Die Beziehung zwischen Geist und Gehirn ist ein komplexes und faszinierendes Thema, das seit Jahrhunderten Philosophen, Wissenschaftler und Denker beschäftigt. Während die Neurowissenschaften in den letzten Jahrzehnten erhebliche Fortschritte gemacht haben, bleibt die Natur des Bewusstseins und die Art und Weise, wie es aus der Aktivität des Gehirns entsteht, eines der größten ungelösten Rätsel der Wissenschaft.
Die untrennbare Verbindung: Gehirn als Grundlage des Seins
Ohne Gehirn ist kein Leben möglich. Das Gehirn ist die Grundlage unseres Seins. Es steuert lebensnotwendige Funktionen wie Atmung, Bewegung und Denken. Ein Schlaganfall, auch Hirninfarkt genannt, entsteht durch die Unterbrechung der Blutversorgung des Gehirns. Dies kann zu Sprachverlust, Gedächtnislücken und Schwierigkeiten bei alltäglichen Tätigkeiten wie Essen und Gehen führen. Auch bei Alzheimer-Erkrankungen, die mit dem Verlust von Erinnerungen und Persönlichkeit einhergehen, liegt die Ursache im Gehirn.
Der Hirntod verdeutlicht die enge Verbindung zwischen Gehirn und Geist. Wenn die Schaltzentrale des Körpers ausfällt, ist ein Weiterleben nicht möglich. Erst wenn Gehirn und Geist nicht mehr reibungslos funktionieren, erkennen wir die immense Leistung unseres Gehirns.
Neurobiologische Einblicke: Was passiert im Gehirn?
Erkrankungen wie Parkinson, Multiple Sklerose, Epilepsie oder Migräne zeigen, dass Störungen im Gehirn weitreichende Folgen haben können. "Wenn infolge des Ausfalls einer Gehirnregion eine Körperfunktion ausfällt, könnte man daraus schlussfolgern, dass die betroffene Gehirnregion für diese Körperfunktion zuständig ist", so Dirnagl. Diese Beobachtung ist für die Neurobiologie von großer Bedeutung, da sie Einblicke in die Funktionsweise des Gehirns ermöglicht.
Die Forschung zur Neurogenese, der Neubildung von Nervenzellen im erwachsenen Gehirn, ist besonders vielversprechend. Prof. Gerd Kempermann, ein international anerkannter Neuro-Experte, untersucht, wie die Neurogenese zur Erneuerung des Gehirns beiträgt. Die Entdeckung, dass das Gehirn neue Nervenzellen bilden kann, eröffnet möglicherweise neue Wege zur Behandlung von Erkrankungen wie Demenz, Alzheimer oder Depression. "Wenn wir aktiv die Welt entdecken und erobern, wenn wir uns auf Neues einlassen, kurz: wenn wir lernen", so Kempermann, "dann zieht unser (erwachsenes) Gehirn dafür an entscheidender, strategischer Stelle neue Nervenzellen hinzu, die es bedarfsgerecht hervorbringt."
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Gehirn und Geist im Widerstreit: Wenn Vernunft und Emotionen kollidieren
Die Verbindung zwischen Gehirn und Geist funktioniert nicht immer reibungslos. Oftmals handeln wir entgegen unserer Vernunft, getrieben von Emotionen und unvernünftigen Impulsen. Das Gehirn steht für den Verstand, das Herz für Emotionen, Lust und Unvernunft. Dieser ewige Widerstreit wird vom Cartoonisten Nick Seluk in seinem Bestseller "Herz und Hirn - Die Geschichte einer komplizierten Freundschaft" auf humorvolle Weise dargestellt.
Kognitive Delfine: Die Parallelität von Bewusstsein und Unterbewusstsein
Die Metapher der "kognitiven Delfine" veranschaulicht, wie Gedanken aus dem Ozean unseres Unterbewusstseins auftauchen und für kurze Zeit in unser Bewusstsein gelangen. Ähnlich wie Delfine, die spielerisch aus dem Wasser springen, überschreiten Gedanken die Grenze zwischen bewusster und unbewusster Informationsverarbeitung. Es gibt einen ständigen Wettlauf zwischen unseren Gedanken, einen inneren Wettbewerb um den Fokus der Aufmerksamkeit.
