Die Pazifikinsel Guam, ein kleines Südsee-Eiland zwischen den Philippinen und Hawaii, ist bekannt für ihre natürliche Schönheit, birgt aber auch eine dunkle Geschichte. Ungewöhnlich viele Bewohner dieser Insel starben an einer mysteriösen Nervenkrankheit, die als Guam-ALS-PD-Demenzkomplex (ALS/PDC) bekannt ist. Diese Krankheit, die Symptome von Amyotropher Lateralsklerose (ALS), Parkinson-Syndrom und Alzheimer-Krankheit vereint, war lange Zeit ein Rätsel für die Wissenschaft. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen und Zusammenhänge dieses komplexen Krankheitsbildes.
Die Geschichte von Guam und seinen Bewohnern
Guam wurde vermutlich schon 2000 Jahre v. Chr. von Westen, von den heutigen Philippinen oder von Indonesien aus, besiedelt. Der erste europäische Seefahrer, Magellan, erreichte den Marianenarchipel im Jahr 1521. Die Inseln wurden 1565 von Miguel López de Legazpi für Spanien beansprucht und 1667 offiziell der spanischen Krone unterstellt. Zu dieser Zeit wurden die Inseln nach Maria Anna von Österreich, der Witwe von Spaniens König Philipp IV., in „Marianen“ umbenannt.
Nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg von 1898 fiel Guam an die USA, die die Insel aufgrund ihrer strategischen Lage kontrollieren wollten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Inseln durch den Völkerbund unter japanische Kontrolle gestellt. Im Zweiten Weltkrieg eroberten die Amerikaner die Inseln 1944 in der Schlacht um die Marianeninseln.
Heute stehen Guam und die etwas selbstständigeren Nördlichen Marianen unter der Kontrolle der USA und sind ein groß ausgebauter Militärstützpunkt und ein wichtiges militärisches Übungsgelände. Die Bewohner der Marianen wurden seit ihrer Entdeckung im 16. Jahrhundert immer wieder Opfer von Großmachtinteressen, wurden versklavt, ermordet und vertrieben.
Das Rätsel des Guam-ALS-PD-Demenzkomplexes (ALS/PDC)
Im Laufe der Jahre erregte eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Bewohnern Guams, insbesondere der einheimischen Chamorro, Aufmerksamkeit, die an einer neurodegenerativen Erkrankung litten. Diese Erkrankung, bekannt als Lytico-Bodig oder ALS-Parkinsonismus-Demenz-Komplex (PDC), wies Symptome auf, die an ALS, Parkinson und Demenz erinnerten. Lange blieben die Ursachen im Dunkeln und waren umso geheimnisvoller, als ausgewanderte ehemalige Inselbewohner oft Jahre, nachdem sie die Insel verlassen hatten, erkranken konnten.
Lesen Sie auch: Parkinson-Medikamente: Was Sie beachten müssen
Die Häufigkeit dieser Krankheit war auf Guam um ein Vielfaches höher als in anderen Teilen der Welt. Dies führte zu intensiven Forschungen, um die Ursachen für dieses Phänomen zu finden.
Die Rolle von John Charles Steele
Ein wichtiger Akteur bei der Erforschung von PDC war Dr. John Charles Steele. Er betreute und untersuchte Menschen mit dieser neurodegenerativen Erkrankung und lud mehrere Wissenschaftler ein, um diese geografisch und ethnisch spezifische Erkrankung zu untersuchen. Trotz des Mangels an formellen Forschungseinrichtungen auf Guam fand Dr. Steele Wege zur Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftlern bei der Erforschung der Ursachen von PDC.
