Entgegen der landläufigen Meinung sind Pflanzen keineswegs "strohdummes Grünzeug". Sie vollbringen erstaunliche Sinnesleistungen. Zwar besitzen Bäume und Pflanzen keine Nervenzellen im herkömmlichen Sinne, aber sie produzieren Hormone, mit denen sie Sinnesreize durch ein feines Adergeflecht zu ihren eigenen Organen übermitteln. Auf diese Weise können sie fühlen, sehen, hören und sogar kommunizieren.
Die verborgene Welt unter der Erde
Oft wird die Pflanze als ein starres, unbewegliches Objekt wahrgenommen, das lediglich dem Himmel entgegenwächst. Doch unter der Erdoberfläche verbirgt sich eine Welt voller Aktivität und Bewegung. Stellen Sie sich vor, dass der unterirdische Teil einer Pflanze genauso groß ist wie der oberirdische. Die Wurzeln einer alten Buche, die so hoch ist wie ein sechsstöckiges Haus, erstrecken sich im Boden genauso weit wie ihre Krone. Diese Wurzeln verzweigen sich in unzählige haarfeine Spitzen, die unaufhörlich das Erdreich durchwandern. Mit einer Geschwindigkeit von etwa einem Millimeter pro Stunde schiebt sich jedes Wurzelende, getrieben von nachwachsenden Zellen, durch den Boden. Dabei betasten die Wurzeln Sandkörnchen, wittern Salze und folgen mikroskopischen Wasseradern. Sie identifizieren sogar die Wurzeln junger Schösslinge, die aus den Samen des eigenen Baumkörpers gesprosst sind, umschlingen sie schützend und nähren sie mit Zuckerlösung.
František Baluška vom Botanischen Institut der Universität Bonn betont: "Das wahre Leben der Pflanze findet unter der Erde statt. In Wahrheit ist das, was wir Boden nennen, ein Gewebe aus sich bewegenden Pflanzenkörpern." Die Blätter darüber tanken lediglich die Energie dazu im Himmel.
Eine neue Sicht auf Pflanzen
Die Wissenschaft der Pflanzen befindet sich in einem spannenden Umbruch. Während große Gentechnikfirmen versuchen, Mais und Soja auf maximale Erträge, minimalen Wasserbedarf und Pestizidresistenz zu programmieren, entdecken Botaniker immer mehr Hinweise darauf, dass Pflanzen keine passiven, reglosen Objekte sind. Sie sind keine "Bioautomaten" oder "Zombies", wie Baluška es nennt. Stattdessen deutet vieles darauf hin, dass Pflanzen intelligent sind und ein Interesse an ihrer eigenen Existenz haben, die sie mit allen Mitteln bewahren wollen. Sie haben einen Standpunkt, eine Perspektive und reagieren unmittelbar auf das, was ihnen zustößt.
Stefano Mancuso, ein italienischer Botaniker, der an der Universität Florenz das "Labor für Neurobiologie der Pflanzen" betreibt, prophezeit eine "kopernikanische Wende" in der Biologie. So wie Nikolaus Kopernikus im Mittelalter erkannte, dass sich die Erde um die Sonne dreht, so wird derzeit die langjährige Annahme vieler Biologen, Pflanzen seien im Grunde besinnungslose Maschinen, durch neue Entdeckungen ihrer Erfahrungs- und Empfindungsfähigkeit revidiert.
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Mancuso ist überzeugt, dass Gewächse nicht nur im Vollbesitz aller fünf Sinne sind, die wir Menschen haben, sondern dass sie darüber hinaus noch eine ganze Menge mehr besitzen, von denen wir bisher nicht einmal zu träumen wagten. "Heute wissen wir: Pflanzen sprechen miteinander, erkennen ihre Verwandten und zeigen ganz unterschiedliche, individuelle Charaktere", sagt Mancuso.
Die Sinne der Pflanzen
Sehen
Pflanzen haben keine Augen im herkömmlichen Sinne, aber sie sind keineswegs blind. Wenn man Sehen als die Fähigkeit definiert, auf Lichtunterschiede sinnvoll zu reagieren, dann sind Pflanzen sogar Meisterinnen darin. Sie müssen das Licht erfassen und ihm optimal entgegenwachsen, um zu gedeihen. Mancuso argumentiert, dass im Grunde der ganze Körper der Pflanze mit Augen bedeckt ist, oder vielmehr: Die Pflanze ist ein einziges Auge. Pflanzen besitzen elf verschiedene Lichtsensoren, sieben mehr als der Mensch in seinen Augen.
Tasten
Pflanzen können auch tasten. Dies ermöglicht es beispielsweise Bohnenranken, nach einer Stange zu angeln, an der sie sich emporwinden können. Entgegen der bisherigen Annahme, dass die Begegnung einer Pflanzenranke mit einer Stütze reiner Zufall ist, zeigen Videos, dass die Bohne offenbar weiß, was sie tut und wohin sie sich wenden muss. Neben dem Tastsinn muss die Bohne also noch weitere sensorische Fähigkeiten besitzen.