Erstaunlicherweise haben wir während unseres Wachlebens bis zu 50 Prozent keine Kontrolle über unsere Gedanken. Stichworte wie "spontaneous task-unrelated thought" und "mind wandering" beschreiben dieses Phänomen des ziellosen Umherschweifens des Geistes. "Stabile kognitive Kontrolle ist die Ausnahme, während ihr Fehlen die Regel ist."
Die Rolle der Kultur: Wie unser Umfeld unser Selbstbild prägt
Die Art und Weise, wie wir über unsere inneren Erfahrungen berichten, wird stark von unserem soziokulturellen Kontext geprägt. Wenn Kindern schon früh beigebracht wird, dass sie für ihr Handeln voll verantwortlich sind, wird diese Annahme in ihr Selbstbild integriert. Das bewusste Selbstmodell des erwachsenen Menschen könnte daher eine Kontrollillusion sein, die auf internalisierten sozialen Interaktionen und Sprachspielen basiert.
Wer kritische Rationalität will, muss geistige Autonomie wollen. Rationalität kann genauso trainiert werden wie innere Bewusstheit. Universitäten bieten zunehmend Kurse zur Argumentationstheorie, Meditationsunterricht und Programme zur Entwicklung kritischer Medienkompetenz an.
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Das Gehirn als Beziehungsorgan: Vermittler zwischen Mensch und Umwelt
Das Gehirn ist nicht nur ein isoliertes Organ, sondern ein Vermittlungsorgan für unsere Beziehungen zur Umwelt und zu anderen Menschen. Thomas Fuchs betont, dass das Gehirn als Organ eines Lebewesens betrachtet werden muss, das untrennbar mit seiner Umwelt verbunden ist. Die alltäglich erlebte und vertraute Welt ist nicht das bloße Produkt des Gehirns, sondern die Grundlage aller wissenschaftlichen Erkenntnis.
Das Gehirn ist der Mediator, der uns den Zugang zur Welt vermittelt, der Transformator, der Wahrnehmungen und Bewegungen miteinander verknüpft. Es wird erst in Verbindung mit unseren Muskeln, Eingeweiden, Nerven und Sinnen, mit unserer Haut, unserer Umwelt und mit anderen Menschen lebendig.
Alles bewusste Erleben ist nicht nur an den physiologischen Körper als seine biologische Basis gebunden, sondern auch an den subjektiven Leib. Wir sind in all unseren Gefühlen, Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen leibliche und damit zugleich auch physische Wesen. Fuchs sieht das Lebewesen als die primäre Einheit, an der sich von einer Seite her integrale (leibliche, seelische, geistige) Lebensäußerungen, von der anderen Seite her physiologische Prozesse in beliebiger Detailliertheit feststellen lassen.
Drei Thesen zur Naturalisierung des Geistes
Fuchs widerspricht der neurowissenschaftlichen These der "Naturalisierung des Geistes", die menschliches Bewusstsein, Subjektivität und Handeln auf neuronale Prozesse reduzieren will. Er stellt drei einfache Thesen auf:
- Die Welt ist nicht im Kopf.
- Das Subjekt ist nicht im Gehirn.
- Im Gehirn gibt es keine Gedanken.
Denken, Fühlen, Entscheiden und Handeln sind keine Tätigkeiten des Gehirns, sondern Lebensvollzüge, die sich nur von einem Lebewesen im Zusammenhang mit seiner Lebenssituation aussagen lassen. Von einem denkenden, fühlenden oder wahrnehmenden Hirn zu sprechen, ist ein begrifflicher Unsinn. Menschliche Subjektivität ist verkörperte oder leibliche Subjektivität.
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Fuchs kritisiert das Paradigma der kognitiven Neurowissenschaften, das Bewusstsein als eine subjektive Repräsentation der Außenwelt betrachtet, die im Gehirn konstruiert wird. Er betont die Bedeutung der Wechselbeziehungen und Kreisläufe, in denen das Gehirn steht. Das Lebewesen als primäre Entität wird in diesem Ansatz vernachlässigt.
