Gehirn und Geist: Eine komplexe Beziehung im Fokus der Forschung

Die Frage nach dem Verhältnis von Gehirn und Geist beschäftigt die Menschheit seit Jahrtausenden. Fortschritte in der Gehirnforschung, insbesondere in der Neurowissenschaft, werfen neue Fragen auf und bieten gleichzeitig Anknüpfungspunkte für interdisziplinäre Dialoge, beispielsweise mit der Philosophie des Buddhismus. Dieser Artikel beleuchtet die vielschichtige Beziehung zwischen Gehirn und Geist, aktuelle Forschungsergebnisse und unterschiedliche Perspektiven auf diese Thematik.

Neuronale Grundlagen von Geist und Bewusstsein

Die Neurowissenschaft versucht zu verstehen, wie angeborene und Umweltfaktoren unser Gehirn und letztlich unsere Gedanken und Gefühle formen. Sofie Valk, Leiterin der Forschungsgruppe "Kognitive Neurogenetik" am MPI CBS, untersucht, wie diese Faktoren die Struktur und Funktion des Gehirns beeinflussen. Das Gehirn ist ein komplexes System, das aus miteinander verbundenen Regionen besteht. Einzelne Hirnregionen im Cortex, der Großhirnrinde, sind räumlich so angeordnet, dass sie sowohl ihre Funktion als auch ihren genetischen Aufbau widerspiegeln. Diese einzigartige Anordnung des menschlichen Gehirns ermöglicht uns komplexe Funktionen wie Sozialverhalten und Vorstellungsvermögen. Die Organisation des Gehirns ist zwar bei allen Menschen vergleichbar, aber nicht genau gleich. Diese Unterschiede sind wiederum mit unterschiedlichem Verhalten verbunden, zum Teil aber auch mit Krankheiten, und sind auf genetische und umweltbedingte Faktoren sowie auf bestimmte Entwicklungspfade zurückzuführen.

Forschungsergebnisse zeigen, dass soziale Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen (Theory of Mind), mit bestimmten Hirnnetzwerken zusammenhängen. Mentales Training in diesen Bereichen kann die Struktur der einzelnen Hirnnetzwerke verändern. Studien haben auch gezeigt, dass sich die funktionellen und evolutionären Muster bei der Hirnorganisation von Menschen und Makakenaffen auf Makroebene sehr ähneln. Dies bietet Einblicke in die architektonischen Grundlagen der menschlichen Kognition. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass die Beziehung zwischen der lokalen Hirnstruktur und den fünf großen Persönlichkeitsmerkmalen (Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Geselligkeit, Verträglichkeit und emotionale Labilität) zum Teil durch gemeinsame genetische Faktoren bestimmt wird. Diese Verbindungen sind jedoch komplex und nicht immer verallgemeinerbar.

Die Forschungsgruppe "Kognitive Neurogenetik" führt verschiedene Projekte durch, um die Beziehung zwischen physiologischen Messungen und der Struktur und Funktion des Gehirns weiter zu erforschen und die Rolle von Angeborenem und Umwelt zu entzerren. Ein weiteres Projekt untersucht die genetischen Faktoren, die der Organisation des Hippocampus, der wichtigsten Gedächtnisstruktur, zugrunde liegen.

Psychoanalyse und Hirnforschung: Ein spannungsreiches Verhältnis

Psychoanalyse und Hirnforschung scheinen auf den ersten Blick Gegensätze zu sein. Analytiker sehen sich als Kenner des Seelenlebens, während Hirnforscher nach den materiellen Grundlagen psychischer Zustände suchen. Neurobiologen argumentieren, dass alles, was aus einem Menschen wird, bereits in den Genen eingeschrieben ist, während Psychoanalytiker prägende Kindheitserlebnisse als entscheidend ansehen.

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Francois Ansermet (Psychoanalytiker) und Pierre Magistretti (Neurowissenschaftler) haben sich jedoch zusammengetan, um die "Individualität des Gehirns" zu erforschen. Ihr Buch zeigt, dass Nervenzellen im Gehirn nicht nur Signale verarbeiten, sondern dass sich ihre Struktur durch die eingehenden Signale verändert (Plastizität). Diese Plastizität ist für die Neurobiologie von grundlegender Bedeutung, da sie ein dynamisches Verständnis des Nervensystems ermöglicht.

Die mehr als hundert Milliarden Neuronen in unserem Kopf tauschen Informationen über ihre Synapsen aus. Jedes Neuron bildet etwa 10.000 solcher Synapsen aus, an denen lebhaft kommuniziert wird. Die Erfahrungen des Individuums äußern sich als elektrische und chemische Veränderungen im Kommunikationsprozess. Die Art und Weise der Informationsverarbeitung im Gehirn ist also tatsächlich von den Wahrnehmungen und Erfahrungen des Individuums abhängig. Was man im Leben erfährt, hinterlässt eine Spur im Hirn.

