Demenz verändert die Welt der Betroffenen und ihrer Angehörigen. Erinnerungen verblassen, die Orientierung geht verloren, und die Kommunikation wird zunehmend schwieriger. In dieser herausfordernden Situation können Gedichte eine Brücke bauen, eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen und Momente des Wohlbefindens schaffen. Dieser Artikel beleuchtet die vielfältigen Möglichkeiten, wie Gedichte im Umgang mit Demenz eingesetzt werden können, gibt Beispiele für geeignete Gedichte und stellt Projekte vor, die sich dieser Aufgabe widmen.
Die Bedeutung von Gedichten für Menschen mit Demenz
Menschen mit Demenz erleben die Welt oft als fragmentiert und unübersichtlich. Gedichte können in dieser Situation Halt geben, da sie:
- Erinnerungen wecken: Vertraute Gedichte aus der Kindheit oder Jugend können tief im Langzeitgedächtnis verankert sein und positive Erinnerungen hervorrufen.
- Emotionen ansprechen: Gedichte können Gefühle wie Freude, Trost, Geborgenheit oder auch Melancholie ausdrücken und so einen Zugang zu den emotionalen Bedürfnissen der Betroffenen ermöglichen.
- Kommunikation fördern: Auch wenn die verbale Kommunikation eingeschränkt ist, können Gedichte eine nonverbale Interaktion ermöglichen, beispielsweise durch gemeinsames Summen, Klatschen oder rhythmische Bewegungen.
- Ruhe und Entspannung bieten: Das Vorlesen von Gedichten in einer ruhigen Atmosphäre kann beruhigend wirken und Stress reduzieren.
- Kreativität anregen: Gedichte können als Ausgangspunkt für eigene kreative Aktivitäten dienen, wie z.B. Malen, Singen oder Tanzen.
Geeignete Gedichte für Menschen mit Demenz: Beispiele
Die Auswahl der Gedichte sollte sich an den individuellen Vorlieben, der Biografie und dem aktuellen Zustand des Betroffenen orientieren. Generell eignen sich Gedichte, die:
- Einfach und verständlich sind: Klare Sprache, einfache Reimschemata und vertraute Themen erleichtern das Verständnis.
- Positive Emotionen vermitteln: Fröhliche, humorvolle oder tröstende Gedichte sind oft besser geeignet als traurige oder düstere.
- Bezug zur Lebenswelt haben: Gedichte über Natur, Jahreszeiten, Kindheit, Familie oder vertraute Orte können Erinnerungen wecken und eine Verbindung zur Vergangenheit herstellen.
- Kurz sind: Kürzere Gedichte sind leichter zu erfassen und zu behalten.
- Rhythmus und Reim haben: Rhythmische und gereimte Gedichte sind oft leichter zu merken und laden zum Mitsprechen oder Mitsingen ein.
Beispiele für geeignete Gedichte:
- Bekannte Volkslieder und Kinderreime: "Der Mond ist aufgegangen", "Alle Vögel sind schon da", "Hänschen klein"
- Gedichte von klassischen Dichtern: Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich Heine (Auswahl an positiv besetzten Gedichten)
- Gedichte von Ringelnatz, Heinz Erhardt: Humorvolle und alltagsnahe Gedichte
- Jahreszeitliche Gedichte: Gedichte über Frühling, Sommer, Herbst und Winter
- Mitsprechgedichte: Gedichte, bei denen die Zuhörer die letzten Wörter oder Silben ergänzen können
Beispiele für Mitsprechgedichte:
Urlaub am Meer
Sommer, Sonne, Ferienzeit -endlich Urlaub, endlich ist es … soweit!Vor allem die Kinder freuen sich sehrauf einen Urlaub am blauen … Meer!
Auf geht’s! Wir fahr'n an die schöne Adriawir wollen ans Meer, wie jedes … Jahr.Ein paar Vorbereitungen muss man schon machen -In den Koffer packen wir unsre sieben … Sachen.
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Zu viert im Kadett über'n Brennerpass -das ist ganz schön eng, das macht keinen … Spass!Doch bald sind wir in CesenaticoEndlich am Ziel - was sind wir … froh!
Wir bewundern staunend das blaue Meer -die Sonne strahlt und wir freuen uns … sehr!Wir liegen am Strand und tun nichts als zu lauschenwie wunderbar die Wellen … rauschen.
Ein Ferienhaus unter Olivenbäumen -das ist fast schöner als in unseren … Träumen!Die Kinder sind auf Pizza ganz versessen -daher gehen wir ins Ristorante zum … essen.
Pizza und Pasta sind ein Gedicht -an Kalorien denken wir heute mal … nicht!Der Urlaub geht vorbei wie im Flug -zwei Wochen sind einfach nicht … genug!
Wie schön war es doch am blauen Meer -der Abschied fällt uns wirklich … schwer!Arrivederci!
