Schmerzen gehören zu den häufigsten Symptomen in der pflegerischen Praxis und beeinträchtigen die Lebensqualität massiv. Gerade bei Menschen mit Demenz stellt das Schmerzmanagement eine besondere Herausforderung dar, da sie oft nicht mehr in der Lage sind, ihre Schmerzen verbal zu äußern. Der Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP) bietet hier eine wichtige Orientierung.
Einführung in das Schmerzmanagement bei Demenz
Die Krankheit Demenz ist eine der häufigsten Krankheiten im Alter, die mit einem fortschreitenden Verlust der geistigen Fähigkeiten einhergeht. Angesichts der steigenden Lebenserwartung ist mit einem deutlichen Anstieg der Zahl von Demenzkranken zu rechnen. Diesen muss eine umfassende, aufmerksame Pflege zuteil werden, die auch die Schmerzlinderung einschließt, vor allem weil Betroffene häufig nicht mehr selbst über ihre Empfindungen Auskunft geben können.
Eine große Problematik im Kontext von Demenzerkrankungen sind altersbedingte Schmerzen und das Schmerzmanagement bzw. die Schmerzbehandlung. Schmerzen treten bei einem Großteil von Demenzpatienten auf, können allerdings kaum oder gar nicht geäußert werden, was die Schmerzerkennung und -erfassung sowie letztlich auch die Schmerztherapie bzw. Schmerzbehandlung erschwert. Funktionelle Veränderungen im Gehirn können auch zu einer veränderten Schmerzreaktion führen, die sich äußerlich besonders durch eine Verstärkung von demenzbedingten Symptomen bemerkbar macht. Neuere Methoden der Schmerzerfassung ermöglichen es jedoch, auch im fortgeschrittenen Stadium von Demenz Schmerzen zuverlässig zu erkennen, die Schmerzintensität einzuordnen und sie anschließend mithilfe einer entsprechenden Schmerztherapie zu behandeln und zu lindern.
Der Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege
Der Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege des DNQP hat das Ziel, dass jede Person mit akuten, chronischen oder zu erwartenden Schmerzen ein individuell angepasstes, wirksames Schmerzmanagement erhält. Er soll die Entstehung und Chronifizierung von Schmerzen vermeiden, Schmerzen lindern und Lebensqualität sowie Funktionsfähigkeit erhalten. Pflegefachpersonen sollen Schmerzen frühzeitig erkennen, bewerten und gezielt Maßnahmen planen. Der Fokus liegt dabei auf einer ganzheitlichen, individuellen Betrachtung des Schmerzgeschehens.
Ein Perspektivwechsel in der Pflege
Ein zentraler Aspekt des Expertenstandards ist das bio-psycho-soziale Modell, das Schmerz als Zusammenspiel körperlicher, seelischer und sozialer Faktoren beschreibt. Emotionen, Stress, Einsamkeit oder Überforderung können Schmerzempfinden deutlich beeinflussen. Pflegefachpersonen berücksichtigen diese Zusammenhänge, um Betroffenen ganzheitlich zu helfen - mit Empathie, Gesprächsführung und gezielter Beobachtung. Die Aufgabe der Pflege liegt somit nicht nur in der Durchführung ärztlich verordneter Maßnahmen, sondern auch in der kontinuierlichen Begleitung, Schulung und Beratung von Betroffenen und Angehörigen.
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Akute und chronische Schmerzen
Der Expertenstandard unterscheidet klar zwischen akutem, chronischem und prozeduralem Schmerz. Akuter Schmerz ist eine normale physiologische Reaktion auf Gewebeschädigungen, während chronischer Schmerz über mindestens drei Monate besteht oder wiederkehrend auftritt und sich zu einer eigenständigen Erkrankung entwickeln kann. Häufig treten akute und chronische Schmerzen gleichzeitig auf, was pflegerische Fachkenntnisse erfordert, um Ursachen zu differenzieren und Behandlungsprioritäten richtig zu setzen. Der Übergang von akutem zu chronischem Schmerz wird als fließend und am individuellen Schmerz- und Krankheitserleben ausgerichtet betrachtet.
