Die Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP) und Myopathie (CIM) sind Komplikationen, die häufig im Zusammenhang mit schweren Erkrankungen und Intensivaufenthalten auftreten. Sie manifestieren sich vor allem durch Muskelschwäche im ganzen Körper und eine verzögerte Genesung. Obwohl diese Erkrankung von hoher Relevanz ist, besteht ein Mangel an Forschungsergebnissen zu Prognosestellung, Krankheitsverlauf und Therapieansätzen.
Was ist Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP)?
Die Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP) ist eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, die als Folge einer schweren Erkrankung und/oder deren Behandlung auftreten kann. Sie ist gekennzeichnet durch eine diffuse Schädigung der peripheren Nerven, die zu Muskelschwäche, Sensibilitätsstörungen und autonomen Funktionsstörungen führen kann.
Häufig müssen Patienten auf der Intensivstation künstlich beatmet werden. Je länger dies nötig ist, desto wahrscheinlicher ist das Risiko, eine Critical-Illness-Polyneuropathie (CIP) zu entwickeln. Bei dieser Krankheit erleidet der Körper schleichende Lähmungserscheinungen, die Hände, Füße, Beine und das Zwerchfell und somit die Atmung betreffen. Dieser Vorgang geschieht allerdings so schleichend, dass zunächst weder der Patient noch die behandelnden Ärzte etwas von der Krankheit mitbekommen.
Nach aktuellen Studien liegt die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der zwei Wochen lang künstlich beatmet wird, an Critical-Illness-Polyneuropathie zu erkranken, bei bis zu 50 %.
Ursachen und Risikofaktoren
Wie genau die Nerven bei einer CIP geschädigt werden, ist noch unklar. Vermutet wird allerdings, dass körpereigene Botenstoffe die Nervenschädigungen verursachen. Wie genau dies geschieht, ist allerdings unklar. Derzeit kann man nur die Risikofaktoren versuchen zu kontrollieren.
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- Sepsis: Eine Sepsis, auch Blutvergiftung genannt, ist eine lebensbedrohliche Komplikation einer Infektion. Sie kann zu Multiorganversagen und CIP führen.
- Multiorganversagen: Das Versagen mehrerer Organe, wie z.B. Nieren, Leber oder Lunge, kann ebenfalls eine CIP auslösen.
- Künstliche Beatmung: Eine längere künstliche Beatmung, insbesondere über zwei Wochen, erhöht das Risiko für CIP erheblich.
- Entzündungsreaktionen: Starke Entzündungsreaktionen des Körpers, wie sie beispielsweise bei schweren Infektionen auftreten, können die Nerven schädigen.
- Medikamente: Einige Medikamente, die auf der Intensivstation eingesetzt werden, können das Risiko für CIP erhöhen.
- Vorerkrankungen: Bestimmte Vorerkrankungen, wie z.B. Diabetes mellitus oder chronische Nierenerkrankungen, können das Risiko für CIP erhöhen.
Symptome
Die Symptome einer CIP entwickeln sich meist schleichend und können von Patient zu Patient unterschiedlich sein. Häufige Symptome sind:
- Muskelschwäche: Die Muskelschwäche betrifft meist die Extremitäten, kann aber auch die Atemmuskulatur beeinträchtigen.
- Sensibilitätsstörungen: Sensibilitätsstörungen wie Kribbeln, Taubheitsgefühl oder Schmerzen können in den Händen und Füßen auftreten.
- Eingeschränkte Reflexe: Die Reflexe können abgeschwächt oder nicht auslösbar sein.
- Atemnot: Wenn die Atemmuskulatur betroffen ist, kann es zu Atemnot kommen.
- Schwierigkeiten beim Sprechen und Schlucken: In schweren Fällen kann auch die Sprech- und Schluckmuskulatur betroffen sein.
Diagnose
Die Diagnose einer CIP kann schwierig sein, da die Symptome oft unspezifisch sind und auch durch andere Erkrankungen verursacht werden können. Wichtig ist eine sorgfältige neurologische Untersuchung. Ergänzend können folgende Untersuchungen durchgeführt werden:
- Elektrophysiologische Untersuchungen: Elektrophysiologische Untersuchungen, wie z.B. die Elektroneurographie (ENG) und die Elektromyographie (EMG), können die Funktion der Nerven und Muskeln beurteilen.
