anfallsarten:
- Fokale Anfälle: Diese beginnen an einer konkreten Stelle im Gehirn und können bei vollem Bewusstsein ablaufen. Typische Merkmale sind Zuckungen der Gliedmaßen, Missempfindungen oder Sprachausfälle. Bei komplex-fokalen Anfällen tritt eine Wesensänderung mit bizarre Verhalten auf, an die sich die betroffene Person nicht erinnern kann.
- Sekundär-generalisierte Anfälle: Diese beginnen ebenfalls lokal, breiten sich dann aber auf das ganze Gehirn aus. Typische Merkmale sind Bewusstlosigkeit und Desorientiertheit.
- Generalisierte Anfälle: Diese zeigen sich oft in Form von Bewusstseinspausen oder Grand-mal-Anfällen mit Bewusstlosigkeit und Verkrampfungen des ganzen Körpers.
Diagnostik von Epilepsie
Wer bereits einen epileptischen Anfall erlitten hat, sollte sich gründlich untersuchen lassen. Dabei werden die Hirnaktivität und Reaktion auf verschiedene Reize gemessen sowie Aufnahmen des Gehirns per Magnetresonanztomographie (MRT) oder Computertomographie (CT) angefertigt.
Behandlung von Epilepsie
Epileptische Anfälle sind medikamentös meist gut behandelbar. Die Therapie wird individuell abgestimmt und richtet sich unter anderem nach der Art der Anfälle sowie den diagnostischen Befunden. Bei etwa zwei Drittel der Patienten können die Anfälle durch eine optimale medikamentöse Therapie dauerhaft unterdrückt oder zumindest befriedigend kontrolliert werden. Neben einer medikamentösen Behandlung sind auch Operationen oder eine gezielte Stimulation von Nerven möglich.
Hirntumoren: Eine Übersicht
Ein Hirntumor ist eine Geschwulst im Kopf, die entsteht, wenn sich Zellen im Gehirn unkontrolliert vermehren. Tumore können direkt im Gehirn entstehen oder von anderen Körperstellen ins Gehirn streuen. Die Lage eines Hirntumors beeinflusst die Behandlung maßgeblich. Tumoren in gut erreichbaren Bereichen lassen sich oft operativ entfernen, was die besten Heilungschancen bietet. Befindet sich der Tumor nahe an wichtigen Hirnregionen, kann eine vollständige Entfernung zu riskant sein.
Nach Untersuchung von Gewebeproben können histopathologisch über hundert Arten von Hirntumoren unterschieden werden. Tumore entstehen aus entarteten, gewuchterten Nervenzellen und werden daher primäre Tumore aus dem Zentralnervensystem genannt. Davon abzugrenzen sind Metastasen, die von anderen Tumoren, wie Lungen- oder Brustkrebs, stammen.
Lesen Sie auch: Cortison-Therapie bei Epilepsie im Detail
Je nach Ausgangsgewebe werden die Tumore unterschiedlich bezeichnet: Gliome (z. B. Glioblastome, Olidgodendrogliome) gehen von den Stützzellen aus, Meningeome von den Hirnhautzellen. Ob ein Tumor gutartig oder bösartig ist, kann nur mit einer Gewebsentnahme sicher geklärt werden. Über die Hälfte der primären Tumore werden als gutartig klassifiziert.
Symptome von Hirntumoren
Lähmungen, Sprachstörungen, Sehstörungen, epileptische Anfälle, Kopfschmerzen und Gedächtnisstörungen können typische Anzeichen sein.
Diagnose von Hirntumoren
Heute wird bei Vorliegen dieser Beschwerden in der Regel rasch eine Bildgebung des Gehirns durchgeführt. Eine definitive Diagnose ist jedoch meist erst durch die neuropathologische Untersuchung des Tumorgewebes nach operativer Entfernung oder einer Gewebeentnahme möglich.
Behandlung von Hirntumoren
Die Therapie richtet sich nach der diagnostischen Zuordnung, nach der Aggressivität und nach der Lokalisation des Tumors. Fast alle Gehirntumore können heute operiert werden, aber nicht alle müssen operiert werden. Bei anderen Gehirntumoren ist dies mit der Operation allein nicht möglich.
Der Zusammenhang zwischen Hirntumoren und Epilepsie
Welchen Zusammenhang gibt es zwischen Hirntumoren und Epilepsie? Diese Frage beschäftigt Neurologen schon lange. Bekannt ist, dass Patienten mit einem Hirntumor an epileptischen Anfällen leiden können, insbesondere, wenn der Tumor in einem anfälligen Bereich hierfür sitzt (z.B. innerer Anteil des Schläfenlappens). In vielen Fällen sind diese unterschiedlich stark ausgeprägten „Kurzschlüsse“ im Gehirn das erste und einzige Anzeichen für das Vorliegen eines Tumors.
