Expertenstandard Demenz: Beziehungsgestaltung in der Pflege

Eine Demenzerkrankung stellt eine tiefgreifende Herausforderung dar, die nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Angehörigen und Freunde vor große Veränderungen stellt. Die Krankheit beeinträchtigt maßgeblich das Gedächtnis, die Interaktion und die Kommunikation der Betroffenen. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, das den Kontakt zu anderen Menschen benötigt, kommt der Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz eine besondere Bedeutung zu. Zwischenmenschliche Beziehungen sind für pflegebedürftige oder kranke Menschen oft noch wichtiger als für gesunde Menschen. Eine gezielte Beziehungsgestaltung kann dazu beitragen, den Patienten mehr emotionale Stabilität und Zufriedenheit zu ermöglichen.

Bedeutung der Beziehungsgestaltung

Bei der Beziehungsgestaltung steht im Vordergrund, wie ein Mensch Beziehungen zu anderen Personen aufbaut und beibehält. Dies betrifft nicht nur die Beziehung zwischen Pfleger und Patient, sondern auch die Beziehungen zu anderen Menschen im sozialen Umfeld des Patienten. Zieht ein neuer Bewohner in eine Pflegeeinrichtung ein, kennt er dort zunächst niemanden. Im Verlauf soll gefördert werden, dass die Beziehungen intensiviert werden und sich im besten Fall zu richtigen Freundschaften entwickeln. Der Mensch ist ein soziales Wesen und benötigt den Umgang mit anderen Menschen, um ein emotional erfülltes Leben zu führen. Dies gilt auch für Menschen, die an Demenz leiden.

Die Demenz ist weit verbreitet und betrifft, vor dem Hintergrund, dass die Menschen immer älter werden, zunehmend mehr Personen. Die Krankheit beeinträchtigt die kognitiven Fähigkeiten und kann teilweise schwere Beeinträchtigungen des Gedächtnisses hervorrufen. Die emotionale Wahrnehmung bleibt aber dennoch erhalten. Eine Demenzerkrankung ruft auch häufig Angst, Paranoia und Wahnvorstellungen hervor. Für Außenstehende sind diese heftigen Empfindungen oft nicht nachzuvollziehen. In solchen Momenten ist es umso wichtiger, dass der Patient Beziehungen zu anderen Menschen hat.

Expertenstandard Beziehungsgestaltung des DNQP

Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) hat den Expertenstandard Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz erstellt. Er soll Pflegekräften Empfehlungen und Anleitungen geben, die die Beziehungsgestaltung mit Demenzpatienten erleichtern. Die Expertenstandards des DNQP sollen die Grundlage für eine kontinuierlich verbesserte Qualität der Pflege in Deutschland bilden. Ein wichtiger Punkt dieses Expertenstandards ist, dass eine personenzentrierte Pflege von Demenzpatienten gefordert wird.

Der Expertenstandard fordert, dass die Beziehungsgestaltung von Akzeptanz, Vertrauen und Respekt geprägt sein sollte. Unterschiede zwischen Patient und Pflegekraft sollen außer Acht gelassen und hingenommen werden. Das stellt oftmals ein Problem da, da es vielen Menschen schwerfällt, mit den Auswirkungen der Demenz umzugehen. Das kann sich zum einen in Pflegeeinrichtungen zeigen, in denen Menschen mit Demenz und ohne Demenz zusammenleben. Zum anderen können solche Schwierigkeiten auch im sozialen Umfeld des Demenzpatienten auftreten. Etwa wenn langjährige Freunde sich abwenden, weil sie mit den Auswirkungen der Demenz nicht zurechtkommen. Sie fühlen sich nicht mehr als vollwertiges und gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft. Dabei stehen dann aber die Erwartungen unserer heutigen Gesellschaft im Vordergrund und nicht die Bedürfnisse und Wünsche des Patienten. Der Demenzpatient fühlt sich dadurch verstanden und angenommen. Diese Kompetenz sollen Pflegekräfte dann auch an andere Personen vermitteln.

