Helga Schubert: Demenzforschung und die Kunst des liebevollen Umgangs

In einer Welt, in der fast jeder Mensch Erfahrungen mit Demenz macht, sei es im Familien- oder Freundeskreis, bietet Helga Schubert, Psychotherapeutin, Schriftstellerin und Trägerin des Bachmann-Preises 2020, in ihrem Buch „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ einen Einblick in den Umgang mit dieser Herausforderung.

Die Realität der Demenz: Ratlosigkeit und Hilflosigkeit

Die Erfahrungen mit Demenz sind oft von Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Ungeduld geprägt. Betroffene erkennen ihre Liebsten nicht mehr, äußern "unsinnige" Dinge und tauchen in eine andere Zeit und Welt ein. Dies stellt Angehörige vor die Frage, wie sie damit umgehen sollen.

Helga Schuberts Ansatz: Wärme, Lebensbejahung und die Pflege eines dementen Partners

Helga Schubert, selbst 84 Jahre alt, beschreibt in ihrem Buch voller Wärme und Lebensbejahung, wie sie ihren 13 Jahre älteren, schwerkranken, palliativ betreuten und dementen Mann umsorgt. Sie zeigt, wie der gemeinsame Radius immer eingeschränkter wird und die Kontakte nach außen stetig abnehmen. Sie schreibt davon, „wie man in solchen Umständen selbst den Verstand und der andere die Würde behält, wie es ist, mit einem todkranken Menschen durch dessen Zwischenwelten zu wandeln.“

Ihr Buch macht Mut und gibt Kraft, eine Liebeserklärung an das Leben, gerade auch in seiner Endlichkeit. Helga Schubert erzählt, wie man Frieden machen kann mit diesem Leben und die Lebensgeschichte in Literatur verwandelt.

„Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“: Eine schonungslose und zärtliche Erzählung

Helga Schubert war einmal Psychologin, ihr Mann Psychologieprofessor. Er wurde später Maler, sie zur großen deutschen Schriftstellerin und Bachmann-Preisträgerin. Seit 15 Jahren kümmert sich Helga Schubert um ihren schwerkranken Mann und schreibt noch immer, meistens nachts. In ihrem neuen Erzählband „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ berichtet sie so zärtlich wie schonungslos von der großen Aufgabe, ihren dementen Mann zu pflegen - von den kleinen Momenten des Leidens und der Zuneigung. Das Buch handelt vom Leben im Jetzt, von der Vorbereitung auf das Ende und vom Preis einer langen Liebe.

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Die Bedeutung des Augenblicks: „In genau diesem Moment bleiben“

Für die Erzählerin in Helga Schuberts neuem Buch „Der heutige Tag“ ist es Lebensmotto, „in genau diesem Moment bleiben“. Die 83-jährige Erzählerin pflegt ihren 96-jährigen, schwer dementen Ehemann und freut sich an jeder gemeinsamen Sekunde, obwohl in diesen Sekunden auch herausgerissene Blasenkatheter vorkommen, umgekippte Rollstühle, Dutzende Tabletten täglich, aber manchmal kein gegenseitiges Erkennen.

Die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit: Eine Notwendigkeit

Niemand will krank und pflegebedürftig werden, am Ende des Lebens "dahinsiechen", wie es oft heißt, ein Wort, das man in Schuberts Buch nicht finden wird. Und doch kommt es für die allermeisten Menschen am Lebensende genau so. Sich damit auseinanderzusetzen ist daher nicht die dümmste Idee und die Lektüre von „Der heutige Tag“ nicht der dümmste Start.

Die kleinen Freuden des Lebens: „So darf ein Leben doch ausatmen“

Die Erzählerin ist, unschwer zu erkennen, Helga Schubert selbst, die auch im wahren Leben ihren Mann pflegt, den Maler und Psychologieprofessor Johannes Helm. Im Buch heißt er Derden, das soll für "der, den ich liebe" stehen. Dann beschreibt sie ihren Tag, ihre Tage, kleinteilig bis hin zum "Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille". Derlei sind die letzten kleinen Freuden, die ihrem Mann noch geblieben sind, doch Helga Schubert schreibt darüber zärtlich: "So darf ein Leben doch ausatmen."

Ein ehrliches Buch: Harte Wahrheiten und die Frage nach der Liebe

Bei genauerem Hinspüren ist es ein hartes Buch, das einem zwischen den weichen, liebevollen, poetischen Sätzen Kinnhaken versetzt. Jede Seite erinnert daran: Auch du wirst nicht einfach tot umfallen, höchstwahrscheinlich. Auch du wirst in deinen letzten Lebensjahren gewickelt werden müssen und niemanden mehr erkennen, du wirst halluzinieren und sabbern, hilflos sein, verwirrt.

Kann man so ein Leben dann lieben? Von so einem Wesen noch zurückgeliebt werden? Das wird die Erzählerin von so vielen Menschen gefragt, dass man es sich irgendwann auch fragt. Ab wann wird der Preis zu hoch, wann ist man zu alt, wann übersteigt der Schmerz und der Aufwand die Liebe, und war es überhaupt je Liebe, wenn das irgendwann passiert?

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Rückblenden auf ein gemeinsames Leben: Die Stärke der Liebe

Schubert beantwortet diese Fragen auch mit vielen Rückblenden auf ihr gemeinsames Leben, das Kennenlernen am Lehrstuhl für Psychologie, das gemeinsame Leben in der DDR, die sie schon damals ihm zuliebe, der Liebe zuliebe, nicht verließ. Heute lässt sie sich wieder ein auf seine Welt, die nicht die ihre ist, lässt sich verwechseln ("Wer weiß, vielleicht bestehe ich ja aus drei Frauen. Vielleicht hat er das gerade erkannt. Nur ich wusste es noch nicht.") und feiert Weihnachten im Februar, weil er eben glaubt, es sei der 24. Dezember, und andernfalls traurig wäre.