Lesen Sie auch: Ein umfassender Leitfaden zur idiopathischen generalisierten Epilepsie
Auf der anderen Seite ist zu beobachten, dass bei langjährigen Epilepsie Patienten deutlich häufiger die Diagnose „Hirntumor“ gestellt wird als bei Personen ohne Anfallsleiden. Die sogenannte Oxford Record Linkage Study analysierte die Daten von mehr als 11.000 Epilepsie-Patienten aus einem Zeitraum von 35 Jahren (1963-1998). Bei beiden Studien stellte sich - relativ übereinstimmend - heraus, dass das Risiko von Epilepsie-Patienten, an einem Hirntumor zu erkranken, rund 20 Mal so hoch war wie bei Nicht- Epilepsie Patienten. Das höchste Risiko trugen dabei Patienten, die zum Zeitpunkt der Diagnose der Epilepsie zwischen 15 und 44 Jahre alt waren. Dieses höhere Risiko bleibt den Forschern zufolge über mehrere Jahre bestehen. Für Epilepsie Patienten ist daher eine MRT Untersuchung zu empfehlen - um den Verdacht auf einen Tumor im Gehirn auschließen zu können.
Epilepsie-assoziierte Tumoren (LEA-Tumoren)
Wiederholte epileptische Anfälle über einen längeren Zeitraum sind eher ungewöhnlich und weisen auf eine besondere Gruppe von Tumoren hin, die sogenannten Langzeitepilepsie-assoziierten Tumoren (LEA-Tumoren). Diese machen selbst in großen neurochirurgischen Zentren zwar nur einen Bruchteil der operativen Fälle aus, sind für die betroffenen Patienten aufgrund gehäufter Anfälle und des Tumorleidens individuell jedoch höchst belastend. LEA-Tumoren stellen eine besondere Herausforderung dar, die in den Therapieplanungs- und Behandlungsphasen die gebündelten Kenntnisse eines interdisziplinären Epilepsie-Zentrums erfordert.
Bei den herausgeschnittenen Tumoren handelt es sich oft um komplexe Gewächse, die sowohl aus Nerven- als auch glialen Stützzellen aufgebaut sind. Sie werden meist als Gangliogliome bezeichnet.
Molekulare Signatur des Tumors als Mittel der Prognose
Ziel der Forschung ist es, Veränderungen auf Molekülebene zu entdecken, die verbesserte Auskunft über das Risiko einer möglichen Wiederkehr des Tumors und eine maßgeschneiderte Vorbeugung gegen das erneute Auftreten von Anfällen geben können.
Epileptische Anfälle bei Hirntumorpatienten
Bei 60 Prozent der Patienten mit einem primären Hirntumor sind epileptische Anfälle das Erstsymptom der Erkrankung. Bei weiteren 10 bis 20 Prozent der Hirntumorpatienten treten im weiteren Verlauf der Erkrankung Anfälle auf. Bestimmte Hirntumoren sind häufiger mit Anfällen verbunden als andere. So sind mindestens 75 Prozent der Patienten mit Oligodendrogliomen und Gangliogliomen von epileptischen Anfällen betroffen, 60 bis 70 Prozent der Patienten mit differenzierten Astrozytomen, 15 bis 20 Prozent mit cerebralen Metastasen und 15 Prozent der Patienten mit primären ZNS-Lymphomen.
Epileptische Anfälle bei Hirntumorpatienten sind generell fokale Anfälle, da sie von einem umschriebenen Herd ausgehen, dem Hirngewebe um den Tumor. Ein Anfall selbst dauert meist nicht länger als 30 bis 90 Sekunden. Da jedoch oft im Anschluss an einen Anfall eine Funktionsstörung des Gehirns bestehen kann, die z.B. eine Phase der Reorientierung oder einen „Terminalschlaf“ nach einem großen Anfall bedingt, empfinden Beobachter die Zeitdauer des Anfalls oftmals als länger.
Arten von Anfällen bei Hirntumoren:
- Einfach-fokale Anfälle: Diese äußern sich z.B. als motorische Zuckungen oder Kribbeln einer Extremität, Geschmacks- oder Geruchswahrnehmungen oder ein merkwürdiges Gefühl in der Magengrube.
