Die neuronalen Grundlagen der Gesichtserkennung: Ein umfassender Überblick

Die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen, ist für soziale Interaktionen von entscheidender Bedeutung. Sie ermöglicht es uns, Individuen zu identifizieren, ihre Emotionen zu interpretieren und uns in sozialen Situationen angemessen zu verhalten. Die Forschung hat gezeigt, dass die Gesichtserkennung im Gehirn ein komplexer Prozess ist, an dem mehrere spezialisierte Hirnareale beteiligt sind.

Spezialisierte Hirnareale für die Gesichtserkennung

Die Bremer Hirnforscherin Doris Tsao hat herausgefunden, dass ein spezieller Teil des Gehirns für die Gesichtserkennung zuständig ist, der von anderen Objekterkennungsbereichen getrennt ist. Das menschliche Gehirn enthält mindestens drei verschiedene Regionen im Temporallappen, die auf die Gesichtsbearbeitung spezialisiert sind. Diese Regionen werden durch bildgebende Verfahren wie die Kernspintomographie sichtbar, bei denen die Gehirnaktivität gemessen wird, während die Versuchspersonen Bilder von Gesichtern und anderen Objekten betrachten.

Ein berühmter Patient, C.K., erlitt einen Schlaganfall im Temporallappen und konnte danach keine Objekte mehr erkennen, aber Gesichter. Interessanterweise konnte er keine auf dem Kopf stehenden Gesichter erkennen, was darauf hindeutet, dass die Bereiche im Gehirn, die Gesichter verarbeiten, von den Bereichen, die andere Objekte bearbeiten, getrennt sind.

Der Gyrus fusiformis: Ein Schlüsselbereich für die Gesichtserkennung

Der Gyrus fusiformis, eine Gehirnwindung der Großhirnrinde des Schläfenlappens, spielt eine zentrale Rolle bei der Gesichtserkennung. Studien mittels funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) haben gezeigt, dass der ventrale temporale Kortex (VTC) im Gyrus fusiformis für die Gesichterkennung zuständig ist, während der collaterale Sulcus an der Grenze zum Gyrus fusiformis für die Ortserkennung verantwortlich ist.

Die Entwicklung der Gesichtserkennung im Gehirn

Die Fähigkeit zur Gesichtserkennung entwickelt sich im Laufe des Lebens weiter. Jülicher Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass die relative Größe des für die Gesichtserkennung zuständigen Bereichs im Gehirn mit zunehmendem Alter wächst, während dies für den Bereich der Ortserkennung nicht gilt. Dies deutet darauf hin, dass sich neue Hirnfunktionen eher durch Ausbreitung als ausschließlich durch Reduktion der Synapsen entwickeln.

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Erfahrung spielt eine entscheidende Rolle bei der Schärfung unserer Gesichtsbearbeitung. Babys unter sechs Monaten können verschiedene individuelle Gesichter von Menschen und sogar Rhesusaffen unterscheiden. Mit neun Monaten können sie die Affengesichter aber nicht mehr unterscheiden. Ein ähnlicher Spezialisierungsprozess findet auch in der Sprachentwicklung statt. Babys können die Laute aller menschlichen Sprachen unterscheiden, während Erwachsene Probleme haben, chinesische Tonhöhen zu unterscheiden.

Pareidolie: Wenn das Gehirn Gesichter in Objekten sieht

Menschen sehen oft Gesichter in unbelebten Objekten wie Wolken, Steckdosen oder Kaffeeflecken. Dieses Phänomen wird als Pareidolie bezeichnet. Um dies zu verstehen, wurden künstliche neuronale Netze (CNNs) trainiert, die entweder nur Gesichter, nur Objekte oder beides erkennen sollten. Nur die Netze, die sowohl Gesichter als auch Objekte erkennen konnten, verarbeiteten Pareidolie-Bilder ähnlich wie das menschliche Gehirn. Das Gehirn nimmt Gesichter bereits nach etwa 165 Millisekunden wahr und verarbeitet Pareidolie-Bilder ähnlich wie echte Gesichter. Erst etwa 90 Millisekunden später erfolgt eine Korrektur, die erkennbar macht, dass es sich eigentlich um ein Objekt handelt. Dies deutet darauf hin, dass unser Gehirn darauf ausgelegt ist, Gesichter schnell zu identifizieren, was ein überlebenswichtiger Mechanismus für die Kommunikation und die Abwehr von Gefahren in einer sozialen Gruppe sein könnte.

