Genetische Ursachen von Epilepsie: Ein umfassender Überblick

Das Verständnis der genetischen Grundlagen von Epilepsien hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Moderne Hochdurchsatz-Sequenziermethoden (Next-Generation Sequencing, NGS) ermöglichen die Identifizierung einer ständig wachsenden Anzahl von Epilepsiegenen sowohl in der Forschung als auch in der klinischen Anwendung. Diese Fortschritte haben zu einer umfassenderen, schnelleren und kostengünstigeren genetischen Diagnostik geführt.

Einführung

Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, die durch wiederholte, unprovozierte Anfälle gekennzeichnet ist. Diese Anfälle entstehen durch eine vorübergehende Störung der elektrischen Aktivität im Gehirn. Während viele Fälle von Epilepsie auf erworbene Ursachen wie Hirnverletzungen, Schlaganfälle oder Infektionen zurückzuführen sind, spielen genetische Faktoren eine bedeutende Rolle bei der Entstehung verschiedener Epilepsieformen.

Die Rolle der Genetik bei Epilepsie

Die Genetik spielt bei vielen Epilepsieformen eine wichtige Rolle, einschließlich der idiopathisch generalisierten Epilepsie (IGE) und der nicht erworbenen fokalen Epilepsie (NAFE). Obwohl einige große IGE-Stammbäume beschrieben wurden, beträgt das Risiko, an Epilepsie zu erkranken, für Familienmitglieder ersten Grades nur 3-8 %. Es wird angenommen, dass die Mehrheit dieser häufigen Epilepsien eine multifaktorielle Ätiologie aus verschiedenen genetischen (oligogenen oder polygenen) sowie epigenetischen und Umweltfaktoren hat.

Genetische Diagnostik bei Epilepsie

Die Indikation für eine genetische Diagnostik bei bestimmten Formen von Epilepsien ist mittlerweile unstrittig. Vor allem bei den sogenannten Entwicklungsbedingten und Epileptischen Enzephalopathien (DEE, developmental and epileptic encephalopathies) ist die genetische Diagnostik kosteneffektiv, zeitsparend und kann andere aufwendige und belastende diagnostische Maßnahmen unnötig machen.

Methoden der genetischen Diagnostik

Verschiedene Methoden werden in der genetischen Diagnostik von Epilepsie eingesetzt:

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  • Next-Generation-Sequencing (NGS)-Methoden:
    • Exom-Sequenzierung (ES): Sequenzierung der kodierenden und angrenzenden intronischen Bereiche. Sie bietet eine umfassendere Analyse als Panel-Diagnostik und ermöglicht den Nachweis von SNV und CNV.
    • Genom-Sequenzierung (GS): Sequenzierung der gesamten DNA, einschließlich intronischer, intra- und intergenischer nicht-kodierender Bereiche. Sie ermöglicht eine bessere Detektion von Repeat- und Strukturvarianten.
  • Panel-Diagnostik: Sequenzierung der kodierenden DNA-Abschnitte einschließlich angrenzender Splice-Regionen (ausgewählte Genliste). Sie bietet eine hohe Abdeckung der ausgewählten Gene und erlaubt das Erkennen von niedriggradigen Mosaiken.
  • Array-Diagnostik (CMA): Genomweite Untersuchung auf CNV, z. B. Deletionen, Duplikationen. Sie bietet eine deutlich höhere Auflösung als bei CA für submikroskopische CNV (< 10 Mb).
  • Einzelgen-Sequenzierung (Sanger-Sequenzierung): Nachweis von SNV und sehr kleinen CNV in meist sehr kleinen Bereichen (einzelnen Exons eines Gens).
  • Konventionelle Karyotypisierung (CA): Mikroskopische Untersuchung auf numerische oder strukturelle Veränderungen des Chromosomensatzes.

Interpretation genetischer Befunde

Zur Plausibilisierung und Interpretation der genetischen Befunde ist der Abgleich mit dem Phänotyp ein unerlässlicher Baustein. Das ACMG (American College of Medical Genetics) empfiehlt, dass die Phänotypisierung der genetischen Analyse vorausgehen sollte.

Kostenübernahme

Die Kostenübernahme der genetischen Untersuchung erfolgt in Deutschland bei gesetzlich versicherten Personen durch die Krankenkassen. Bei privat versicherten Personen sollte vor der Testung eine Kostenübernahmezusage der jeweiligen Krankenkasse eingeholt werden. Die tatsächlichen Kosten für die jeweilige Untersuchung ändern sich dynamisch. In Österreich erfolgt die Kostenübernahme durch die Krankenkassen.

Monogene Epilepsien

"Monogene" Epilepsien werden durch eine Veränderung in einem einzelnen Gen verursacht, folgen grundlegenden Vererbungsmustern (autosomal dominant (AD), autosomal rezessiv (AR), X‑chromosomal, mitochondrial) und sind Hauptziel der genetischen Diagnostik. Zusätzliche genetische „Modifikatoren“ könnten jedoch eine Erklärung für einige der phänotypischen Variationen darstellen.