- Nervenbiopsie: In seltenen Fällen kann eine Nervenbiopsie erforderlich sein, um die Diagnose zu sichern.
Behandlung
Die Behandlung der CIP zielt in erster Linie darauf ab, die Grunderkrankung zu behandeln und die Risikofaktoren zu kontrollieren. Darüber hinaus können folgende Maßnahmen helfen:
- Physiotherapie: Physiotherapie ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung, um die Muskulatur zu stärken und die Beweglichkeit zu verbessern.
- Ergotherapie: Ergotherapie kann helfen, die Selbstständigkeit im Alltag wiederzuerlangen.
- Logopädie: Logopädie kann bei Sprech- und Schluckstörungen helfen.
- Schmerztherapie: Schmerzen können mit Schmerzmedikamenten behandelt werden.
- Beatmungstherapie: Bei Atemnot kann eine Beatmungstherapie erforderlich sein.
Prognose
Die Prognose der CIP ist unterschiedlich und hängt von der Schwere der Erkrankung, der Grunderkrankung und dem Zeitpunkt des Therapiebeginns ab. Bei vielen Patienten bilden sich die Symptome innerhalb von Monaten bis Jahren vollständig zurück. In einigen Fällen können jedoch bleibende Schäden zurückbleiben.
Allerdings können nach zwei Monaten die meisten Patienten wieder mit dem Rollator laufen und bei der Hälfte der Patienten bilden sich die Symptome innerhalb weniger Monate vollkommen zurück.
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Erfahrungsberichte von Patienten
Viele Patienten, die eine CIP durchgemacht haben, berichten von einem langen und schwierigen Genesungsprozess. Sie betonen jedoch auch die Bedeutung von Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie. Einige Patienten haben sich in Selbsthilfegruppen organisiert, um sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.
Hier sind einige Auszüge aus Erfahrungsberichten von Patienten:
- "Ich bin zwar soweit wieder hergestellt, dass ich kurze Strecken mit UAgehstützen zurücklegen kann, zuhause auch zeitweise ohne Gehhilfen laufen kann, aber die Kraft in meinen Beinen ist noch nicht vollständig wiederhergestellt."
- "Wurde aus der Reha mit Rollstuhl entlassen und versuche nun, nach über einem Jahr (Oktober 2014), das Laufen wieder zu erlernen. Kann mit dem Rollator schon ca. 500m laufen."
- "Die Pfleger und Therapeuten haben mich motiviert, als ich am Boden war. So habe ich große Fortschritte gemacht."
- "Nach so langer Zeit, vielen Schmerzen und großer Mühe danke ich allen von Herzen, die mir geholfen haben noch eine Chance zum Leben zu bekommen."
- "Ich wollte unbedingt zurück in meine Wohnung! Schritt für Schritt hat sich Bärbel K. über Wochen und Monate ihr Leben zurückerobert. Mit dem Rollator zum Einkaufen, zur Physio, die Treppe hoch und runter, peu a peu eigenständig Dinge machen. Mit dem Enkel in die Eisdiele. Und irgendwann war er da, der Tag, an dem sie wieder selbständig leben konnte."
Forschung und aktuelle Entwicklungen
Trotz der hohen Relevanz der CIP mangelt es an Forschung zu Prognosestellung, Krankheitsverlauf und Therapieansätzen. Aktuelle Forschungsprojekte zielen darauf ab, die Ursachen und Risikofaktoren der CIP besser zu verstehen und neue Therapieansätze zu entwickeln. Ein Beispiel für ein solches Projekt ist die prospektive Kohortenstudie PRiVENT, die darauf abzielt, mehr Wissen über die relevante Erkrankung CIP/CIM zu generieren, um letztlich die Versorgung der betroffenen Patienten zu verbessern.
Das Ziel von PRiVENT ist es, beatmete Patient:innen möglichst schnell von der Beatmung zu entwöhnen.
