Die Fibromyalgie, oft als Weichteilrheuma bezeichnet, ist eine chronische Schmerzerkrankung, die von bis zu 100 verschiedenen Symptomen begleitet sein kann. Betroffen sind etwa 1,6 Millionen Menschen in Deutschland, wobei Frauen mit 90 Prozent den Großteil der Betroffenen ausmachen. Die Erkrankung manifestiert sich meist zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr. Lange Zeit wurde das Krankheitsbild als psychosomatische Beschwerde abgetan, doch aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass es sich um eine eigenständige Krankheit mit konkreten Auslösern handelt, die Veränderungen im Gehirn verursacht.
Neuroplastizität und Schmerzgedächtnis bei Chronischen Schmerzen
Die moderne Schmerzforschung hat große Fortschritte gemacht und unser Verständnis von chronischen Schmerzen maßgeblich beeinflusst. Ein zentrales Thema ist die Frage, was Schmerzen chronisch werden lässt. Schmerzreize werden über Nozizeptoren im peripheren Nervensystem aufgenommen, im Rückenmark auf Neurone des Hinterhorns umgeschaltet und zum Gehirn weitergeleitet. Das Zentralnervensystem (ZNS) verfügt über Mechanismen zur Regulation des Schmerzempfindens, wie beispielsweise absteigende Hemmungssysteme vom Hirnstamm zum Rückenmark, die sensorische Informationen kontrollieren. Dabei werden hemmende Botenstoffe wie Opioide ausgeschüttet.
Phänomene wie Phantomschmerzen legen nahe, dass sich im ZNS ein Schmerzgedächtnis (Engramm) bilden kann. Psychophysiologische Untersuchungen zeigen, dass im Nervensystem plastische Veränderungen stattfinden können, die chronische Schmerzen verursachen oder begünstigen. So sind evozierte Potentiale auf Schmerzreize bei Schmerzpatienten oft erhöht und zeigen eine geringere Habituation als bei gesunden Menschen.
Wie trägt die Neuroplastizität des ZNS zur Entstehung chronischer Schmerzen bei? Persistierende noxische Reize können im Nervensystem zu biochemischen, molekularbiologischen und funktionellen Langzeitveränderungen führen. Nach Durchtrennung eines peripheren Nervs werden in den betroffenen Neuronen langfristig neue Transmitter gebildet, während bekannte nozizeptive Transmitter herunterreguliert werden. Dies stört das Zusammenspiel erregender und hemmender Faktoren bei der spinalen Schmerzverarbeitung.
Neuropeptide und Migräne
Auch bei der Migräne spielt die Fehlregulation von Neuropeptiden eine wichtige Rolle. Die Störungen gehen vor allem von den perivaskulären Nervenfasern der meningealen Blutgefäße aus. Aus den Nervenenden werden Substanz P und CGRP ausgeschüttet, was einen Teufelskreis aus Peptidfreisetzung, Vasodilatation und vermehrter Erregung der Nozizeptoren in Gang setzt. Wirkstoffe wie Azetylsalizylsäure, Ergotamin und Sumatriptan können die Freisetzung der Neuropeptide bremsen und so den schmerzauslösenden Kreislauf unterbrechen.
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Veränderungen in Spinalen Zentren
In den spinalen Zentren, die Schmerzinformationen aufnehmen und verarbeiten, finden sich bei Schmerzreizen und Nervenverletzungen multiple langfristige Veränderungen. So steigt zum Beispiel in Rückenmarksneuronen die Opioidsynthese, während die spinalen Neurone auf externes Morphin vermindert ansprechen. Dies erklärt, warum neuropathische Schmerzen weniger gut auf eine Opioidbehandlung ansprechen und die Dosis des Schmerzmittels erhöht werden muss.
Viele zentrale Neurone werden leichter erregbar und beginnen sogar, spontane Entladungen zu erzeugen, wenn ein peripherer Nerv durchtrennt wurde oder die nichtmyelinisierten afferenten C-Fasern über längere Zeit wiederholt gereizt wurden.
Fibromyalgie: Erhöhte Schmerzempfindlichkeit und Chronischer Schmerz
Bei Fibromyalgie-Patienten tragen die verstärkte Expression von erregenden und die abgeschwächte Expression von hemmenden Transmittern wahrscheinlich zur erhöhten Schmerzempfindlichkeit und zum chronischen Schmerz bei. Auch Autoantikörper gegen Serotonin oder dessen Rezeptoren können die ständige hemmende Kontrolle des Schmerzempfindens durch diesen Transmitter blockieren. Trizyklische Antidepressiva wirken analgetisch, weil sie die Wiederaufnahme von Serotonin am präsynaptischen Spalt hemmen.
Genexpression und Neuroplastizität
Die beobachtete Neuroplastizität beruht auf Veränderungen der Genexpression. Nervenzellen enthalten induzierbare Gene (immediate-early genes), die durch noxische Reize aktiviert werden können. Schmerzreize induzieren Gene wie c-fos und c-jun. Die daraus resultierenden Proteine lösen die Transkription weiterer Gene und die Synthese der entsprechenden Proteine aus. Schmerzreize und andere pathophysiologische Situationen des Nervensystems induzieren also eine Kaskade von Genexpressionen in den Nervenzellen. Die Veränderungen bei den Neuropeptiden, erregenden und hemmenden Transmittern und die nach Nervenläsionen auftretende Übererregbarkeit im Rückenmark können auf solchen Beeinflussungen der Gentranskription beruhen.