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Der Expertenstandard richtet sich mit einer Anleitung an Pflegekräfte, die sie bei der Beziehungsgestaltung unterstützen soll. Demenzkranke verlieren nach und nach die Fähigkeit, sich zu orientieren, Informationen zu verstehen und einzuschätzen. Mit anderen Worten: Sie verstehen sich selbst und ihre Umwelt nicht mehr. Nach den Vorgaben des Expertenstandards sollen Sie ihm in dieser Situation Sicherheit und Halt bieten. Dies gelingt Ihnen am besten, wenn Sie erkennen, welche Unterstützung Ihr demenzerkrankter Patient benötigt.

Umgang mit Demenz in verschiedenen Stadien

  1. Zu Beginn der Erkrankung: Das Erinnerungsvermögen ist nur punktuell beeinträchtigt. Der oberste Grundsatz lautet: Achten Sie die Selbstbestimmung. Nehmen Sie die Person unbedingt ernst und respektieren Sie die Selbstbestimmung. Fördern Sie eigenständige Aktivität und bleiben Sie tolerant.

    Hinweis: Sie sind rechtlich dazu verpflichtet, die Selbstbestimmung Ihrer Patienten zu wahren. Äußert ein Patient, dass er etwas nicht tun möchte, müssen Sie dies akzeptieren.

  2. Fortgeschrittene Erkrankung: Der Patient kann sich Neues immer schlechter merken. Er lässt sich leicht ablenken und kann sich nur noch über kurze Phasen hinweg konzentrieren. Alltagsaktivitäten kann er nicht mehr ohne Hilfe ausführen. Die Einsichtsfähigkeit (auch in die Erkrankung) lässt nach. Er verkennt häufig optische und akustische Umgebungsreize.

    Unterstreichen Sie Ihre Worte immer durch Gestik und Mimik. Dies kann leichter und länger verstanden werden als Sprache. Akzeptieren Sie Verhaltensauffälligkeiten. Behalten Sie einen möglichst gleichförmigen Tagesablauf bei.

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    Tipp: Bleiben Sie gelassen.

  3. Späte Phase der Erkrankung: Der Patient hat kaum Erinnerungen, auch nicht an ganz frühe Lebensphasen. Das Sprachvermögen erlischt bis auf das Wiederholen einzelner Worte und Phrasen. Er versteht zunächst noch Körpersprache, später reduziert sich dieses Verständnis auf die Mimik. Die demenzerkrankte Person kann durch ihre verminderte Mobilität nicht mehr gezielt nach Reizen suchen oder Unangenehmes ausblenden. Daher ist es notwendig, dass Sie Reizüberflutung vermeiden und gezielt Sinnesanregungen anbieten.

    Tipp: Vermeiden Sie Reizüberflutung. Der Patient kann die verschiedenen Reize nicht zuordnen oder ausblenden.

Implementierung des Expertenstandards

Der Expertenstandard enthält ein 4-Phasenmodell, das die Vorgehensweise für seine Implementierung abbildet.

  1. Vorbereitung: Ganz zu Beginn des Prozesses sollten Sie sich Zeit für die Vorbereitung nehmen. Um den Expertenstandard umsetzen zu können, sollten Sie Ihre Mitarbeiter schulen und ihnen den Inhalt näherbringen.
  2. Konkretisierung: Nachdem das gesamte Pflegepersonal in die Implementierung miteinbezogen wurde, geht es an die Konkretisierung. Sie setzen sich mit dem Expertenstandard auseinander und arbeiten heraus, welche Prozesse in Ihrer Pflegeeinrichtung angepasst werden müssen.
  3. Überprüfung: Mit Hilfe eines Audit-Instruments überprüfen Sie, ob die Kriterien umgesetzt wurden.
  4. Dokumentation: Während der vier Phasen wird dann eine Projektverlaufsdokumentation erhoben. Sie notieren, welche Maßnahmen Sie einleiten, um die Kriterien des Expertenstandards umzusetzen.