Die neuronale Plastizität ermöglicht es der Neurobiologie, das Gehirn nicht nur als eine Informationsverarbeitungsmaschine mit starren Strukturen zu beschreiben, sondern ein dynamisches Verständnis der Prozesse unter der Schädeldecke zu gewinnen. Die Wirklichkeiten fallen nun auch für die Neurobiologen auseinander: In eine äußere Wirklichkeit, die für alle gleich ist und in eine innere Wirklichkeit, deren Entstehung bis in die neuronalen Prozesse hinein verfolgt werden kann. So wird es nun möglich, die psychoanalytischen Begrifflichkeiten des Unbewussten auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Im Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Wirklichkeit ist dann die Individualität eines jeden Gehirns zu erkennen.

Der Delfin im Kopf: Bewusstsein und unbewusste Prozesse

Die meisten von uns bezeichnen unsere Gedanken als "unsere eigenen bewussten Gedanken". In Wirklichkeit sind sie eher wie kognitive Delfine in unserem Kopf, die für kurze Zeit aus dem Ozean unseres Unterbewusstseins auftauchen, bevor sie wieder abtauchen. Die kognitive Verarbeitung im Gehirn verläuft parallel auf vielen Ebenen, und es gibt einen ständigen Wettlauf zwischen unseren Gedanken.

Empirische Studien zeigen, dass wir während unseres Wachlebens bis zu 50 Prozent keine Kontrolle über unsere Gedanken haben ("spontaneous task-unrelated thought" und "mind wandering"). Das autonome "Selbst" als Initiator oder Ursache unserer kognitiven Handlungen ist ein Mythos. Stabile kognitive Kontrolle ist die Ausnahme, während ihr Fehlen die Regel ist. Um einen inneren Monolog oder den ziellos wandernden Fokus der Aufmerksamkeit aber überhaupt stoppen zu können, müsste man sich des eigenen inneren Verhaltens zunächst einmal bewusst werden.

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Der soziokulturelle Kontext prägt die Art und Weise, wie wir über unsere eigenen inneren Erfahrungen berichten. Wenn wir Kindern schon früh sagen, dass sie für ihr eigenes Handeln voll verantwortlich sind, dann wird diese Annahme in ihr bewusstes Selbstmodell eingebaut. Das bewusste Selbstmodell des erwachsenen Menschen könnte daher zumindest teilweise eine aus dem soziokulturellen Kontext importierte post-hoc-Konfabulation sein - eine Kontrollillusion, die letztlich auch darauf beruht, wie wir soziale Interaktionen und eingefahrene Sprachspiele verinnerlicht haben.

Wer kritische Rationalität will, muss geistige Autonomie wollen. Rationalität kann man genauso trainieren wie innere Bewusstheit. Es gibt philosophische Angebote zur Argumentationstheorie, säkularen Meditationsunterricht und systematische Programme für die Entwicklung kritischer Medienkompetenz.

Historische Perspektiven auf das Gehirn

Die Beschäftigung des Menschen mit dem Gehirn lässt sich bis in die Steinzeit zurückverfolgen. Trepanationen, also absichtsvolle Öffnungen des Schädels, wurden bereits vor über 7000 Jahren durchgeführt. Im antiken Griechenland gab es Debatten über den Stellenwert des Gehirns innerhalb des Körpers. Hippokrates sah im Gehirn den Sitz des Denkens, während Aristoteles das Herz als Zentrum der Seele ansah.

Der römische Arzt Claudius Galen widersprach der aristotelischen Lehre und vermutete in den Ventrikeln des Gehirns den Sitz des Lebensgeistes (Spiritus animalis). Für 1000 Jahre fanden kaum mehr empirische Untersuchungen der sterblichen Hülle statt.

René Descartes trennte die beiden Bereiche des Daseins in res cogitans (denkende Substanz) und res extensa (ausgedehnte, körperliche Substanz). Er lokalisierte den Hauptinteraktionsort zwischen Leib und Seele in der Zirbeldrüse (Epiphyse).

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Franz Joseph Gall entwickelte die Phrenologie, die alle Fähigkeiten des Menschen in streng umrissenen Schädelbereichen verortete. Seine Theorie markiert die Entstehung eines neuen Menschenbildes, in dem alle geistigen und seelischen Zustände einen materiellen Ursprung haben.

Die Hirnforschung geht nun wiederholt den Weg des Negativbeweises. Von Ausfallerscheinungen zieht man Rückschlüsse auf die Funktion der beschädigten Teile des Hirns. Paul Broca konnte erstmals Sprache als ein cerebrales Phänomen lokalisieren.

Kriegsverletzungen des Gehirns im 19. und 20. Jahrhundert trugen zur Weiterentwicklung der Lokalisationstheorie bei. Diese wurde jedoch auch benutzt, um Hierarchisierungen, Polarisierungen, Sexismus und Rassismus wissenschaftlich zu begründen.

In der Hirnforschung bildete sich eine neue Metapher heraus, die sich auf die Kommunikationswege konzentriert. Das Hirn wurde mit einer Telegrafenstation verglichen, in der die Nerven auf elektrischen Bahnen mit den Befehlsempfängern im Körper verbunden sind. Später wurde das Hirn mit einem Computer verglichen.