Diese Vorgänge bewirken wahrscheinlich tiefgreifende und langfristige biochemische Funktionsverschiebungen im Nervensystem, zum Beispiel durch die Veränderung der Synthese von Neurotransmittern oder die Bildung modifizierter Rezeptorproteine. Dabei kann es zu pathologischen Fehlentwicklungen der neuronalen Funktionen kommen, die zu einer erhöhten Sensibilisierung führen und das Entstehen von Schmerzsignalen im Nervensystem begünstigen.
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Präventive Analgesie
Eine rechtzeitige Behandlung akuter Schmerzen sollte präventive Wirkung haben. Wenn man zum Beispiel bei einem chirurgischen Eingriff zusätzlich zur Narkose auch Analgetika oder Lokalanästhetika zur Blockade der sensiblen Nerven aus dem Operationsgebiet gibt, sollte man langwirkende Veränderungen im Zentralnervensystem vermeiden können, die sonst als "Engramm" oder "Gedächtnisspur" der Schmerzsituation haften bleiben. Eine solche Schmerzbehandlung sollte frühzeitig einsetzen und lange genug andauern. Bei Amputation einer Extremität unter (zusätzlicher) Lokalanästhesie des zu durchtrennenden Nervs oder des Rückenmarks kann die Inzidenz späterer Phantomschmerzen weit abgesenkt werden. Wiederholte frühzeitige Nerven- oder Sympathikusblockaden mit einem Lokalanästhetikum können auch das Auftreten einer postherpetischen Neuralgie verhindern.
Strukturelle Veränderungen im Gehirn bei Fibromyalgie-Patienten
Mithilfe von Kernspintomographien (MRT) konnten Forscher die Gehirne von gesunden und an Fibromyalgie erkrankten Probandinnen vergleichen. Veränderungen des Volumens der grauen Substanz wurden vor allem in den Regionen gefunden, die für die Verarbeitung und Bewertung von Schmerz zuständig sind. „In bestimmten Regionen, die für die Hemmung von Schmerz zuständig sind, haben wir bei den Patientinnen im Vergleich zu den gesunden Personen eine Verringerung der grauen Substanz festgestellt“, erklärt Benjamin Mosch.
Was die Weiterleitung von Signalen anbelangt, fanden die Wissenschaftler Veränderungen im Thalamus, einem wichtigen Knotenpunkt der neuronalen Schmerzverarbeitung. Das Volumen einer Reihe relevanter Gehirnregionen ist geringer, je stärker die Patientinnen ihre Schmerzen wahrnehmen. Das Volumen der Gehirnregion des Putamens korrelierte negativ mit der Ausprägung depressiver Symptome und positiv mit dem Aktivitätsniveau der Teilnehmerinnen.
Kommunikationsstörungen im Gehirn
Normalerweise sorgt ein geregeltes Zusammenspiel aufsteigender erregender und absteigender hemmender Einflüsse für eine normale Schmerzempfindung. Bei Fibromyalgie wird als Ursache für Schmerzen eine Kommunikationsstörung zwischen Frontalhirn, Cingulum und Kern-Arealen im Bereich des Aquäduktes vermutet, wo die Zentren des absteigenden Schmerz-Hemmsystems liegen. Studien zeigten bei Fibromyalgie-Patienten vermehrt somatosensorisch evozierte Potentiale und eine erhöhte Aktivität im Gyrus cinguli.
SPECT-Untersuchungen und Blutfluss im Schmerzzentrum
Französische Wissenschaftler haben mithilfe einer speziellen Computertomografie nachgewiesen, dass der Blutfluss im Schmerzzentrum von Fibromyalgie-Patienten stark verändert ist. Sie sehen darin einen weiteren Beweis dafür, dass es sich bei der Fibromyalgie um eine eigenständige Krankheit mit konkreten Auslösern handelt.
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Mithilfe der Einzelphotonen-Emmissions-Computertomografie (SPECT) wurde festgestellt, dass der Blutfluss im Schmerzzentrum der kranken Frauen anders war als bei den gesunden: Im Areal, das erkennt, wie intensiv ein Schmerz ist, floss das Blut deutlich stärker, im Gebiet, das die psychische Reaktion auf Schmerzen verarbeitet, wesentlich schwächer.
Neuroinflammation als Ursache?
Eine kombinierte MR/PET-Untersuchung deutet darauf hin, dass die Fibromyalgie in einem Teil der Fälle durch eine Neuroinflammation ausgelöst werden könnte. Als Nachweis der Neuroinflammation diente ein PET-Tracer, der an das Protein TSPO bindet, das von aktivierten Gliazellen überexprimiert wird. Bei den Fibromyalgie-Patienten wurden Belege für eine Neuroinflammation gefunden. TSPO-Level im Gyrus cingulus korrelierten bei den Patienten mit dem Grad an Fatigue.
Schädigung Kleinkalibriger Schmerzleitender Nervenfasern
US-Forscher berichten über Hinweise darauf, dass die Fibromyalgie durch eine Schädigung kleinkalibriger schmerzleitender Nervenfasern in der Haut ausgelöst werden könnte. Würzburger Neurologen hatten ebenfalls Hinweise auf eine „Small Fiber“-Neuropathie gefunden.
Die Fibromyalgie-Patienten zeigten in einer quantitativen sensorischen Testung (QST) eine verminderte Wahrnehmung für Kälte- und Wärmereize. In Stanzbiopsien der Haut fanden die Forscher eine deutliche Reduktion der Anzahl der kleinen Nervenfasern, die in der Haut an der Schmerzempfindung beteiligt sind.