Die Neuraltherapie, insbesondere die Anwendung am Ganglion stellatum, gewinnt zunehmend an Bedeutung in der Behandlung verschiedener funktioneller Störungen und chronischer Erkrankungen. Dieser Artikel beleuchtet die Grundlagen der Neuraltherapie, die spezielle Anwendung am Ganglion stellatum, ihre potenziellen Indikationen und die aktuelle Forschungslage.
Einführung in die Neuraltherapie
Die Neuraltherapie nach Huneke ist ein Regulationsverfahren, das darauf abzielt, gestörte Regelkreise im Körper wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie wurde in den 1920er-Jahren von den deutschen Ärzten Dr. med. Ferdinand und Dr. med. Walter Huneke entwickelt. Die Methode versteht sich als ganzheitlicher Ansatz, der nicht nur lokal wirkt, sondern körperweite biomechanische, neurovegetative und fasziale Regelkreise einbezieht. Die Neuraltherapie entfaltet ihre Wirkung sowohl lokal durch verbesserte Durchblutung, Schmerzlinderung und Entzündungshemmung als auch systemisch, indem sie übergeordnete Regulationsprozesse unterstützt, die das innere Gleichgewicht nachhaltig stabilisieren können.
Die zwei Hauptformen der Neuraltherapie
Die Neuraltherapie gliedert sich in zwei Hauptformen:
- Segmenttherapie: Hierbei werden kleinste Mengen eines Lokalanästhetikums in Form von Quaddeln direkt in die Haut der betroffenen Region injiziert. Dies beeinflusst das sympathische und parasympathische Nervensystem im jeweiligen Segment und reguliert vegetative Funktionen wie Kreislauf, Verdauung oder Urogenitalfunktion. Studien zeigen, dass niedrig dosierte Lokalanästhetika (z. B. Procain) bei chronischen Schmerzen, Entzündungsprozessen und weiteren funktionellen Störungen positive Effekte auf Schmerz, vegetative Regulation, Angst und Lebensqualität entfalten können.
- Störfeldtherapie: Der Begriff „Störfeld“ wurde in den 1930er-Jahren durch die Arztbrüder Dr. med. Ferdinand und Dr. med. Walter Huneke geprägt. Störfelder wirken vermutlich über neurovegetative, segmentale und zentralnervöse Mechanismen als chronische Reizquelle. In der praktischen Anwendung werden neuromodulatorische Trigger diagnostisch durch Injektion getestet, um die pathologische Reizweiterleitung nachhaltig zu unterbrechen.
Das Ganglion Stellatum: Ein zentraler Schaltpunkt
Das Ganglion stellatum, auch Sternenganglion genannt, ist ein wichtiger Nervenknoten im Halsbereich. Es kommt bei etwa 80 % der Menschen vor und ist eine Verschmelzung des Ganglions cervicalis inferior mit dem ersten Brustganglion. Es liegt in der Halswirbelsäule rechts und links paarig vor dem Querfortsatz des 6. Halswirbelkörpers. Das Ganglion stellatum ist eine Ansammlung von Nervenzellen, die wie ein Kreisverkehr funktioniert, an dem sich Nerven aus verschiedenen Richtungen bündeln und Informationen weiterleiten. Es besteht hauptsächlich aus Anteilen des sympathischen Nervensystems, das unter anderem die Durchblutung und Schmerzentstehung in seinem Versorgungsgebiet reguliert.
Wirkung der Stellatumblockade
Die Blockade des Ganglion stellatum (Stellatumblockade, SGB) zielt darauf ab, die Aktivität der zervikalen sympathischen Kette zu blockieren und den zerebralen Blutfluss zu erhöhen. Durch die vorübergehende Ausschaltung dieser Nerven können Schmerzen in einem Gebiet gelindert werden, das in etwa dem gleichseitigen Arm, dem oberen Brustkorb, dem Hals und einer Kopfhälfte entspricht. Die Infiltration erfolgt mit Lokalanästhetika und gegebenenfalls auch mit Opioiden.