Die Vorbereitungsphase und die Implementierung der vier Phasen sollen circa 6 Monate in Anspruch nehmen.

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Struktur, Prozess und Ergebnis des Expertenstandards

Der Expertenstandard gliedert sich in die Bereiche Struktur, Prozess und Ergebnis.

1. Haltung und Kompetenz

  • Struktur:
    • S1a: Die Pflegefachkraft hat eine person-zentrierte Haltung in der Pflege von Menschen mit Demenz entwickelt.
    • S1b: Die Pflegefachkraft hat das Wissen und die Kompetenz, Menschen mit Demenz zu identifizieren und damit einhergehende Unterstützungsbedarfe in der Beziehungsgestaltung fachlich einzuschätzen.
    • S1c: Die Einrichtung fördert und unterstützt eine personzentrierte Haltung für eine die Beziehung fördernde und - gestaltende Pflege von Menschen mit Demenz sowie ihren Angehörigen und sorgt für eine person-zentrierte Pflegeorganisation.
  • Prozess:
    • P1: Die Pflegefachkraft erfasst zu Beginn des pflegerischen Auftrags sowie anlassbezogen, schrittweise und unter Einbeziehung der Angehörigen bzw. anderer Berufsgruppen kriteriengestützt mit der Demenz einhergehende Unterstützungsbedarfe in der Beziehungsgestaltung, deren Auswirkungen auf seine Lebensund Alltagswelt sowie Vorlieben und Kompetenzen des Menschen mit Demenz.
  • Ergebnis:
    • E1a: Der Mensch mit Demenz wird durch die person-zentrierte Haltung der Pflegenden in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen.
    • E1b: Die Pflegedokumentation enthält, der Dauer und dem Anlass des pflegerischen Auftrags entsprechend, systematische und konkretisierende Hinweise auf mit der Demenz einhergehende Unterstützungsbedarfe in der Beziehungsgestaltung.

2. Planung und Durchführung

  • Struktur:
    • S2a: Die Pflegefachkraft verfügt über Kompetenzen zur Planung und Koordination von beziehungsfördernden und - gestaltenden Maßnahmen der Pflege von Menschen mit Demenz.
    • S2b: Die Einrichtung stellt sicher, dass die Pflege von Menschen mit Demenz auf Basis eines personzentrierten Konzepts gestaltet wird und verfügt über eine interdisziplinäre Verfahrensregelung, in der die Zuständigkeiten für beziehungsfördernde und - gestaltende Angebote definiert sind.
  • Prozess:
    • P2: Die Pflegefachkraft plant auf Basis einer Verstehenshypothese unter Einbeziehung des Menschen mit Demenz und seiner Angehörigen sowie den beteiligten Berufsgruppen individuell angepasste beziehungsfördernde und -gestaltende Maßnahmen.
  • Ergebnis:
    • E2: Eine person-zentrierte, die identifizierten Unterstützungsbedarfe und mögliche fluktuierende Zustände berücksichtigende Maßnahmenplanung liegt vor und ist allen an der Pflege des Menschen mit Demenz beteiligten Personen bekannt.