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Sommergedicht
Wie freu' ich mich der Sommerwonne,Des frischen Grüns in Feld und Wald,Wenn's lebt und webt im Glanz der SonneUnd wenn's von allen Zweigen schallt!
Ich möchte jedes Blümchen fragen:Hast du nicht einen Gruß für mich?Ich möchte jedem Vogel sagen:Sing, Vöglein, sing und freue dich!
Die Welt ist mein, ich fühl' es wieder:Wer wollte sich nicht ihrer freu'n,Wenn er durch frohe FrühlingsliederSich seine Jugend kann erneu`n?
Kein Sehnen zieht mich in die Ferne,Kein Hoffen lohnet mich mit Schmerz;Da wo ich bin, da bin ich gerne,Denn meine Heimat ist mein Herz.
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben
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Projekte und Initiativen: Weckworte und Alzpoetry
Einige Projekte haben sich der Aufgabe verschrieben, Gedichte und Poesie im Umgang mit Demenz zu fördern. Zwei Beispiele sind:
- Weckworte: Das Projekt "Weckworte" des Slam-Poeten Lars Ruppel hat das Ziel, Menschen mit Demenz durch Gedichte zu "wecken" und Pflegekräfte zu schulen, wie sie Gedichte in die tägliche Pflege integrieren können. Ruppel arbeitet dabei mit einer Vielfalt von Gedichten, von Dadaisten bis zu Rap-Texten, und legt Wert darauf, dass die Pflegekräfte Gedichte vortragen, die sie selbst mögen.
- Alzheimer's Poetry Project (Alzpoetry): Dieses Projekt wurde vom amerikanischen Poeten Gary Glazner ins Leben gerufen und hat zum Ziel, gemeinsam mit Alzheimerpatienten Gedichte zu sprechen, rhythmisch Texte aufzusagen, zu klatschen und zu improvisieren.
Diese Projekte zeigen, dass Gedichte eine wertvolle Ressource im Umgang mit Demenz sein können und dass sie dazu beitragen können, die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern.
Tipps für den Einsatz von Gedichten im Alltag
- Schaffen Sie eine angenehme Atmosphäre: Wählen Sie einen ruhigen Ort ohne Ablenkungen und sorgen Sie für eine entspannte Stimmung.
- Nehmen Sie sich Zeit: Hetzen Sie nicht und lassen Sie sich auf den Moment ein.
- Beobachten Sie die Reaktion des Betroffenen: Achten Sie auf nonverbale Signale wie Mimik, Gestik und Körperhaltung.
- Passen Sie die Auswahl der Gedichte an: Berücksichtigen Sie die individuellen Vorlieben, die Biografie und den aktuellen Zustand des Betroffenen.
- Variieren Sie die Vortragsweise: Lesen Sie langsam und deutlich vor, betonen Sie den Rhythmus und die Melodie der Gedichte.
- Beziehen Sie den Betroffenen ein: Laden Sie zum Mitsprechen, Mitsummen, Klatschen oder Tanzen ein.
- Nutzen Sie Gedichte als Ausgangspunkt für Gespräche: Sprechen Sie über die Themen, die in den Gedichten angesprochen werden, und wecken Sie Erinnerungen.
- Seien Sie geduldig und flexibel: Nicht jedes Gedicht wird die gewünschte Wirkung erzielen. Probieren Sie verschiedene Gedichte aus und passen Sie Ihre Vorgehensweise an.
- Schenken Sie Wärme, Liebe und Empathie: Ein Gefühl von Wärme und Sicherheit kann durch Wertschätzung, Anerkennung und Wissen vermittelt werden.
- Respektieren Sie die Grenzen des Betroffenen: Akzeptieren Sie, wenn der Betroffene keine Lust hat oder überfordert ist.
Die Zugfahrt als Metapher für Demenz
Die eingangs erwähnte Zugfahrt kann als Metapher für die Erfahrungen von Menschen mit Demenz dienen:
- Rückwärts bewegen: Das Gefühl, sich rückwärts zu bewegen und die Kontrolle zu verlieren, spiegelt die Erfahrung des Vergessens und des Verlusts von Fähigkeiten wider.
- Sekundenmomente: Das Vorbeiziehen von Bildern und Eindrücken in Sekundenbruchteilen kann das Gefühl der Fragmentierung und des Verlusts von Zusammenhängen verdeutlichen.
- Momente der Ruhe: Die Bedeutung von Ruhe und Geborgenheit für Menschen mit Demenz wird durch die beschriebenen RuheMomente hervorgehoben.
- Veränderung der Richtung: Die Veränderung der Zugrichtung und das Gefühl, wieder vorausschauen zu können, symbolisiert die Bedeutung von Sicherheit, Wertschätzung und Anerkennung im Umgang mit Demenz.