Geist und Gehirn: Dualismus vs. Monismus

Grundsätzlich kann man sagen, dass das Gehirn ein physisches Organ und die Psyche die Summe aller bewussten und unbewussten geistigen Aktivitäten ist. Das Gehirn ist also ein materielles „Ding“, ein Objekt, die Psyche etwas Prozesshaftes. Beide hängen eng miteinander zusammen.

Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Sichtweisen auf diese Beziehung:

  • Dualismus: Gehirn und Geist sind etwas grundlegend Verschiedenes. Das Gehirn ist etwas, das man anfassen kann, die Psyche dagegen etwas, das man erlebt. Die Psyche ist mit dem Gehirn zwar verbunden und beeinflusst es, aber davon verschieden und kann im Prinzip vom Gehirn getrennt existieren. Dies entspricht dem traditionellen Konzept einer Seele.
  • Monismus: Gehirn und Geist sind keine getrennten Einheiten, sondern eine untrennbare Einheit. Der Geist ist eine Funktion des Gehirns, so ähnlich wie Verdauung eine Funktion des Magen-Darm-Traktes ist. Das würde bedeuten, dass geistige Funktionen mit bestimmten Funktionen des Gehirns identisch sind.

Das klassische philosophische Argument gegen die Identitätsthese lautet, dass Gehirn und Psyche nicht die identischen Eigenschaften haben. Das Objekt Gehirn kann ich anfassen und es nimmt Raum ein, doch ein Gedanke hat keine räumlichen Eigenschaften.

In zeitgenössischen Diskussionen geht es um die Frage, was denn die Kernmerkmale des Geistigen, Psychischen, Mentalen sind, die es als solches auszeichnen. Philosophen nennen in der Regel zwei zentrale Merkmale: Bewusstsein bzw. subjektives Erleben einerseits und Bedeutungshaftigkeit („Intentionalität“) andererseits.

Bedeutung erlangen Hirn- und damit psychische Zustände nur dadurch, dass die Prozesse, durch die wir Bedeutung generieren, nur dann funktionieren, wenn das Gehirn in einem Organismus beheimatet ist, dessen Körper also mit der Umwelt interagiert. Diese Auffassung wird Externalismus genannt. Ein wesentliches Merkmal des Psychischen ist nicht zu erklären ohne die Interaktion von verkörpertem Gehirn und Umwelt. Deswegen kann die Psyche nicht nur das Gehirn sein, auch wenn sie ohne Gehirn nicht sein kann.

Weitere Aspekte der Gehirnforschung

Die Gehirnforschung beschäftigt sich auch mit Themen wie:

  • Multiple Persönlichkeit: Experten forschen zu dissoziativen Phänomenen und der Frage, ob rituelle Gewalt in der Kindheit gezielt Persönlichkeitsspaltungen herbeiführt.
  • Long Covid und ME/CFS: Ursachen von ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom), den Versorgungsmangel in Deutschland und Hoffnung auf Medikamente.
  • Glücksparadox: Je mehr wir dem Glück hinterherjagen, desto weiter entfernt es sich.
  • Psychotherapeutische Patientenverfügung: Eine große Hilfe im psychischen Krisenfall.
  • Fibromyalgie: Eine noch immer rätselhafte Schmerzerkrankung, über deren Ursachen noch viel spekuliert wird.
  • Sucht: Die Gesichter der Sucht und die Frage, warum nicht jeder Mensch abhängig wird.
  • Persönlichkeit: Wie Charakterzüge entstehen, welche psychologischen Modelle überzeugen und was für einen Einfluss etwa die Darmflora auf unser Verhalten hat.
  • Schlaf: Unterschiede im Schlafverhalten und warum manche Menschen einen guten Schlaf haben und andere nicht.
  • Geistige Fitness: Wie wir Erkrankungen des Gehirns vorbeugen können.

Die Grenzen der Hirnforschung

Trotz der großen Fortschritte in der Hirnforschung gibt es weiterhin viele offene Fragen. Wie kann etwas Nichträumliches und Nichtstoffliches wie der Geist auf etwas Räumliches und Stoffliches wie die Materie wirken? Wie können materielle Ursachen geistige Wirkungen zeitigen?

Einige Wissenschaftler sind skeptisch, ob die Hirnforschung jemals in der Lage sein wird, die inneren Prozesse des Gehirns vollständig zu verstehen. Die Geschichte der Hirnforschung ist reich an Metaphern, mit denen sie sich ihren Gegenstand zu erklären sucht. Die Hirnforschung wird immer dann ganz schlecht, wenn es um die inneren Prozesse geht. Wie Gefühle entstehen und alle diese Sachen, da wird es ganz schwammig.

Das Ignorabimus-Argument von Du Bois-Reymond gibt dem modernen Menschen einen Spielraum, in dem er sich als Individuum erfinden kann, dessen Wünsche, Träume und Sehnsüchte weder in der Naturwissenschaft noch in der Technik jemals aufgehen werden.

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