Der Zusammenhang zwischen dem Epstein-Barr-Virus und Multipler Sklerose

Die Frage, warum manche Menschen an Multipler Sklerose (MS) erkranken und andere nicht, beschäftigt die Wissenschaft seit langem. Die Suche nach den Auslösern dieser komplexen Krankheit gleicht der Suche nach einem schwer fassbaren Verbrecherkartell. Es gibt zwar Spuren, aber sie sind oft rar und nicht eindeutig zuzuordnen. Es wird zunehmend deutlich, dass es sich nicht um einen einzelnen Faktor handelt, sondern dass genetische Veranlagung und Umweltfaktoren, insbesondere das Epstein-Barr-Virus (EBV), eine entscheidende Rolle spielen könnten.

EBV als möglicher Auslöser von MS

Das Epstein-Barr-Virus steht seit langem im Verdacht, an der Entstehung von MS beteiligt zu sein. Eine Infektion mit EBV könnte zeitlich der Entwicklung von MS vorausgehen und möglicherweise ein ursächlicher Faktor für die schädlichen Prozesse sein, die bei MS im Nervensystem ablaufen. Neurologen der Universität Münster haben herausgefunden, dass T-Zellen, die bei MS ins Nervensystem einwandern, ursprünglich vom Epstein-Barr-Virus dorthin gelockt werden könnten.

Eine retrospektive Studie aus dem Jahr 2024, die Daten von über zehn Millionen Angehörigen des US-Militärs auswertete, bestätigte diesen Verdacht. Die Studie ergab, dass jeder, bei dem im Beobachtungszeitraum MS diagnostiziert wurde, zuvor Antikörper gegen EBV entwickelt hatte. Der für MS charakteristische Nervenschaden trat erst nach dem Auftreten von EBV-Antikörpern im Serum auf. Eine parallele Studie lieferte zudem Hinweise auf eine ursächliche Verbindung zwischen der MS-Pathologie und EBV-Antikörpern. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass EBV am Aufkommen und möglicherweise auch am Fortbestehen der chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung MS beteiligt sein könnte. Professor Dr. Klemens Ruprecht von der Klinik für Neurologie an der Berliner Charité fasste die Ergebnisse zusammen und erklärte, dass die MS eine seltene Spätkomplikation der Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus sei.

Die Rolle der T-Zellen bei der Immunantwort gegen EBV

Im Zentrum einer Studie, die im Journal of Experimental Medicine veröffentlicht wurde, standen Rezeptoren auf T-Zellen, die an verschiedene Eiweißstrukturen binden können, darunter auch an die von EBV. Die Analyse dieser Rezeptoren zeigte, dass MS-Patienten mehr unterschiedliche, gegen EBV gerichtete T-Zell-Rezeptor-Sequenzen im Blut haben als Vergleichspersonen. Die zelluläre Immunantwort gegen EBV ist bei MS-Patienten also vielfältiger. Dr. Tilman Schneider-Hohendorf, Erstautor der Studie, erklärte, dass bei MS-Patienten pro 100.000 T-Zellen eine zusätzliche, EBV-spezifische T-Zelle gefunden wurde. Obwohl dies für Laien wenig erscheinen mag, summiert sich dies angesichts der Gesamtzahl einzigartiger T-Zellen im menschlichen Körper erheblich.

Das Immunsystem von MS-Patienten produziert offenbar kontinuierlich neue EBV-spezifische T-Zellen, die dann vom Blut ins Gewebe auswandern. Dies wurde bei Patienten beobachtet, die ein Medikament erhielten, das diesen Auswanderungsprozess stoppt, wodurch sich die fraglichen T-Zellen im Blut ansammelten.

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Um sicherzustellen, dass die MS-Erkrankung und nicht etwa genetische Unterschiede die ungewöhnlich große Zahl EBV-spezifischer T-Zellen erklärt, untersuchten die Neuroimmunologen eineiige Zwillinge, von denen nur eines der Geschwister an MS leidet. Auch die erkrankten Zwillingsgeschwister wiesen mehr EBV-spezifische T-Zellen auf, was die Hypothese weiter stützt, dass EBV eine Rolle bei der Entstehung von MS spielt.

Aktives Virus im Visier der T-Zellen

Um der Frage nachzugehen, warum die Immunantwort gegen das Epstein-Barr-Virus bei MS-Patienten breiter ist, untersuchten die Wissenschaftler die Strukturen des Virus genauer, die von T-Zellen gesunder und erkrankter Spender erkannt wurden. Da 19 von 20 Menschen mit EBV infiziert sind, aber nicht an MS erkranken, muss es Unterschiede in der Art und Weise geben, wie das Immunsystem das Virus kontrolliert.

Die Arbeitsgruppe fand auf T-Zellen im Nervenwasser von MS-Patienten häufiger Rezeptoren gegen lytische EBV-Merkmale, was darauf hindeutet, dass das Virus aktiv war. Im Gegensatz dazu befindet sich das Virus bei gesunden Menschen in einem Dauerschlafzustand, der als Latenz bezeichnet wird. Während der Latenz verwendet das Virus andere Bausteine seines Genoms als im lytischen Zyklus, in dem es aktiv ist.