Geist und Gehirn im Dialog: Ein Gespräch mit Experten
Ein Gespräch mit der Neurowissenschaftlerin Melanie Wilke und dem Philosophen Michael Pauen verdeutlicht die aktuellen Herausforderungen und Fortschritte in der Bewusstseinsforschung. Sie betonen, dass das Bewusstsein inzwischen ein etablierter Gegenstand der empirischen Forschung ist.
Wilke und Pauen diskutieren die Frage, ob der Mensch sein Gehirn ist. Wilke bejaht dies, betont aber, dass auch der restliche Körper dazugehört. Pauen verneint die Frage, da er beispielsweise Rad fahren kann, sein Gehirn allein aber nicht.
Die Experten sind sich einig, dass Bewusstsein wissenschaftlich erklärbar ist, aber noch ein weiter Weg vor uns liegt. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen und das Problem des Bewusstseins anders zu formulieren.
Wilke betont den Unterschied zwischen dem Auskunftgeben und dem bewussten Erleben selbst. Pauen ergänzt, dass es einen grundlegenden Unterschied zwischen der Erfahrung selbst und dem Wissen über diese Erfahrung gibt.
Kognitive Neurogenetik: Wie Angeborenes und Umwelt unser Gehirn formen
Sofie Valk, Leiterin der Forschungsgruppe "Kognitive Neurogenetik" am MPI CBS, untersucht, wie angeborene und Umweltfaktoren die Struktur und Funktion des Gehirns formen. Sie verwendet offene Datensätze mit großen Stichproben aus Bildgebungs- und Verhaltensdaten, um die genetischen Grundlagen von Gehirn und Verhalten zu untersuchen.
Valk konnte zeigen, dass soziale Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Aufmerksamkeit und die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, mit bestimmten Hirnnetzwerken zusammenhängen. Sie fand auch Hinweise darauf, dass sich die funktionellen und evolutionären Muster bei der Hirnorganisation von Menschen und Makakenaffen auf Makroebene sehr ähneln.
In ihrer Forschungsgruppe möchte Valk die beiden Ansätze zusammenführen und so untersuchen, wie Angeborenes und Umwelt die Struktur und Funktion des Gehirns formen.
Dualismus vs. Monismus: Zwei grundlegende Sichtweisen
Prof. Henrik Walter erläutert die zwei grundlegend unterschiedlichen Sichtweisen auf die Beziehung zwischen Gehirn und Geist:
- Dualismus: Gehirn und Geist sind etwas grundlegend Verschiedenes. Der Geist beeinflusst das Gehirn, kann aber im Prinzip vom Gehirn getrennt existieren. Dies entspricht dem traditionellen Konzept einer Seele.
- Monismus: Gehirn und Geist sind eine untrennbare Einheit. Der Geist ist eine Funktion des Gehirns, so ähnlich wie Verdauung eine Funktion des Magen-Darm-Traktes ist.
Walter betont, dass sich die interessanten Fragen in zeitgenössischen Diskussionen um die Kernmerkmale des Geistigen drehen, die es als solches auszeichnen. Er nennt zwei zentrale Merkmale: Bewusstsein bzw. subjektives Erleben einerseits und Bedeutungshaftigkeit ("Intentionalität") andererseits.
Die Bedeutung der Interaktion: Verkörpertes Gehirn und Umwelt
Walter argumentiert, dass Bedeutung nur in Interaktion mit der Umwelt entsteht. Bedeutung erlangen Hirn- und damit psychische Zustände nur dadurch, dass die Prozesse, durch die wir Bedeutung generieren, nur dann funktionieren, wenn das Gehirn in einem Organismus beheimatet ist, dessen Körper mit der Umwelt interagiert.
Ein wesentliches Merkmal des Psychischen ist nicht zu erklären ohne die Interaktion von verkörpertem Gehirn und Umwelt. Ohne diese Wechselwirkung kann nichts von Bedeutung für die Psyche existieren. Deswegen kann die Psyche nicht nur das Gehirn sein, auch wenn sie ohne Gehirn nicht sein kann.