Stabile und instabile Schmerzsituationen
Der Standard beschreibt die stabile und die instabile Schmerzsituation. Eine stabile Situation liegt vor, wenn Betroffene ihre Schmerzen als akzeptabel empfinden und Alltagsaktivitäten bewältigen können. Instabil ist die Situation, wenn Schmerzen als unerträglich erlebt werden, die Beweglichkeit eingeschränkt ist oder Komplikationen in der Therapie auftreten. Pflegefachpersonen müssen Veränderungen im Schmerzerleben kontinuierlich beobachten, dokumentieren und interdisziplinär kommunizieren, um Maßnahmen gezielt anzupassen und Eskalationen zu vermeiden.
Schmerzassessment bei Menschen mit Demenz
Das pflegerische Schmerzassessment beginnt mit einem Screening, bei dem aktiv nach Schmerzen gefragt und das Verhalten der Betroffenen beobachtet wird. Wird Schmerz festgestellt, folgt ein differenziertes Assessment, das die Lokalisation, Intensität, Qualität, Dauer, auslösende und lindernde Faktoren sowie Auswirkungen auf Alltag und Stimmung umfasst.
Instrumente zur Schmerzeinschätzung
Zur Einschätzung können Pflegekräfte standardisierte Schmerzskalen nutzen. Die numerische Ratingskala (NRS), die visuelle Analogskala (VAS) oder die verbale Ratingskala (VRS) sind gängige Methoden der Selbsteinschätzung. Für Menschen mit eingeschränkter Kommunikationsfähigkeit empfiehlt der Expertenstandard Fremdeinschätzungsinstrumente wie das Critical-Care Pain Observational Tool (CPOT) oder die Beurteilung von Schmerzen bei Demenz (BESD). Die Schmerzeinschätzung sollte nur von ausgebildeten Pflegefachkräften angewendet werden.
BESD-Skala
Die BESD-Skala (Beurteilung von Schmerz bei Demenz) ist eine deutsche Übersetzung der PAINAD-Scale. In den Rubriken Atmung, negative Lautäußerung, Mimik, Körpersprache und Trostwahrnehmung werden Schmerzen konzeptualisiert. Die Verwendung dieser Schmerzskala erfordert, dass die Bewertungsperson den Patienten kennt und Abweichungen im Verhalten richtig deuten kann. Experten stufen die BESD-Skala zwar als effektiv zur Beurteilung durch Fachkräfte ein, Laien erzielen damit allerdings deutlich schlechtere Ergebnisse.
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BISAD-Skala
Die BISAD-Skala funktioniert ähnlich wie die BESD-Skala, umfasst allerdings auch die Veränderungen in der Beweglichkeit und im Sozialverhalten des Patienten. Hier ist es wichtig, Lähmungen vor der Bewertung auszuschließen, um ein Schmerzmanagement zu ermöglichen. Um BISAD anwenden zu können, muss der Betroffene und sein übliches Verhalten gut bekannt sein. Die Pflegeperson muss also einschätzen können, wie der Betroffene sich in den vergangenen Tagen verhalten hat. In ambulanten Settings ist der Einbezug von Informationen notwendig, die Angehörige geben können, um BISAD sinnvoll zu nutzen.
Serial Trial Intervention (STI)
Bei diesem neuartigen Verfahren wird davon ausgegangen, dass Schmerzen immer in einem negativen Verhalten resultieren und es spezifische Schmerzäußerungen gibt, welches auffordernden Charakter hat, also herausfordernd ist. Das bedeutet, dass eine negative Verhaltensänderung daraufhin untersucht wird, ob ihre Ursache schmerzlicher Natur ist und es sich um eine Schmerzäußerung handelt. Zuerst werden körperliche Bedürfnisse befriedigt und untersucht, ob sich das Verhalten um mehr als 50 % reduziert. Ist dies nicht der Fall, werden affektive Bedürfnisse befriedigt. In einem ersten Schritt des Schmerzmanagements erfolgen nicht-medikamentöse Maßnahmen, dann medikamentöse und im letzten Schritt Psychopharmaka.
Selbstauskunft als Goldstandard
Grundsätzlich hat auch bei Menschen mit Demenz die Selbstauskunft zu Schmerzen Vorrang. Die Schmerzselbsteinschätzung sollte somit immer als Goldstandard angesehen werden und gegenüber allen Fremdeinschätzungen bevorzugt oder und parallel angewandt werden. Wenn eine üblicherweise schmerzhafte Erkrankung, Verletzung oder ein ebensolcher Eingriff vorliegt, kann davon ausgegangen werden, dass der Betroffene Schmerzen hat.