Prof. Heinz Wiendl, Direktor der Uniklinik für Neurologie in Münster, fasste die Erkenntnisse zusammen: „Unsere Studie legt nahe: T-Zellen, die bei MS ins Gehirn einwandern, sind möglicherweise auf der Suche nach aktiven EBV-Herden. Stimmt das, müssten nicht nur im Nervenwasser, sondern auch im Gehirn von MS-Patienten vermehrt EBV-spezifische T-Zellen zu finden sein“. Diese Frage soll in einer weiteren Analyse beantwortet werden. Sollte sich diese Annahme bestätigen, könnte wiederkehrende EBV-Aktivität im Gehirn an der Entstehung neuer Krankheitsschübe bei MS-Patienten beteiligt sein. Dies könnte ein entscheidender Schritt in der Bekämpfung von MS sein, da sich die Krankheit dann möglicherweise besser behandeln und MS-Schübe verhindert werden könnten.

Weitere Faktoren bei der Entstehung von MS

Obwohl die Forschungsergebnisse einen klaren Zusammenhang zwischen EBV und MS zeigen, ist es wichtig zu betonen, dass EBV nicht die einzige Ursache für die Entstehung von MS ist. Wie Professor Ruprecht betonte, ist die EBV-Infektion zwar notwendig, aber nicht allein ausreichend, um die Pathogenese anzustoßen. Weitere Faktoren, wie eine genetische Veranlagung, Umweltschadstoffe oder Lebensstilfaktoren, müssen hinzukommen.

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Es gibt eine Vielzahl genetischer Veranlagungen, die das Risiko für eine MS erhöhen. Auch ein Vitamin-D-Mangel spielt oft eine Rolle, was erklärt, dass es auf der Nordhalbkugel mehr MS-Fälle gibt als am sonnigen Äquator. Auch Rauchen und Übergewicht im Kindesalter erhöhen das Risiko.

Die genauen Mechanismen, über die das Virus die Autoimmunität anstößt, sind noch nicht vollständig verstanden. Es werden verschiedene Mechanismen diskutiert, darunter die sogenannte molekulare Mimikry, bei der gegen EBV gerichtete Antikörper und T-Zellen aufgrund von struktureller Ähnlichkeit auch Antigene im ZNS erkennen und angreifen. Auch eine direkte Infektion des Gehirns mit EBV, die Entstehung von autoreaktiven B-Lymphozyten und eine dysregulierte Immunantwort gegen den Erreger werden diskutiert.

Die Rolle der B-Zellen in der Pathogenese

Einer Einschätzung zufolge kommt den B-Zellen in der Pathogenese eine zentrale Rolle zu, da die Viren diese Zellen infizieren und umprogrammieren und da eine B-Zell-Depletion therapeutisch wirksam ist. Es wird vermutet, dass bei späteren MS-Patienten zum Zeitpunkt der EBV-Akutinfektion das Virus Antikörper-produzierende B-Zellen dazu bringt, in das Gehirn einzuwandern. Dies könnte erklären, warum MS-Patienten häufig eine Antikörperproduktion gegen Masern, Röteln und Herpes zoster im Gehirn aufweisen, aber sehr selten gegen EBV. Denn zum Zeitpunkt der Akutinfektion sind noch keine gegen EBV-gerichteten B-Zellen vorhanden. Wie genau das Epstein-Barr-Virus die B-Zellen zum Einwandern ins Gehirn bewegt, ist noch unklar.

BEHIND-MS: Ein EU-Projekt zur Erforschung der Rolle von EBV bei MS

Um den Zusammenhang zwischen EBV und MS besser zu verstehen, wurde das EU-Projekt BEHIND-MS ins Leben gerufen. Dieses Forschungsprogramm, an dem auch die Universität Münster beteiligt ist, untersucht, wie die EBV-Infektion das Wechselspiel zwischen Nerven- und Immunsystem beeinflusst und dadurch an der Entstehung und dem Fortschreiten der MS beteiligt ist.

Das Team um Prof. Jan Lünemann wird anhand von Patientenproben untersuchen, wie das Immunsystem von Patienten mit MS im Vergleich zu Gesunden auf eine Infektion mit EBV reagiert. Ziel ist es, die Erkrankung durch die Aufklärung der Rolle von EBV besser zu verstehen und auf dieser Basis effektiver zu behandeln.

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Mögliche zukünftige Therapieansätze

Die Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen EBV und MS eröffnen neue Perspektiven für die Entwicklung von Therapieansätzen. Ein vielversprechender Ansatz ist die Entwicklung einer Impfung gegen das Epstein-Barr-Virus. Eine solche Impfung könnte das Risiko einer folgenreichen EBV-Infektion verringern und, wenn sie vor dem Pfeifferschen Drüsenfieber schützt, letztlich auch die Häufigkeit von Multipler Sklerose verringern.

Eine Impfung gegen EBV ist jedoch kein "leichter Kandidat", da das Virus kein einfacher Kandidat für die Entwicklung eines Impfstoffs ist und zudem schon Kleinkinder damit geimpft werden müssten, da die Ansteckung mit EBV oft sehr früh im Leben stattfindet. Da das EBV außerdem im Zusammenhang mit verschiedenen Autoimmunerkrankungen, aber auch Tumorerkrankungen steht, wäre eine solche Impfung von großem Vorteil.

Ein weiterer Therapieansatz könnte darin bestehen, die Aktivität von EBV im Körper zu kontrollieren. Da die Studie gezeigt hat, dass T-Zellen im Nervenwasser von MS-Patienten häufiger Rezeptoren gegen lytische EBV-Merkmale aufweisen, könnte die Entwicklung von Medikamenten, die den lytischen Zyklus des Virus hemmen, möglicherweise die Entstehung neuer Krankheitsschübe bei MS-Patienten verhindern.

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