- Komplex-fokale Anfälle: Diese kommen überwiegend bei einer Lokalisation des Tumors im Schläfenlappen vor. Betroffene Patienten können zunächst ein merkwürdiges Gefühl in der Bauchregion empfinden (epigastrische Aura), eine Geruchswahrnehmung haben (olfaktorische Aura) oder vegetative Symptome (z.B. Herzrasen) spüren. Mitunter führen Betroffene stereotype, wiederkehrende, unsinnige Handlungen durch und zeigen dabei unzureichende oder fehlende Reaktionsfähigkeit auf Umgebungsreize. Für diese komplex-fokalen Anfälle besteht dann häufig eine zumindest partielle Gedächtnislücke, während des Anfalls wird die Umgebung als merkwürdig fremd oder vertraut erlebt, das Zeitempfinden kann verändert sein. Diese Zeichen sind Ausdruck einer Bewusstseinsstörung.
- Sekundär generalisierte Anfälle (Grand mal): Wenn sich die hirnelektrische Aktivität eines fokalen Anfalls auf das gesamte Gehirn ausbreitet, kann dies zu einem sekundären generalisierten Anfall führen. Dieser zeigt sich häufig durch rhythmische Zuckungen der Arme und Beine. Der Patient ist während des Anfalls bewusstlos und kann sich später in der Regel nicht daran erinnern.
Diagnose von Anfällen bei Hirntumoren
Bei einem Hirntumorpatienten können auch episodisch Zustände auftreten, die mit einer Verwirrtheit, mit inadäquaten Reaktionen auf die Umgebung, verlangsamten Denk- und Handlungsabläufen und offensichtlich unsinnigen Handlungen einhergehen können. Bei solchen episodischen „Dämmerzuständen“ ist immer an einen Status komplex-fokaler Anfälle zu denken. Die einzige Möglichkeit, einen solchen Status komplex-fokaler Anfälle zu diagnostizieren, ist das EEG.
Behandlung epileptischer Anfälle bei Hirntumoren
Durch die Gabe von Antiepileptika wird das Wiederholungsrisiko für weitere Anfälle verringert. Häufig ist es jedoch ein langer Weg, bis der Betroffene das für ihn richtige Medikament in der optimalen Dosierung gefunden hat. Dieser Weg sollte gemeinsam mit einem erfahrenen Neurologen oder Epileptologen gegangen werden.
Fallbeispiele aus der Neurochirurgie
Die folgenden Fallbeispiele illustrieren die chirurgische Behandlung von Epilepsie bei Patienten mit Hirntumoren oder anderen Läsionen:
- Kavernom in der Postzentralregion: Eine 25-jährige Studentin erlitt erstmals einen generalisierten Krampfanfall. Im MRT zeigte sich ein kleines eingeblutetes Kavernom in der Postzentralregion rechts. Das Kavernom wurde mikrochirurgisch vollständig entfernt, und die Patientin ist postoperativ ohne Medikamente anfallsfrei.
- Ammonshornsklerose: Eine 36-jährige Patientin litt seit dem 14. Lebensjahr unter komplex fokalen Anfällen, die häufig in generalisierte Krampfanfälle übergingen. Im MRT zeigten sich die typischen Zeichen einer Ammonshornsklerose. Der Mandelkern und Hippocampus wurde mikrochirurgisch entfernt (Amygdalohippocampektomie). Postoperativ ist die Patientin anfallsfrei.
- Temporomesialer Tumor: Eine Patientin erlitt im 21. Lebensjahr erstmals einen generalisierten Krampfanfall. Außerdem bemerkte sie seit mindestens 2 Jahren mehrmals monatlich Zustände mit einem komischen Gefühl in der Magengegend (Aura), die häufig in einen etwa eine Minute dauernden Abwesenheitszustand übergingen. Das MRT zeigte einen kleinen Tumor im inneren Anteil des rechten Schläfenlappens. Der Tumor wurde mikrochirurgisch vollständig entfernt. Postoperativ ist die Patientin seit 2 Jahren anfallsfrei.
Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall
Wenn man Zeuge eines epileptischen Anfalls bei einer anderen Person wird, ist es sehr wichtig, ruhig und besonnen zu bleiben. Vor allem sollte man überlegen, wie man die Person vor Verletzungen schützt.
Tipps für die Erste Hilfe bei einem epileptischen Anfall:
- Ruhe bewahren!
- Unerfahrene Ersthelfer sollten den Rettungsdienst rufen
- Die Dauer des Anfalls registrieren
- Die betroffene Person liegend aus einer Gefährdungssituation bringen und vor Verletzungen schützen
- Beengende Kleidungsstücke lockern
- Ggf. den Kopf des Betroffenen abpolstern
Was Sie in keinem Fall tun sollten:
- Die/den Betroffene/n festhalten oder zu Boden drücken
- Der betroffenen Person etwas in den Mund schieben