Riechen
Pflanzen kommunizieren über Duftstoffe. So kann eine parasitische amerikanische Weinrebe gezielt andere Pflanzen ansteuern, um ihre Saugstachel in deren Gewebe zu versenken. Inzwischen ist bekannt, dass die schmarotzerische Rankpflanze die Unterschiede zwischen einzelnen Arten riecht. Sie reagiert intensiv auf "Eau de Tomate", weniger aber auf "Eau de Weizen". Florianne Koechlin, eine Schweizer Genetikerin und Pflanzenforscherin, schätzt, dass Forscher bei 900 Pflanzenfamilien rund 2.000 Duftstoffvokabeln kennen. Pflanzengase dienen vielfach dazu, sich selber vor dem Angriff gefräßiger Insekten zu schützen; gleichzeitig werden Artgenossen vorbereitet.
Schmecken
Pflanzen können sogar schmecken. So schmeckt die Limabohne wohl am Speichel der Schmarotzer, der in ihr Gewebe eindringt, welcher Art die Peiniger sind, die an ihr saugen. Wenn nicht eine Milbe, sondern eine Raupe an seinem Grün nagt, sendet der Schössling ein anderes Gas aus, das Schlupfwespen anlockt, die auf Schmetterlingslarven spezialisiert sind.
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Weitere Sinne
Neben den genannten Sinnen verfügen Pflanzen möglicherweise noch über weitere, von denen wir bisher nichts ahnen. Mancuso ist überzeugt, dass Pflanzen viel mehr wahrnehmen, als wir ihnen zugestehen.
Die Kommunikation der Pflanzen
Pflanzen kommunizieren auf vielfältige Weise miteinander. Sie nutzen Duftstoffe, um Artgenossen vor Gefahren zu warnen oder um Hilfe anzufordern. So produziert die Limabohne einen Duftstoff, wenn sie von Milben angegriffen wird. Zusätzlich sondert die Pflanze am Grund ihrer Blätter süßen Nektar ab, um Ameisen anzulocken, die sich über die Milben hermachen. Durch eine nachfolgende Duftwelle zieht die Bohnenpflanze Raubmilben an, die ebenfalls die parasitischen Milben fressen.
Elektrische Signale in Pflanzen
Dass auch Pflanzen wie tierische Nervenzellen Signale über elektrochemische Aktionspotenziale weitergeben, ist schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt. In ihren Fachartikeln vergleicht die Neurobiologen-Clique um den Bonner Frantisek Baluska und den Florentiner Stefano Mancuso immer wieder pflanzliche Strukturen und Abläufe mit denen des Nervensystems von Mensch und Tier. Baluska und Volkmann beschreiben etwa die "pflanzliche Synapse".
Schnappt eine Venusfliegenfalle zu, laufen elektrische Signale durch die Pflanze. Pflanzen besitzen kein Nervensystem wie wir Menschen. Trotzdem durchlaufen elektrische Signale eine Pflanze: als Reaktion auf Berührung oder Stress, wenn sie zum Beispiel von Tieren angeknabbert wird.
Kritik an der Pflanzenneurobiologie
Die Forschung zur Pflanzenneurobiologie ist nicht unumstritten. Einige Botanikprofessoren halten die Beschäftigung mit den Wahrnehmungsfähigkeiten der Pflanzen für zu esoterisch, zu spekulativ und zu wenig wissenschaftlich. Sie argumentieren, dass nur Tiere Neuronen, also Nerven, haben und dass es ohne Nerven keine Intelligenz, keine Erfahrung, kein Lernen, keine Individualität und kein Schmerzempfinden geben kann.
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David Robinson vom Heidelberger Institut für Pflanzenwissenschaften hält die Hypothese seiner Kollegen, dass Pflanzen zu Erfahrungen fähig sind, für die bei Tieren Nerven gebraucht werden, für "kompletten Unsinn". Mancuso entgegnet, dass gerade deutsche Professoren erbittert auf dem Dogma beharren, dass eine Pflanze eigentlich eine Maschine sei.
Die Bedeutung der Wurzelspitze
Charles Darwin erkannte bereits im 19. Jahrhundert die Bedeutung der Pflanzenwurzel. In seinem Buch "Das Bewegungsvermögen der Pflanzen" schrieb er: "Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die Wurzelspitze - ausgestattet […] mit der Kraft, die Bewegungen angrenzender Bereiche zu lenken - wie ein Gehirn eines niederen Tieres arbeitet; das Gehirn sitzt am vorderen Ende des Körpers, es empfängt Eindrücke von den Sinnesorganen und steuert verschiedene Bewegungen."
Die Wurzelspitze misst in jeder Millisekunde die Schwerkraft, das Licht, das Vorhandensein von Nährstoffen, aber auch von Giften wie Schwermetallen. Sie kann mindestens 15 chemische und physikalische Größen erfassen.
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