Alles, was wir tun, denken oder fühlen, entsteht aus den Aktivitätsmustern in unserem Gehirn. Diese Aktivitätsmuster hängen von den Verbindungen unserer Gehirnzellen ab. Viele Neurowissenschaftler glauben, dass das Verständnis der Gehirnfunktion durch das Kartieren aller Neuronen und Verbindungen des Gehirns - das Konnektom - möglich wird.
Die Komplexität des Gehirns und der Ansatz über Modellorganismen
Das menschliche Gehirn ist mit mehr als 80 Milliarden Neuronen und 100 Billionen Verbindungen unfassbar komplex. Um die Funktionsweise des Gehirns zu verstehen, greifen Forscher daher auf einfachere Modellorganismen zurück. Ein solches Modell ist die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster), deren Gehirn eine Million Mal weniger Neuronen enthält als das menschliche Gehirn.
Das Konnektom der Fruchtfliege: Ein Meilenstein der Neurowissenschaften
Ein internationales Team von Forschenden des FlyWire-Konsortiums, darunter Dr. Katharina Eichler von der Universität Leipzig, hat erstmals das Konnektom des Gehirns einer erwachsenen Fruchtfliege vollständig kartiert. Dieses Konnektom ist der bisher größte jemals erstellte Gehirnschaltplan. Das Projekt basierte auf Elektronenmikroskopie-Bildern aus dem Jahr 2018, die mit neuen Bildgebungstechnologien aufgenommen wurden. Das FlyWire-Team entwickelte Methoden zur präzisen Ausrichtung der Bilder und nutzte maschinelles Sehen, um einzelne Neuronen automatisch zu rekonstruieren. Um Fehler zu korrigieren, wurde eine computerbasierte Infrastruktur aufgebaut, die es Forschenden weltweit ermöglichte, die Neuronen-Rekonstruktionen zu überprüfen.
Aufbau des Fliegengehirns
Das Gehirn der Fruchtfliege ist mit einer Seitenlänge von etwa 250 Mikrometern sehr klein. Es besteht aus etwa 100.000 bis 200.000 Neuronen, deren Zellkörper einen Durchmesser von zwei bis vier Mikrometern haben. Das Zentralnervensystem der erwachsenen Fliege besteht aus einem Oberschlundganglion, einem Unterschlundganglion, einem ventralen Nervenstrang und dem stomatogastrischen Nervensystem.
Das Oberschlundganglion
Das Oberschlundganglion ist der größte Nervenknoten des zentralen Nervensystems und entspricht in seiner Funktion etwa dem Gehirn bei Wirbeltieren. Es ist wichtig für das Lernen und umfasst drei Abschnitte, darunter das Protocerebrum. Das Protocerebrum ist das Verarbeitungszentrum aller höheren Sinnesfunktionen sowie das entscheidende Steuerzentrum der meisten komplexeren Verhaltensweisen. Am Protocerebrum befinden sich die beiden optischen Loben, die für die visuelle Verarbeitung zuständig sind.
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Der Pilzkörper
Das Protocerebrum ist außerdem Sitz des Pilzkörpers, der für die Fruchtfliege besondere Bedeutung hat. Der Pilzkörper vereint auf kompaktem Raum wichtige Funktionen, die im menschlichen Gehirn auf unterschiedliche Regionen verteilt sind: die Integration von Sinneseindrücken, die Bildung und Speicherung von Erinnerungen und eine Entscheidungszentrale zur Verhaltenssteuerung. Er spielt eine maßgebliche Rolle dabei, die Sensorik in die Motorik zu übersetzen, und ist somit an der Entscheidung beteiligt, wie sich ein Tier verhält.
Das Unterschlundganglion, der ventrale Nervenstrang und das stomatogastrische Nervensystem
Das Unterschlundganglion ist ein weiterer wichtiger Teil des Fliegengehirns. Der ventrale Nervenstrang entspricht funktionell dem Rückenmark bei Wirbeltieren und ermöglicht es enthaupteten Fruchtfliegen, weiterhin komplexe motorische Programme auszuführen. Das stomatogastrische Nervensystem versorgt Mundhöhle, Vorderdarm und bestimmte Hormondrüsen und ist wichtig für die Futteraufnahme und Verdauung.
Funktionelle Aspekte des Fliegengehirns
Trotz seiner geringen Größe ermöglicht das Fliegengehirn komplexe Verhaltensweisen. Fliegen können riechen, sehen, lernen, sich erinnern und vergessen. Sie können Entscheidungen treffen, durch den dreidimensionalen Raum navigieren, Futter finden, Gefahren meiden und andere Fliegen bezirzen oder bekämpfen.
Sensorische Fähigkeiten
Die Netzhaut von Fruchtfliegen kann den e-Vektor von polarisiertem Licht ausmachen, was ihnen hilft, sich an der Sonne zu orientieren. Sie können auch Luftströmungen wahrnehmen, was ihnen möglicherweise hilft, die Quelle von Gerüchen auszumachen. Mit Hilfe von chemosensorischen Rezeptoren der Antennen können sie Kohlendioxid (CO2) wahrnehmen.
Lernen und Gedächtnis
Der Pilzkörper spielt eine wichtige Rolle beim Duft-Lernen. Die Geruchsinformation wird in ein paar hundert Neuronen im Antennenlappen kodiert und dann in den Pilzkörper projiziert, wo sie auf 4.000 Kenyon-Zellen trifft. Pro Geruch werden jedoch nur ein paar dieser Zellen aktiv. Die Kenyon-Zellen bilden sehr viele Synapsen mit Ausgangsneuronen des Pilzkörpers, und diese Synapsen verändern sich, wenn etwa auf einen Duft eine Belohnung wie Zuckerwasser folgt.
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Bewegungssteuerung
Drei große HS-Zellen in jeder Hirnhälfte reagieren auf großflächige, horizontale Bewegungen. Je nachdem, in welche Richtung sich die Umwelt bewegt, steigt oder sinkt ihr Membranpotential, was eine vermehrte oder verminderte Ausschüttung von Neurotransmittern auslöst. Durch diese doppelte Funktion können die HS-Zellen die Beine auf der einen oder anderen Körperseite abbremsen und so Drehungen einleiten.
Bedeutung des Fliegenkonnektoms für die Neurowissenschaften
Das Fliegenkonnektom gibt Einblicke, wie Informationen im Gehirn verarbeitet und in Verhalten umgewandelt werden. Einige dieser Prinzipien sind wahrscheinlich im menschlichen Gehirn ganz ähnlich organisiert. Das Projekt hat viele Techniken entwickelt und Forschungsfortschritte erzielt, die ein wichtiger Schritt in Richtung des Mauskonnektoms oder vielleicht in einigen Jahren auch des menschlichen Konnektoms sind.
Modellorganismus Drosophila melanogaster
Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ist ein beliebter Modellorganismus in der Forschung. Sie ist klein, pflegeleicht, überaus fruchtbar und vermehrt sich schnell. Ihre Gene lassen sich in einzelnen Gewebe- oder Zelltypen gezielt aktivieren, blockieren oder in ihrer Funktion verändern. Auch die Aktivität einzelner Zellen oder Moleküle lässt sich im lebenden Tier gut manipulieren und beobachten.
Anwendung in der Forschung
Drosophila wird in vielen Bereichen der biologischen Forschung eingesetzt, darunter Entwicklungsbiologie, Genetik, Neurobiologie und Verhaltensforschung. Sie hat zur Entdeckung vieler wichtiger Gene und Mechanismen beigetragen, die auch im Menschen vorkommen.
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