Erbgänge und Wiederholungsrisiken

Die Kenntnis der Erbgänge und Wiederholungsrisiken ist wichtig für die genetische Beratung betroffener Familien, insbesondere bei Kinderwunsch. Es gibt verschiedene Erbgänge:

  • Autosomal dominant: Ein betroffenes Allel (Heterozygotie) wird von einem Elternteil vererbt. Das Risiko für Nachkommen und Geschwister, die Variante zu tragen, beträgt 50 %.
  • Autosomal rezessiv: Beide Allele sind betroffen (Homozygotie oder Compound-Heterozygotie). Eine Veränderung wird von jeweils einem Elternteil vererbt. Das Risiko für Geschwister, die Variante zu tragen, beträgt 25 %.
  • X‑chromosomal:
    • Männlich: Hemizygotie (nur ein Allel vorhanden, dieses ist betroffen). Alle Töchter sind Trägerinnen, Söhne nicht. 50 % der Schwestern sind Trägerinnen, 50 % der Brüder sind symptomatische Träger.
    • Weiblich: Heterozygot. 50 % der Töchter sind Trägerinnen, 50 % der Söhne symptomatische Träger. 50 % der Schwestern sind Trägerinnen, 50 % der Brüder sind symptomatische Träger.
  • Mitochondrial: Das Genom in den Mitochondrien wird nur maternal an Nachkommen weitergegeben.

Beispiele für monogene Epilepsien

  • Glukose-Transporter Störung (GLUT1-Defizienz): Durch genetische Veränderungen in dem zugehörigen Gen ist die Funktion des Zucker-Transports vom Blut ins Gehirn eingeschränkt. Für Patienten mit einer Störung des Glukose-Transporters stellt die ketogene Diät eine spezifische Therapiemöglichkeit dar, da hierbei Ketonkörper statt Zucker die Energieversorgung des Gehirns übernehmen.
  • Familiäre Frontallappenepilepsie mit nächtlichen Anfällen und familiär auftretende Temporallappenepilepsie mit Auren: Für diese selten auftretenden fokalen Epilepsieformen sind genetische Ursachen bekannt und einer genetischen Untersuchung zugänglich.

Multifaktorielle Epilepsien

Viele Epilepsien haben genetische Ursachen, die nicht den Mendelschen Regeln folgen, und einige Epilepsien können genetisch bedingt sein, obwohl sie nicht vererbt werden. Es wird angenommen, dass die Mehrheit dieser häufigen Epilepsien eine multifaktorielle Ätiologie aus verschiedenen genetischen (oligogenen oder polygenen) sowie epigenetischen (z. B. Veränderungen in der Genaktivität und -expression) und Umweltfaktoren hat.

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Polygener Risikoscore (PRS)

Mittelfristig ist mit einer klinischen Nutzung von polygenen Risikoscores (polygenic risk score, PRS) zu rechnen, welche den additiven Effekt vieler genetischen Varianten darstellt, die mit einer Epilepsie verbunden sein können.

Genetische Beratung

Vor Einleitung einer genetischen Testung sollte stets eine eingehende Beratung der Betroffenen und deren Familien stehen sowie eine genaue Erhebung des klinischen Phänotyps erfolgen. Im Rahmen der Beratung sollten u. a. Aspekte wie Indikation, Wahrscheinlichkeit eines positiven Befundes, etwaige Bedeutung eines positiven Befundes für die weitere Behandlungsstrategie und die etwaige Bedeutung für weitere Familienangehörige oder potenzielle Nachkommen besprochen werden.

Inhalte der genetischen Beratung

  • Aufklärung über Diagnostikmethoden und potenziellen Nutzen: Um die Diagnostikmethoden und ihren potenziellen Nutzen zu verstehen, ist es hilfreich, vorab einen Überblick über die möglichen Vererbungsmodi zu haben.
  • Realistischer Erwartungshorizont: Es ist wichtig, einen realistischen Erwartungshorizont aufzubauen, v. a. auch in Hinblick auf präzisionsmedizinische Konsequenzen, welche trotz zunehmenden Anwendungsfeldern doch aktuell nur einem kleinen Anteil der Personen zugutekommen werden.
  • Varianten unklarer Signifikanz (VUS): Die Betroffenen sollten ebenfalls über das wahrscheinliche Auftreten von Varianten unklarer Signifikanz (VUS) und die damit verbundenen Schwierigkeiten der Interpretierbarkeit aufgeklärt werden.
  • Zusatzbefunde: Ebenso sollte auch eine Aufklärung über sogenannte Zusatzbefunde erfolgen. Diese stehen nicht mit der ursprünglichen Fragestellung in Verbindung, können aber dennoch eine medizinische Bedeutung für den Betroffenen haben (z. B. Varianten in Onkogenen wie BRCA1/BRCA2).
  • Umgang mit negativen Befunden: Die Beratung sollte auch den Umgang mit negativen Befunden und Varianten unklarer Signifikanz (VUS) umfassen.