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Indikationen für die Stellatumblockade
Der Stellatumblock wird seit vielen Jahren erfolgreich in der Schmerztherapie eingesetzt und kann auch bei einer Vielzahl anderer Beschwerden hilfreich sein, insbesondere wenn das vegetative Nervensystem aus dem Gleichgewicht geraten ist. Zu den potenziellen Indikationen gehören:
- Chronische Nervenschmerzen (z. B. CRPS)
- Phantomschmerzen
- Durchblutungsstörungen
- Schlafstörungen
- Hitzewallungen
- Zytokin-Überreaktionen ("Zytokinsturm") bei Virusinfekten
- Long-COVID-Symptome wie Müdigkeit, Brain Fog, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen und Kreislaufprobleme
- Dysregulation zwischen Sympathikus und Parasympathikus
- Allgemeine vegetative Fehlsteuerung nach Infektion oder Impfung
- Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Stellatumblockade bei PTBS
Die Stellatum-Ganglion-Blockade (SGB) wird zunehmend als potenzielle Behandlungsmethode für Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) untersucht, insbesondere bei US-Soldaten. Studien zeigen vielversprechende Ergebnisse zur schnellen Reduktion von PTBS-Symptomen. Eine multizentrische, randomisierte klinische Studie aus dem Jahr 2019 ergab, dass aktive Dienstmitglieder mit PTBS-Symptomen nach zwei SGB-Behandlungen im Abstand von zwei Wochen eine signifikante Verbesserung erfuhren. Unkontrollierte Fallserien berichteten, dass 70-75 % der Patienten nach einer SGB eine schnelle klinische Verbesserung der PTBS-Symptome zeigten. Eine Pilotstudie untersuchte die Kombination von SGB mit intensiver Expositionstherapie und fand heraus, dass diese Kombination zu einer größeren Reduktion der PTBS-Symptome führte als jede der beiden Behandlungen allein. Das US-Militär führt derzeit weitere Studien durch, um die Wirksamkeit der SGB bei PTBS zu evaluieren.
Stellatumblockade bei Long-COVID
Aktuell bietet die Medizin wenig Möglichkeiten, das Long-COVID-/Post-COVID- oder das Post-Vaccine-Syndrom zu behandeln. Allerdings zeigt die Behandlung mittels Neuraltherapie, insbesondere die Stellatumblockade, sehr gute Erfolge. Das deutsche Ärzteblatt wies am 18.02.2022 auf diese Behandlung hin und bezeichnete die „Stellatumblockade als neuen Ansatz bei Long COVID denkbar“.
Eine kurzfristige Blockade des Sternganglions (Ganglion stellatum) mittels Lokalanästhesie verminderte in einer kleinen Fallserie Long-COVID-Symptome. Infolge einer COVID-19-Infektion entwickeln etwa 30 % der Patienten nach symptomatischem und 5 % nach asymptomatischem Verlauf Long-COVID-Symptome wie Fatigue, orthostatische Intoleranz, Anosmie und Ageusie/Dysgeusie, Kurzatmigkeit, Schlafstörungen, Fieber, gastrointestinale Symptome, Angstzustände und Depressionen.
Long-COVID-Symptome ähneln teilweise dem chronischen Erschöpfungssyndrom oder dem Posturalen Tachykardiesyndrom, die mit reduzierten zerebralen Blutflüssen assoziiert sind. Darüber hinaus begünstigen persistierende entzündungsbedingte Interaktionen zwischen Immun- und Nervensystem Long-COVID-Symptome.
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Am Beispiel von Patientinnen mit Long-COVID wurden Verbesserungen von Long-COVID-Symptomen unmittelbar und im weiteren Follow-up nach SGB dokumentiert, was darauf hindeutet, dass die zervikale sympathische Kette an Dysbalancen bei Long-COVID-Symptomen beteiligt ist. Die sofortigen Verbesserungen der Geschmacks- und Geruchssinne könnten zum Beispiel auf den SGB-induzierten erhöhten zerebralen Blutfluss zurückzuführen sein.