Interprofessionelles Schmerzmanagement
Schmerzmanagement ist Teamarbeit. Ärzte verordnen medikamentöse Therapien, Pflegekräfte beobachten deren Wirkung, dokumentieren Nebenwirkungen und ergänzen nicht-medikamentöse Maßnahmen. Dazu gehören Lagerung, Wärmeanwendungen, Entspannungsverfahren oder Gespräche über Ängste und Erwartungen. Gerade bei chronischen Schmerzen zeigt sich, dass psychologische und soziale Unterstützung oft ebenso wichtig ist wie die Medikation.
Medikamentöse Schmerztherapie
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ein Schema zur medikamentösen Behandlung von Schmerzen entwickelt, das in drei Stufen unterteilt ist:
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- Stufe 1: Nicht-Opioidanalgetika bei leichten Schmerzen (z. B. Acetylsalicylsäure (ASS), Paracetamol, Metamizol, Diclofenac, Ibuprofen).
- Stufe 2: Schwache Opioidanalgetika bei leichten bis moderaten Schmerzen (z. B. Tramadol, Tilidin, Dehydrocodein), meist in Kombination mit Medikamenten der Stufe 1.
- Stufe 3: Starke Opioidanalgetika bei moderaten bis starken Schmerzen (z. B. Morphin).
Es wird von einer Kombination aus Analgetika der Stufe 2 und 3 abgeraten, da beide Opioid-Arten über die gleichen Schmerzrezeptoren wirken und mit dieser Kombination keine Wirkungssteigerung, aber eine Steigerung der Nebenwirkungen zu erwarten wäre.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen
Neben der medikamentösen Therapie gibt es verschiedene alternative Behandlungsmethoden gegen Schmerzen, wie etwa Kräuter- oder Aromatherapien, aber auch der Einsatz von Cannabis. Seit 2017 ist medizinisches Cannabis in Deutschland für therapeutische Zwecke zugelassen und auf Rezept erhältlich. Die Wirkung von Cannabis beruht hauptsächlich auf einer Veränderung der Wahrnehmung, wodurch beispielsweise Schmerzen oder psychische Beschwerden als weniger belastend empfunden werden können.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Die wichtigste Grundlage für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung ist die vertrauensvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit aus ausgebildeten Schmerzexperten (Pain Nurse, Algesiologische Fachassistenz), Schmerztherapeuten, Fachärzten, Psychologen, Physiotherapeuten, Angehörigen, Bezugspersonen und dem Bewohner selbst, um gemeinsam eine Strategie für mehr Lebensqualität erreichen zu können. Fallbesprechungen sind ein adäquates Mittel für eine erfolgreiche Schmerzbehandlung.
Qualitätsicherung und rechtlicher Rahmen
Auch wenn der Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege keine gesetzliche Vorschrift ist, gilt er als fachlicher Maßstab und Qualitätsreferenz. Nach § 11 SGB XI müssen Pflegeeinrichtungen nach dem allgemein anerkannten Stand pflegewissenschaftlicher Erkenntnisse arbeiten, der durch die DNQP-Standards definiert wird. Einrichtungen, die den Standard implementieren, verbessern nicht nur ihre Versorgungsqualität, sondern sichern auch ihre rechtliche Position.
Tipps für pflegende Angehörige
- Nehmen Sie sich Zeit: Nehmen Sie sich Zeit für Ihren pflegebedürftigen Angehörigen.
- Ablenkung ermöglichen: Sprechen Sie über alternative Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern.
- Angehörige ernst nehmen: Seien Sie offen für Schmerzäußerungen und nehmen Sie sie ernst.
- Bestärken Sie den Pflegebedürftigen: Bleiben Sie gelassen, wenn starke schmerzstillende Medikamente verordnet werden.
- Erkundigen Sie sich regelmäßig: Schmerzen können plötzlich entstehen oder sich schleichend entwickeln. Bleiben Sie am Ball und fragen Sie Ihren Angehörigen regelmäßig, wie er sich fühlt.
- Nehmen Sie Probleme ernst: Trotzdem sollten Sie die Äußerungen Ihres Angehörigen ernst nehmen.
- Setzen Sie Verordnungen um: Der Pflegebedürftige sollte die verordneten Medikamente und Therapien unbedingt einnehmen bzw. wahrnehmen.
- Lenken Sie ab: Mit Ausflügen in die Natur, einem Besuch im Tierpark oder durch einen Treff mit Freunden vergessen Pflegebedürftige ihre Schmerzen für einige Stunden.
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