Die Entdeckung der Ursache: BMAA und die Nahrungskette
Erst in jüngster Zeit haben sich die seltsamen Zusammenhänge aufgeklärt: Auf der Insel gedeiht die Cycadee Cycas micronesica, ein palmenähnlicher Baum, der wie die Nadelgehölze zu den Nacktsamern gehört. Seine essbaren Samen enthalten in geringen Mengen eine giftige Aminosäurevariante (β-Methylamino-L-Alanin, BMAA). Allerdings sind die Konzentrationen so gering, dass man sich eine gefährliche Auswirkung bei dem Verzehr der Samen zunächst nicht vorstellen konnte. Nun ist es aber so, dass sich von diesen Samen vor allem Flughunde ernähren, die bei den einheimischen Chamorros als Leckerbissen gelten. Diese Flughunde, von denen es früher mehrere Arten gab, heute aber nur noch Pteropus mariannus, sind die einzigen wirklich einheimischen Säugetiere der Insel. In den Flughunden, so stellte man fest, tritt diese gefährliche Aminosäure in höheren Konzentrationen auf. Es kommt also zu einer Anreicherung.
Weitere Nachforschungen ergaben, dass diese seltene und von Eukaryoten nicht produzierbare Aminosäure von den endosymbiotischen Cyanobakterien von Cycas micronesica stammt. Denn wie alle Palmblatt-Nacktsamer beherbergt diese Cycadee solche, den Luftstickstoff fixierenden Symbionten (Cyanobacterien der Gattung Nostoc) in besonderen, an der Bodenoberfläche gebildeten, korallenartig verzweigten Wurzeln. Damit ist die Kette der Giftweitergabe (Cyanobakterium - Palmfarn - Flughund - Mensch) aufgeklärt.
Der Mechanismus der BMAA-Anreicherung
Bei der Verdauung werden alle Eiweiße in Aminosäuren gespalten und als solche resorbiert. Später werden sie jedoch wieder in Proteine eingebaut. Dies gilt auch für abnorme Aminosäuren, sie können in „normale“ Körperproteine eingebaut werden. Dies trifft offensichtlich auch für BMAA zu. In Proteinen ist BMAA ungefährlich. Lediglich, wenn es frei im Blut und in Körperflüssigkeiten vorkommt, kann es zu der beschriebenen Nervenkrankheit kommen. Der Gehalt in den Körperproteinen, insbesondere im Gehirn, nimmt allmählich zu. Offensichtlich steigt parallel dazu der BMAA-Pegel im Blut immer mehr an. Dies lässt sich mit dem ständig stattfindenden Proteinumsatz im Organismus erklären.
Lesen Sie auch: Die Stadien der Parkinson-Krankheit erklärt
Das Verschwinden der Krankheit
Für die Fruchtfledermaus-Hypothese spricht die Beobachtung, dass das PDC in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg langsam verschwunden ist, als die traditionellen Ernährungsgewohnheiten einer Verwestlichung des Lebensstils der Chamorros wichen.
ALS: Eine Multisystemerkrankung
Die amyotrophe Lateralsklerose (ALS) ist klinisch durch Zeichen der progredienten Degeneration der Betz-Zellen im motorischen Kortex sowie der motorischen Vorderhornzellen gekennzeichnet. Das Krankheitsbild führt zur respiratorischen Insuffizienz und unbehandelt meist über eine alveoläre Hypoventilation zum Tod.
Die Ursachen der Erkrankungen der Motoneurone sind weitgehend unbekannt, und das Verständnis ihrer genetischen Grundlagen, der Pathogenese und die Entwicklung von Behandlungsansätzen stehen erst am Anfang.
Genetische Faktoren
In den zurückliegenden Jahren wurde eine zunehmende Zahl von familiären Erkrankungen durch genetische Faktoren erklärt. Die häufigste genetische Ursache, das Auftreten von Verlängerungen eines charakteristischen Hexanukleotidrepeats auf Chromosom 9 (C9ORF72) wird in Deutschland in 24 % der Familien gefunden, während Mutationen im Gen der zytosolären Form der Kupfer/Zink-Superoxiddismutase (Cu-Zn-SOD) bei 13 % der familiären Patienten auftreten.