Die Verbindung zwischen Stimm- und Gesichtserkennung

Gesicht und Stimme sind zwei der wichtigsten Merkmale, an denen wir Personen identifizieren. Forscher am Max-Planck-Institut (MPI) für Kognitions- und Neurowissenschaften haben herausgefunden, dass zwischen den Gehirnarealen, die für das Erkennen von Stimmen und Gesichtern zuständig sind, eine direkte strukturelle Verbindung aus Nervenfaserbahnen besteht. Beim Hören einer bekannten Stimme werden Gebiete des Gehirns aktiv, die eigentlich für die Identifikation von Gesichtern zuständig sind. Diese Aktivierungen gehen mit besseren Ergebnissen beim Erkennen der Stimmen einher. Dies deutet darauf hin, dass Areale im Gehirn, die in Stimm- und Gesichtserkennung involviert sind, direkt miteinander interagieren und sich gegenseitig beeinflussen.

Im Alltag könnte diese direkte Verbindung in unserem Gehirn genutzt werden, um das Gesicht unseres Gesprächspartners zu simulieren, wenn wir z.B. am Telefon mit einer bekannten Person sprechen.

Illusorische Gesichtserkennung: Wenn das Gehirn uns täuscht

Forschende der Universitäten Marburg und London haben herausgefunden, dass dieselben Gehirnareale, die üblicherweise bei der realen Gesichter-Erkennung aktiviert werden, auch durch reine Illusion aktiviert werden. Bei der realen Gesichter-Detektion werden primär sensorische Areale des Gehirns aktiviert ("bottom-up"), während für eine illusorische Detektion die "top-down" Modulation dieser Areale durch präfrontale Gehirnareale unerlässlich ist. Der Präfrontalkortex gleicht ständig die Sinneseindrücke mit uns bekannten Strukturen wie Gesichtern, Häusern oder anderen Gegenständen ab.

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Störungen der Gesichtserkennung: Prosopagnosie und Capgras-Syndrom

Wenn die Fähigkeit zur Gesichtserkennung gestört ist, spricht man von Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie. Menschen mit Prosopagnosie können Schwierigkeiten haben, bekannte Gesichter zu erkennen, manchmal sogar das eigene Spiegelbild. Kernspinuntersuchungen deuten darauf hin, dass diese Menschen bildhaft verbundene Gesichtsareale haben.

Eine weitere seltene Störung ist das Capgras-Syndrom, bei dem die Betroffenen glauben, dass nahe Verwandte durch Doppelgänger ersetzt wurden. Der amerikanische Neurologe Vilayanur S. Ramachandran vermutet, dass bei Capgras-Patienten die Verbindung zwischen Temporallappen und emotionalen Zentren gestört ist, so dass trotz korrekter Gesichtserkennung keine Gefühlsregung aufkommen kann.

Die Bedeutung von Vorhersagen bei der Gesichtserkennung

Wissenschaftler der Goethe-Universität haben herausgefunden, dass Hirnwellen, die an obere Hirnregionen gesandt werden, im Falle eines Vorhersagefehlers verstärkt sind. Das Gehirn trifft ständig Vorhersagen über Objekte im Gesichtsfeld und gleicht diese mit den hereinkommenden Informationen ab. Nur wenn dabei Fehler auftreten, müssen höhere Hirnregionen benachrichtigt werden, um aktiv ihre Vorhersagen anzupassen. Diese Ergebnisse versprechen auch ein besseres Verständnis der psychischen Erkrankungen Schizophrenie und der Autismus-Spektrum-Störung.

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