Gähnen, ein alltägliches Phänomen, das oft mit Müdigkeit oder Langeweile in Verbindung gebracht wird, ist in Wirklichkeit ein komplexer Vorgang, der viel über den Zustand unseres Gehirns und unsere sozialen Interaktionen verrät. Von Föten im Mutterleib bis hin zu Erwachsenen, die sich gegenseitig anstecken, ist das Gähnen allgegenwärtig. Doch was steckt wirklich dahinter?
Was ist Gähnen eigentlich?
Ein Gähnen dauert etwa sechs Sekunden und ist beim Menschen so weit verbreitet wie Lachen und im hohen Maße ansteckend. Es ist ein reflexartiges Verhalten, das sich in drei Phasen untergliedern lässt:
- Einatmungsphase: Eine lange, tiefe Einatmung, bei der wir reflexartig den Mund weit öffnen und die Gesichtsmuskulatur anspannen.
- Höhepunkt: Ein kurzer Moment der Anspannung.
- Ausatmungsphase: Eine schnelle Ausatmung.
Während dieses Vorgangs können die Augen tränen, und durch den Verschluss der Eustachi-Röhre, die das Mittelohr mit dem Nasen-Rachen-Raum verbindet, hören wir kurzzeitig schlechter.
Die vielfältigen Theorien des Gähnens
Die Wissenschaft hat im Laufe der Zeit verschiedene Theorien entwickelt, um das Phänomen des Gähnens zu erklären.
Die Sauerstoff-Hypothese - Eine widerlegte Annahme
Eine der ältesten Theorien besagte, dass Gähnen dazu dient, den Sauerstoffgehalt im Blut zu erhöhen. Hippokrates vermutete im alten Griechenland, dass beim Gähnen "schlechte Luft" (also CO₂) aus unseren Lungen entfernt wird. Im Jahr 1987 widerlegte der Neuropsychologe Robert Provine diese These jedoch, indem er zeigte, dass der Sauerstoffgehalt im Blut nicht mit der Gähnhäufigkeit zusammenhängt.
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Gähnen als Wachmacher - Eine umstrittene Idee
Eine weitere Erklärung besagt, dass Gähnen uns wacher macht. Der Neurologe Adrian Guggisberg überprüfte diese Theorie, indem er die Hirnströme von Versuchspersonen maß, die in einem dunklen Raum saßen. Obwohl er feststellte, dass die Probanden umso häufiger gähnten, je schläfriger sie wurden, blieben die Deltawellen im EEG auch nach dem Gähnen bestehen. Dies deutet darauf hin, dass Gähnen möglicherweise nicht direkt die Wachheit erhöht.
Die Gehirnkühlungs-Hypothese - Ein vielversprechender Ansatz
Die wohl überraschendste und aktuellste Theorie kommt von Andrew Gallup, Professor für Biopsychologie an der State University of New York: "Wir fanden heraus, dass Gähnen die Gehirntemperatur senkt und wir umso häufiger gähnen, je höher die Umgebungstemperatur ist." Diese Theorie geht davon aus, dass das Gehirn ähnlich wie ein Computer bei tieferen Temperaturen besser arbeiten kann. Das Gähnen soll dabei dem müden Denkorgan gleichsam einen Schubs verpassen: Das Aufreißen des Mundes bringt kühle Luft zu Blutgefäßen im Rachen, wodurch über den Blutfluss ein Kühlungseffekt für das Gehirn entsteht.
Evidenz für die Gehirnkühlungs-Hypothese
- Umgebungstemperatur: Studien haben gezeigt, dass die Häufigkeit des Gähnens von der Umgebungstemperatur abhängt. Menschen gähnen weniger, wenn es draußen sehr kalt oder zu warm ist.
- Jahreszeiten: Eine Studie in Arizona ergab, dass Menschen im Winter (bei durchschnittlich 22 Grad Celsius) häufiger gähnten als im Sommer (bei durchschnittlich 37 Grad Celsius).
- Temperaturregulationsstörungen: Menschen mit Temperaturregulationsstörungen des Gehirns, wie sie bei Migräne, Epilepsie und Multiple Sklerose auftreten, müssen mitunter viel gähnen. Manche Menschen mit Migräne erleben sogar regelrechte Anfälle, bei denen sie pausenlos gähnen müssen, kurz bevor eine Migräne-Attacke einsetzt.
- Gehirngröße: Der Psychologe Andrew Gallup behauptet, dass die durchschnittliche Gähnlänge bei Säugetieren zuverlässig die Gehirngröße und die Anzahl der kortikalen Neuronen vorhersagt.
Die soziale Komponente des Gähnens
Gähnen ist nicht nur ein physiologischer Reflex, sondern auch ein soziales Phänomen. Es ist bekannt, dass Gähnen ansteckend ist, insbesondere bei Menschen, die uns nahestehen.
Ansteckendes Gähnen und Empathie
Studien haben gezeigt, dass empathischere Menschen sich eher vom Gähnen anderer anstecken lassen. Dies könnte mit der Aktivität von Spiegelneuronen im Gehirn zusammenhängen, die es uns ermöglichen, uns in andere hineinzuversetzen und ihre Handlungen zu imitieren. Allerdings ist die Rolle der Spiegelneuronen beim ansteckenden Gähnen noch nicht vollständig geklärt.
Gähnen als Form der sozialen Synchronisation
Eine weitere Theorie besagt, dass Gähnen der Stimmungsübertragung und Synchronisation von Gruppen dient. Wenn alle gleichzeitig müde oder wach sind, dient das dem Zusammenhalt. Dies könnte evolutionär sinnvoll sein, da es ein harmonisches Miteinander ermöglicht, wenn Menschen im Gleichtakt leben.
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Was passiert im Gehirn beim Gähnen?
Was genau im Gehirn beim Gähnen passiert, ist noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass ein komplexes Zusammenspiel verschiedener Hirnregionen beteiligt ist. Die motorische Ausführung des Gähnens wird vermutlich im Hirnstamm gesteuert. Zudem sind die Hypophyse und der Hypothalamus beteiligt. Letzterer produziert Oxytocin, das in der Hypophyse zwischengespeichert wird, und ebenso wie Dopamin in Experimenten mit Ratten Gähnen auslöste.
Wann sollten wir uns Sorgen machen?
In den meisten Fällen ist Gähnen harmlos und ein normaler Bestandteil des menschlichen Verhaltens. Häufiges Gähnen kann jedoch auch ein Warnzeichen sein. Starke Müdigkeit kann schließlich auch ernstere Ursachen haben, wie zum Beispiel Mangelernährung, Depressionen oder andere schwere Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Grundsätzlich sollte man sich aber von ein, zwei Gähnern nicht verunsichern lassen.
Was können wir gegen das Gähnen tun?
Es gibt keine wissenschaftliche Lösung gegen das Gähnen. Einige Tipps, um das Gähnen zu unterdrücken, sind:
- Bewusst durch die Nase ein- und ausatmen.
- Mit dem Finger auf die Zungenspitze tippen.
- Zähne fest zusammenbeißen, dabei aber weiter über die Lippen atmen.
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