Rechtliche Aspekte

Die genetische Testung von symptomatischen Personen darf gemäß Gendiagnostikgesetz von jeder Ärztin/jedem Arzt beauftragt werden. Es muss den Betroffenen im Rahmen der Ergebnismitteilung eine genetische Beratung angeboten werden. Im Fall von nicht-erkrankten Personen, d. h. bei einer prädiktiven genetischen Testung, ist eine Aufklärung durch eine Fachärztin/einen Facharzt für Humangenetik notwendig bzw. durch eine Fachärztin/einen Facharzt mit einer entsprechenden Zusatzqualifikation.

Klinische Bedeutung der genetischen Diagnostik

Die Kenntnis über genetische Ursachen von Epilepsien kann vor weiteren, unnötigen und häufig belastenden diagnostischen Maßnahmen schützen, eine genetische Beratung ermöglichen, zur Therapieoptimierung dienen und eine gewisse Einordnung der Prognose erlauben.

Nutzen der genetischen Diagnostik

  • Spezifische therapeutische Maßnahmen: Der Nachweis einer genetischen Diagnose bei Kindern mit Erkrankungsbeginn vor Vollendung des 3. Lebensjahres impliziert bei ca. 80 % spezifische therapeutische Maßnahmen. Bei Erwachsenen ergeben sich etwa bei einem Drittel der erkrankten Personen relevante therapeutische Konsequenzen.
  • Präzisionstherapien: Präzisionstherapien im Sinne von Drug Repurposing, d. h. zu einem anderen Zweck verwendeten Medikamenten stehen zunehmend zur Verfügung.
  • Gentherapeutische Ansätze: Gentherapeutische Ansätze befinden sich z. Zt. in Entwicklung und werden in Zukunft gezielte Behandlungsansätze für bestimmte Syndrome ermöglichen.
  • Pränatale Diagnostik und In-vitro-Fertilisation: Darüber hinaus ermöglicht die Kenntniss der genetischen Diagnose gegebenenfalls eine gezielte pränatale Diagnostik und in besonderen Situationen das Screening im Rahmen der In-vitro Fertilisation.
  • Beratung und Planung: Die Beratung der Betroffenen und derer Familien wird zudem erleichtert und kann sich an publiziertem Erfahrungswissen über den Erkrankungsverlauf orientieren, muss jedoch gleichzeitig immer auf den individuell unterschiedlichen und nicht vorhersagbaren Verlauf im Rahmen der großen phänotypischen Varianz hinweisen. Dies ermöglicht letztendlich eine bessere Planung von notwendigen sozialen, therapeutischen und pädagogischen Ressourcen zur bestmöglichen Versorgung für Betroffene.
  • Psychologische Bedeutung: Nicht zuletzt darf die psychologische Bedeutung einer genetischen Diagnose nicht unterschätzt werden. Oftmals spielen in betroffenen Familien Schuldgefühle für die Erkrankung des Kindes eine Rolle.

Beispiele für den klinischen Nutzen

  • Entwicklungs- und epileptische Enzephalopathien unklarer Ätiologie: Mittels ES konnten in 25,3 % der Fälle dennoch pathogene oder wahrscheinlich pathogene Varianten identifiziert werden.
  • Dravet-Syndrom: Genetische Veränderungen im Natrium-Kanal-Gen SCN1A ermöglichen den Einsatz von antikonvulsiven Medikamenten mit Wirkung auf den Natriumkanal.
  • Glukose-Transporter-Defekt: Der Nachweis einer pathogenen Variante ermöglicht eine gezielte Therapie mit einer ketogenen Diät.

Epilepsiegenetik in der Forschung

In der Forschung konnten in den letzten Jahren zahlreiche Gene identifiziert werden, die für die Entstehung unterschiedlicher Epilepsieformen wichtig sind. Neue Methoden ermöglichen die Untersuchung mehrerer Gene oder gar der Gesamtheit aller Gene in kurzer Zeit (sogenannte Gen-Panel-Analysen und Exom- oder Genom-Sequenzierungen). Problematisch ist aktuell häufig noch die Einordnung der Ergebnisse, da nach dem bekannten Motto „wer suchet, der findet“ zwar viele Veränderungen identifiziert werden können, deren Bedeutung für die Epilepsie aber erst in aufwendigen weiteren Untersuchungsschritten geklärt werden muss. Eine sehr wichtige Entwicklung der letzten Jahre ist dafür die zunehmende Zusammenarbeit und Vernetzung von Forschern weltweit, die so Kräfte bündeln und die Erforschung genetischer Ursachen von Epilepsien vorantreiben können.

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Schlussfolgerung

Das Wissen über die genetischen Ursachen von Epilepsie hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Die genetische Diagnostik spielt eine immer wichtigere Rolle bei der Identifizierung der Ursachen von Epilepsie, der Bestimmung des Risikos für Familienmitglieder und der Entwicklung gezielter Behandlungsstrategien.

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