Eine kurzfristige bilaterale Blockade des Sternganglions mittels Lokalanästhesie kann das lokale autonome Nervensystem zu einer Art „Neustart“ verhelfen, die mit einem Rückgang von Long-COVID-Symptomen assoziiert war. Die SGB könnte als neuartige Behandlungsoption zumindest für eine Untergruppe von Long-COVID-Patienten eine denkbare Intervention sein.
Weitere klinische Beispiele und Studien
Mehrere Fallstudien und Studien deuten auf die Wirksamkeit der Stellatumblockade bei verschiedenen Beschwerden hin:
- Eine aktuelle Fallstudie von Chevalier & Fischer (2025) beschreibt eine Patientin mit anhaltender supraventrikulärer Tachykardie (Herzrasen 170/min), die weder auf vagale Manöver noch auf Verapamil (Antiarrhythmikum) ansprach. Nach einem Stellatumblock mit Procain normalisierte sich der Herzrhythmus innerhalb einer Minute - und blieb über fünf Jahre stabil.
- Eine Studie von Fischer et al. (2021) zeigt, dass das autonome Nervensystem eine wichtige Rolle bei überschießenden Immunreaktionen (z. B. bei Covid-19) spielt. Ein Stellatumblock kann überaktive Entzündungsprozesse bremsen.
- In einer Fallstudie von Liu & Duricka (2021) besserten sich typische Long-COVID-Symptome wie Erschöpfung, Brain Fog und Kreislaufprobleme nach einem Stellatumblock deutlich.
- Bei einer Patientin mit hartnäckiger Gesichtsschmerz-Erkrankung (Trigeminusneuralgie) brachte der Stellatumblock laut Lopes & Fischer (2023) schnelle und anhaltende Besserung.
Durchführung der Stellatumblockade
Die Lokalisation des Ganglion stellatum ist anhand anatomischer Landmarken möglich. Vor allem bei schlanken Menschen ist der Querfortsatz des 6. Halswirbelkörpers gut zu ertasten. Die Infiltration erfolgt mit Lokalanästhetika und ggf. auch mit Opioiden.
Es ist wichtig zu beachten, dass die Durchführung der Stellatumblockade besondere Sorgfalt erfordert, insbesondere aufgrund der Nähe zu wichtigen Nerven- und Gefäßstrukturen im sensiblen Halsbereich.
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Die Wegefähigkeit ist nach der Stellatumblockade für 24 Stunden aufgehoben. Der Patient sollte also an dem Tag, an dem er eine solche Blockade bekommt, nicht am Straßenverkehr aktiv teilnehmen und auch keine komplizierten Maschinen bedienen, also auch in aller Regel nicht mehr arbeiten. Daher stellen wir für berufstätige Patienten an diesem Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aus. Patienten, die diese Behandlung erhalten, müssen sich demzufolge auch nach Hause transportieren lassen, da die mangelnde Verkehrstüchtigkeit auch den öffentlichen Personennahverkehr einschließt.
Kritische Betrachtung und Evidenz
Obwohl die Neuraltherapie und insbesondere die Stellatumblockade vielversprechende Ergebnisse zeigen, gibt es auch Kritiker, die eine mangelnde Evidenz anmahnen. Es ist wichtig zu betonen, dass viele Bereiche der Medizin nicht evidenzbasiert sind und die Neuraltherapie eine individuelle Therapie darstellt, die nur unter bestimmten Voraussetzungen in ein klassisches Studiendesign aufgenommen werden kann.
Dr. H. Liertzer betont die Bedeutung der Expertenmeinung und die Notwendigkeit, die Neuraltherapie als Ergänzung zur konventionellen Therapie zu betrachten. Er weist darauf hin, dass die Weiterbildung in manueller Medizin sowie Neuraltherapie die orthopädische und traumatologische Ausbildung ergänzen sollte.
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