3. Anleitung, Schulung und Beratung

  • Struktur:
    • S3a: Die Pflegefachkraft verfügt über Wissen und Kompetenzen zur Information, Anleitung, Schulung und Beratung über beziehungsfördernde und -gestaltende Angebote sowie deren Einbindung in Alltagssituationen.
    • S3b: Die Einrichtung schafft Rahmenbedingungen für individuelle Anleitungen und Schulungen von Angehörigen und stellt zielgruppenspezifische Materialien für Information, Anleitung, Schulung und Beratung über beziehungsgestaltende Maßnahmen zur Verfügung.
  • Prozess:
    • P3a: Die Pflegefachkraft informiert, leitet an oder berät den Menschen mit Demenz entsprechend seiner Fähigkeiten über beziehungsfördernde und -gestaltende Angebote.
    • P3b: Die Pflegefachkraft informiert, leitet an, schult und berät die Angehörigen proaktiv und anlassbezogen über beziehungsfördernde und - gestaltende Maßnahmen in Alltags- und Ausnahmesituationen.
  • Ergebnis:
    • E3a: Information, Anleitung oder Beratung des Menschen mit Demenz und seine Reaktionen auf das Angebot sind dokumentiert.
    • E3b: Die Angehörigen des Menschen mit Demenz kennen die Notwendigkeit und Bedeutung beziehungsfördernder und -gestaltender Maßnahmen.

4. Maßnahmen und Angebote

  • Struktur:
    • S4a: Die Pflegefachkraft kennt beziehungsfördernde und - gestaltende Angebote und ist in der Lage, die Pflege von Menschen mit Demenz darauf auszurichten.
    • S4b: Die Einrichtung schafft Rahmenbedingungen für personzentrierte, beziehungsfördernde und -gestaltende Angebote und sorgt für einen qualifikationsgemäßen Kenntnisstand aller an der Pflege Beteiligten.
  • Prozess:
    • P4: Die Pflegefachkraft gewährleistet und koordiniert das Angebot sowie die Durchführung von beziehungsfördernden und - gestaltenden Maßnahmen. Gegebenenfalls unterstützt sie andere an der Pflege des Menschen mit Demenz Beteiligte.
  • Ergebnis:
    • E4: Die Pflege des Menschen mit Demenz wird beziehungsfördernd und -gestaltend durchgeführt.

5. Evaluation

  • Struktur:
    • S5a: Die Pflegefachkraft verfügt über das Wissen und die Kompetenz zur Evaluation beziehungsfördernder und - gestaltender Pflege.
  • Prozess:
    • P5: Die Pflegefachkraft überprüft laufend die Wirksamkeit der beziehungsfördernden und - gestaltenden Maßnahmen.

Bedeutung der Beziehungsgestaltung in der Pflege

Die Beziehungsgestaltung ist ein wichtiger Punkt in der Pflege von Patienten mit Demenz. Durch die Krankheit werden sie häufig ausgeschlossen und gemieden. Eine gezielte Beziehungspflege soll dem entgegenwirken: Der Patient soll sich als Teil einer Gemeinschaft fühlen und von Ihnen unterstützt werden. Durch beziehungsfördernde- und gestaltende Maßnahmen soll dem Patienten zu neuen Beziehungen verholfen werden und bereits bestehende sollen beibehalten und intensiviert werden.

Begründung: Beziehungen zählen zu den wesentlichen Faktoren, die aus Sicht von Menschen mit Demenz Lebensqualität konstituieren und beeinflussen. Durch person-zentrierte Interaktions- und Kommunikationsangebote kann die Beziehung zwischen Menschen mit Demenz und Pflegenden sowie anderen Menschen in ihrem sozialen Umfeld erhalten und gefördert werden.

Personenzentrierte Pflege und das Demenz-Balance-Modell

In der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz geht es um eine veränderte Perspektive, eine andere Haltung und bewusstes, empathisches Interagieren: weg von der funktionalen Ausrichtung hin zum Erhalt und zur Stärkung der Person. Menschen mit Demenz verlieren immer mehr Kompetenzen, wodurch ihr Identitätsgefüge aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Damit sich Pflegekräfte besser in diese Situation einfühlen können, hat Barbara Klee-Reiter das Demenz-Balance-Modell erarbeitet.

Fragen zur Selbstreflexion im Rahmen der personenzentrierten Pflege

  • Wie erlebt die Person sich selbst, andere Menschen, ihre Welt?
  • Aus welchem Denken, Fühlen, Erleben heraus ergeben die Verhaltensweisen, Befindlichkeiten und Erscheinungsweisen einen subjektiven Sinn?

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