Epidemiologie
Die Inzidenz der amyotrophen Lateralsklerose (ALS) liegt weltweit zwischen 1,4 und 3/100.000. Die Inzidenz in Süddeutschland beträgt 3,1/1 Mio. Insgesamt scheinen Inzidenz und Prävalenz weltweit, auch in Deutschland, anzusteigen, wobei die Hauptursache die veränderte demografische Struktur der Bevölkerung ist.
Lesen Sie auch: Überblick zur Dopamin-Erhöhung bei Parkinson
Stadienmodell der ALS
Mithilfe des molekularen Markers TDP-43, der bei mehr als 95 % der Patienten die Neuropathologie der ALS charakterisiert, konnte ein Stadienmodell und damit die formale Pathogenese der ALS beschrieben werden. Die Erkrankung breitet sich - ausgehend vom motorischen Kortex entlang der Assoziationsfasern nach frontal, in geringerem Ausmaß auch nach parietal aus und erfasst dann in Stadien subkortikale Kerngebiete, die überwiegend monosynaptisch mit den kortikalen Neuronenpopulationen verbunden sind.
Klinische Symptome
Charakteristisches klinisches Leitsymptom der Erkrankung ist das Nebeneinander von Schädigungszeichen der Betz-Zellen (des „1. Motoneurons“) und der motorischen Vorderhornzellen (des „2. Motoneurons“). Meist nur retrospektiv kann der Patient typische Erstsymptome wie fokale - belastungsabhängige oder spontan auftretende - (Wadenmuskeln!) oder globale Muskelkrämpfe und Faszikulationen, manchmal auch eine vermehrte Erschöpfbarkeit, als Zeichen der Erkrankung erkennen.
Parkinson-Demenz
Bei der Parkinson-Krankheit kommt es zu einem Abbau von Nervenzellen in einer bestimmten Region im Mittelhirn, der sogenannten schwarzen Substanz (Substantia nigra). Dort befinden sich die Nervenzellen, die für die Produktion von Dopamin zuständig sind. Dopamin steuert unter anderem unsere körperlichen Bewegungen. Wenn Nervenzellen absterben, kommt es zu einem Dopaminmangel. Im Verlauf der Krankheit sterben aber auch die Nervenzellen ab, die das Acetylcholin regulieren. Dies führt zu einem Acetylcholinmangel, der im weiteren Krankheitsverlauf unter anderem kognitive Störungen im Gehirn begünstigen kann.
Viele Menschen mit Parkinson sind daher bis zu einem gewissen Grad von kognitiven Beeinträchtigungen betroffen. Auch Stress, Medikamente oder Depressionen können zu diesen Veränderungen beitragen. Die genauen Ursachen und Zusammenhänge für das Absterben der Nervenzellen sind noch nicht geklärt. Eine entscheidende Rolle scheint ein Protein namens Alpha-Synuclein zu spielen. Es verklumpt sich in den Nervenzellen zu kleinen Ablagerungen. Das Risiko für eine Parkinson-Demenz steigt vor allem mit dem Alter. In der Altersgruppe der Menschen über 75 entwickelt ungefähr jeder zweite Person mit Parkinson zusätzlich eine Demenz.
Die Verbindung zwischen PSP und PDC
Eine wichtige Inspiration für Dr. Steele bei seiner Arbeit auf Guam war die Ähnlichkeit zwischen PDC und progressiver supranukleärer Blicklähmung (PSP). Er erkannte die Ähnlichkeit der gestörten abwärts gerichteten Augenbewegung und anderer äußerer Merkmale der beiden Krankheiten. Obwohl PSP weltweit vorkommt und sich in wichtigen molekularen Details von PDC unterscheidet, erkannte Dr. Steele, dass ihre Ähnlichkeiten sich als Schlüssel erweisen könnten. Er wies immer wieder darauf hin, dass die vergleichende Untersuchung von PSP und PDC nicht nur Licht auf diese beiden Erkrankungen, sondern auf alle neurodegenerativen Krankheiten werfen könnte.