Gehirn und Geschlecht: Eine differenzierte Betrachtung der Unterschiede

Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass sich Männer und Frauen in ihren Gehirnen unterscheiden. Während bekannt ist, dass Männer im Durchschnitt größere Gehirne haben als Frauen, ist weniger gut verstanden, wie sich das Gehirn zwischen den Geschlechtern funktionell unterscheidet. Aktuelle neurowissenschaftliche Forschungsergebnisse beleuchten diese komplexen Unterschiede und bieten neue Perspektiven auf die Rolle von Gehirnstruktur, Hormonen und Genexpression.

Strukturelle Unterschiede im Gehirn

Das männliche Gehirn ist durchschnittlich etwa 15 % größer und schwerer als das weibliche Gehirn. Dieser Unterschied bleibt auch nach Berücksichtigung der Körpergröße bestehen. Strukturelle Geschlechtsunterschiede zeigen sich sowohl makroskopisch als auch mikroskopisch. Im Neokortex hat das männliche Gehirn 15,5 % mehr Neurone als das weibliche. Außerdem weist der männliche Kortex in allen vier Hirnlappen eine höhere Anzahl und Dichte von Neuronen sowie ein größeres kortikales Volumen auf. Die kortikale Komplexität ist dagegen stärker bei Frauen ausgeprägt.

Eine aktuelle Studie, die Hirnscans von fast 1000 Erwachsenen auswertete, fand heraus, dass Frauen mehr graue Hirnsubstanz im Stirnhirn und den Scheitellappen haben, während Männer mehr Volumen in einigen hinteren und seitlichen Arealen des Cortex aufweisen, darunter auch im primären Sehzentrum.

Funktionelle Organisation und Konnektivität

Ausgehend von der Prämisse, dass die Gehirnstruktur die Funktion unterstützt, untersuchten Bianca Serio und Sofie Valk vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig und dem Forschungszentrum Jülich, ob Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns auf Unterschiede in der Gehirngröße, der Mikrostruktur und dem Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche zurückzuführen sind. Ihre Ergebnisse legen nahe, dass die Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns eher kleine Unterschiede in den Netzwerken und den Verbindungen dazwischen widerspiegeln.

Die Forscherinnen nutzten für ihre Analyse Datensätze des Human Connectome Project, welches öffentlich zugänglich die Gehirn-Daten von 1000 Studienteilnehmer*innen enthält. Entgegen ihren Erwartungen konnten sie herausfinden, dass Unterschiede in der Gehirngröße, -mikrostruktur und Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche die funktionellen Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern nicht widerspiegeln können. Sie stellten fest, dass es kleine Geschlechtsunterschiede in den Verbindungen innerhalb und zwischen funktionellen Netzwerken gibt, was die kleinen Unterschiede in der funktionalen Netzwerktopographie zwischen den Geschlechtern allgemein erklären könnte. Die Unterschiede sind klein, aber kleine Effekte können manchmal teilweise helfen, bedeutsame Unterschiede in Mechanismen zu erklären.

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Es wird für Frauen eine stärkere interhemisphärische Interaktion sowie eine reduzierte funktionelle Hirnasymmetrie angenommen, die z. T. auf ein größeres kommissurales Fasersystem zurückzuführen ist. Strukturelle Geschlechtsunterschiede in subkortikalen Strukturen, wie insbes. dem Hypothalamus, werden mit Geschlechtsunterschieden in sex. und reproduktivem Verhalten in Verbindung gebracht.

Die Rolle von Sexualhormonen

Sexualhormone spielen im Gehirn eine große Rolle. Sexualhormonrezeptoren sind sowohl in Neuronen als auch in Gliazellen weit verbreitet, was es ihnen ermöglicht, über verschiedene molekulare Mechanismen mit den wichtigsten Zellgruppen des Gehirns zu interagieren. Diese Mechanismen führten zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Gehirnstruktur sowie zu hormonbedingter Plastizität im Gehirn - sowohl durch körpereigene und künstliche Sexhormone.

Svenja Küchenhoff aus dem Team von Sofie Valk untersuchte in einer weiteren Studie, inwieweit Sexualhormone die Gehirnstruktur beeinflussen. Sie und ihre Kollegen untersuchten die regionalen Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde mithilfe von Magnetresonanztomographie bei über 1000 gesunden Frauen und Männern. In einem ersten Schritt zeigten sie, dass es geschlechtsspezifische regionale Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus gibt. Allerdings verändern sich diese geschlechtsspezifischen Unterschiede, je nachdem, welches Hormonprofil man bei den Frauen betrachtet - teilweise verschwinden sie sogar ganz oder drehen sich um. Außerdem finden sie diese Effekte vor allem in Hirnregionen, in denen Gene von Östrogenrezeptoren und der Synthese von Sexualsteroiden besonders stark ausgeprägt werden. Zusammengenommen können sie also sagen, dass Sexualhormone eine wichtige Rolle in der Modulierung und Plastizität der Mikrostruktur des Gehirns haben.