Fallbeispiel Frau Müller
Frau Müller war 65 Jahre alt, als sie sich mit Corona infizierte. Sie litt bereits unter einer Reihe von Erkrankungen: Adipositas, Schlafapnoe und Bluthochdruck. Unsere Geschichte beginnt, als Frau Müller kaum noch Luft bekam und ins Krankenhaus musste. Eine erste Untersuchung ergab ein akutes Atemnotsyndrom (ARDS). Der Sauerstoffgehalt im Blut von Frau Müller war bereits kritisch niedrig. Die Situation verschlimmerte sich sehr schnell dramatisch. Frau Müller bekam eine Blutvergiftung, die auch als Sepsis bezeichnet wird und bei ihr zu einem Multiorganversagen führte. Frau Müller musste auf die Intensivstation verlegt und beatmet werden. Begleitend hatte sie sogenannte „Critical Illness Polyneuropathie/Myopathie“ (CIP/CIM) entwickelt: Die Infektion und vor allem die Entzündungsreaktion des Körpers griffen die Nerven an. Dadurch konnten die Muskeln nicht mehr richtig arbeiten - auch die Atemmuskulatur war davon betroffen. Drei Monate lang musste Frau Müller über eine Trachealkanüle invasiv beatmet werden. Drei Monate, in denen sie auch immer wieder mit Infektionen und Phasen eines hyperaktiven Delirs kämpfen musste - einem Zustand der Verwirrung, der häufig bei kritisch kranken Patient:innen auftritt. Sobald es möglich war, wurde Frau Müller mobilisiert. Sie war wach und orientiert und konnte auch wieder in einem Stuhl sitzen. Doch obwohl Frau Müller ab einem gewissen Punkt tagsüber wieder über eine Spontanatmung verfügte, gelang die Entwöhnung von der invasiven Beatmung nicht. Spontanatmung bedeutet, dass sie selbstständig und ohne maschinelle Unterstützung ein- und ausatmen konnte. Ein entscheidender Moment in ihrer Genesung war für Frau Müller das Weaning-Konsil im Rahmen des PRiVENT-Protokolls. Da das behandelnde Krankenhaus nicht über die Möglichkeiten verfügte, um Frau Müller von der Beatmung zu entwöhnen, kam man gemeinsam zu dem Schluss, sie in das betreuende Weaning-Zentrum zu verlegen. Hier wurde ein genau auf Frau Müller abgestimmter Weaning-Prozess erarbeitet und konsequent verfolgt. Nach diesem Erfolg wurde eine nicht-invasive Beatmung (NIV) eingeleitet, um Frau Müllers Atmung weiter zu unterstützen. Dies war besonders wichtig, da der Verdacht auf eine obstruktive Schlafapnoe (OSAS) bestand. Die NIV wurde begleitet von intensivierter Physiotherapie, die entscheidend für ihre weitere Erholung war. Worunter Frau Müller jedoch trotz der intensiven Physiotherapie im Weaning-Zentrum weiterhin litt, waren Lähmungen in ihren Armen und Beinen. Darum wurde für Frau Müller ein Antrag auf eine neurologische Rehabilitation gestellt. Bis sie einen Platz in der Reha erhielt, wurde sie zunächst zurück in das ursprüngliche Krankenhaus verlegt. Sechs Monate nach der Rücküberweisung ins Krankenhaus und elf Monate nach Beginn der Erkrankung wurde Frau Müller aus dem Krankenhaus in eine geriatrische Anschlussrehabilitation verlegt.
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Fallbeispiel Djordje Jovanovich
Ein weiteres Beispiel ist der Fall von Djordje Jovanovich, einem 72-jährigen Mann, der nach einer langen internistischen Krankheit mit vielen Komplikationen eine Critical-Illness-Polyneuropathie entwickelte. Er kam bettlägrig und vollständig pflegebedürftig in die Akutklinik des Reha-Zentrums Gernsbach. Durch eine intensive Frührehabilitation konnte er jedoch große Fortschritte machen und schließlich wieder selbstständig unterwegs sein.
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