Sexualhormone und Mikrostruktur des Gehirns

Eine Studie von Küchenhoff und Kollegen zeigte, dass sich die Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus von Männern und Frauen regional unterscheidet. Wie diese Unterschiede im Einzelnen aussehen, hängt jedoch davon ab, ob die Frauen hormonell verhüten, und in welcher Phase des Zyklus sie sich befinden. Der Grund ist, dass sich das Hormonprofil von Frauen im Laufe des Zyklus ändert, während das von Männern recht konstant bleibt.

Genexpression und Geschlechtsunterschiede

Die Wissenschaftler wollten wissen, ob sich die morphologischen Unterschiede auf die Genexpression in den betreffenden Hirnarealen zurückführen lassen. Bei Mäusen hatten zuvor Studien schon gezeigt, dass in den Hirnbereichen mit ausgeprägten Geschlechtsunterschieden auch die Geschlechtschromosomen besonders aktiv abgelesen werden. Ob dies auch beim Menschen so ist, prüften Raznahan und sein Team anhand von Karten der Genexpression, die für 1317 Hirngewebeproben von sechs verstorbenen Spendern die lokal aktiven Gene verzeichnen. Die Analyse ergab, dass es auch hier ein deutliches Muster gab: „Die kortikalen Regionen mit relativ hoher Expression der Geschlechtschromosomen liegen in den Bereichen, die bei Männern ein höheres Volumen aufweisen als bei Frauen“, berichten die Forscher.

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Neurosexismus und die Bedeutung einer differenzierten Forschung

Die Neurowissenschaftlerin Lise Eliot warnt vor "Neurosexismus", wenn Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen Gehirnen als Erklärung für die vermeintliche Unterlegenheit von Frauen angeführt werden. Sie betont, dass die Wissenschaft nicht benutzt werden sollte, um schon bestehende Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen zu untermauern.

Die "Female Data Gap" in den Neurowissenschaften

Svenja Küchenhoff weist auf die "Female Data Gap" in den Neurowissenschaften hin. Der männliche Körper wird oft als Standard angesehen, daher sind viele medizinische Lösungen für Frauen nicht optimal. Um zu verstehen, was wirklich hinter medizinischen Problemen steckt, die Männer oder Frauen stärker betreffen, ist es wichtig, die darunterliegenden Faktoren zu betrachten - wie zum Beispiel Variation im Hormonspiegel.

Geschlechtssensible Forschungsansätze

In den Neurowissenschaften gewinnen geschlechtersensible Forschungsansätze zunehmend an Bedeutung - nicht zuletzt, weil zahlreiche neurologische und psychiatrische Erkrankungen bei Frauen und Männern unterschiedlich häufig auftreten, sich im Verlauf unterscheiden oder unterschiedlich auf Therapien ansprechen. Die unzureichende Datenlage zu Frauen in (prä)klinischen Studien - der sogenannte „Gender Data Gap“ - macht es dringend notwendig, geschlechtsspezifische Fragestellungen im biomedizinischen Kontext interdisziplinär in den Fokus zu rücken.

Gliazellen im Fokus

Prof. Dr. Barbara Di Benedetto setzt mit ihrer Forschung genau hier an: Sie untersucht geschlechtsspezifische Unterschiede in Gliazellen - den bislang oft unterschätzten Mitspielern im zentralen Nervensystem. Es gibt signifikante Unterschiede in der Gliazellfunktion zwischen weiblichen und männlichen Individuen. Diese Unterschiede haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Neuroplastizität, die Gehirnfunktion und die Entstehung neuropsychiatrischer sowie neurodegenerativer Erkrankungen.

Fazit

Die Forschung zu Gehirn und Geschlecht ist komplex und vielschichtig. Während es einige strukturelle und funktionelle Unterschiede zwischen den Gehirnen von Männern und Frauen gibt, ist es wichtig zu betonen, dass diese Unterschiede oft klein sind und es eine große Variabilität innerhalb der Geschlechtergruppen gibt. Sexualhormone und Genexpression spielen eine wichtige Rolle bei der Modulation der Gehirnstruktur und -funktion. Geschlechtersensible Forschungsansätze sind notwendig, um die Ursachen von beobachtbaren Geschlechtsunterschieden im Gehirn sowie seine Bedeutung für Unterschiede in der Gesundheit und in der Kognition zu untersuchen. Es ist entscheidend, Neurosexismus zu vermeiden und die Wissenschaft nicht zu nutzen, um bestehende Statusunterschiede zwischen Männern und Frauen zu untermauern.

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Die Erkenntnisse aus diesen Studien tragen dazu bei, ein umfassenderes Verständnis der komplexen Beziehung zwischen Gehirn, Geschlecht und Verhalten zu entwickeln. Sie unterstreichen die Notwendigkeit, Geschlechtsunterschiede in der Forschung zu berücksichtigen, um bessere Diagnose- und Behandlungsstrategien für neurologische und psychiatrische Erkrankungen zu entwickeln.

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