Die schonungslose Darstellung der Pflege: Bittere, traurige und harte Momente

Auch das eine Irritation, dass eine Frau so geradeheraus schreibt, wie viel sie für ihren Mann aufgegeben hat, und gleichzeitig, wie glücklich sie das gemeinsame Leben macht, immer noch, auch wenn es eines ist, das viele Menschen für keins mehr halten. Es ist ein grundsätzliches Dilemma des Schreibens und der öffentlichen Debatte, dass die, die es tun und daran teilnehmen, oft nur indirekte Kenntnisse haben. Wer pflegt, schreibt nicht, spricht nicht - keine Zeit für so was.

So viel Liebe auch vorkommt (schon im Untertitel, der lautet "Ein Stundenbuch der Liebe"), die bitteren, traurigen, harten Momente, die die Pflege eines schwer kranken Menschen mit sich bringt, lässt Schubert nicht aus: Menschen, die ihr vorschlagen, dem Mann Morphium zu geben oder ihn mit einem kalten Waschlappen im Gesicht morgens zu wecken; die Unmöglichkeit, mal wegzufahren, weil es niemanden gibt, der sie in der Pflege ersetzen kann; ihr inneres Verbot, darüber nachzudenken, was sein nahender Tod für sie auch für Vorteile hat.

Der Glaube als Fundament: Keine Gedanken an ein Lebensende setzen

Am stärksten ist Schuberts Erzählung, wenn sie in den Details bleibt, minutiös ihren Alltag beschreibt und ihre Gefühle dazu aufs Papier legt. Dem Buch vorangestellt hat Helga Schubert ein Zitat aus dem Matthäus-Evangelium. Sie ist gläubig, weswegen sich alle Gedanken daran, einem anderen Leben ein Ende zu setzen, und sei es nur durch ein bisschen weniger Hingabe, für sie komplett verbieten. Dort steht: "Darum sorgt nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen.

Helga Schubert: Eine Stimme für die Pflege und den Umgang mit Demenz

Helga Schubert ist da eine Ausnahme. Die Geschichte, die "Der heutige Tag" erzählt, hat sie - teilweise wortgleich - in den vergangenen Jahren auch in vielen Interviews erzählt, die sie gegeben hat, nachdem sie im Alter von 80 Jahren den Bachmann-Preis gewonnen hat. Der westdeutschen Öffentlichkeit ist sie erst seitdem so richtig ein Begriff, obwohl sie schon seit vielen Jahrzehnten Romane schreibt und veröffentlicht.

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„Der heutige Tag“: Ein Buch, das nicht mehr loslässt

In ihrem autobiografischen Roman erzählt Helga Schubert anrührend vom Leben mit ihrem pflegebedürftigen Mann. Seit sie 2020 den Bachmann-Preis gewann und kurz darauf mit „Vom Aufstehen“ die Bestsellerlisten hin­aufkletterte, wird Helga Schubert oft zu abendlichen Lesungen eingeladen. Sie folgt ihnen nur selten, denn: Wer kümmert sich dann um ihren pflegebedürftigen Mann? Sie lebt mit ihm schon fast ein Leben lang, seit mehr als 50 Jahren, und jetzt, am Ende, so eng verbunden wie nie. Ein Gefängnis, in manchen Momenten. Eine innige, dankbare Liebe in vielen anderen. Ihr autobiografischer Roman „Der heutige Tag“ erzählt davon. Denn wie im Erleben der 83-Jährigen jeder Handgriff, nahezu jeder Alltagsgegenstand zu einem Denkanstoß wird, in dem, resümierend, alles mit allem zusammenhängt, Damals und Jetzt, Wut und Dankbarkeit, Erschöpfung und Neugier, das lässt einen nicht mehr los. Aus dieser Aufgabe hat Schubert jetzt eine große Erzählung gemacht. Und ist der Lösung damit, scheint es, außergewöhnlich nahe gekommen: „Das ist übrig nach unseren Jahrzehnten, dachte ich: Hände, die sich aneinander wärmen. Ich gab ihm unter der Decke die Hand und drückte sie. Und er drückte meine Hand. Wie ein Versprechen. In guten und in schlechten Zeiten.

Die Lesung in Bad Nauheim: Einblick in die Welt der Demenz und des Loslassens

Am 12.09.2024 las die Schriftstellerin und Psychotherapeutin und Preisträgerin des Ingeborg-Bachmann-Preises 2020, Helga Schubert, auf der 161. Veranstaltung der Bad Nauheimer Gespräche aus ihrem neuesten Buch „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“. Darin schildert die 84-jährige Autorin literarisch das Leben mit ihrem 97-jährigen pflegebedürftigen und an Demenz leidenden Mann. "Ein Buch über Liebe und Zuneigung, über den Umgang mit Demenz und Gebrechlichkeit des Partners, über das Leben in seiner Endlichkeit und ganz besonders auch über Würde", so Prof. Dr. med. Ursel Heudorf in ihrer Anmoderation.

Mit der Lesung lädt die Autorin die Zuhörer ein in ihre Welt, in ihre Literatur. Im Gespräch wird nicht nur der Umgang mit geliebten, hilfebedürftigen dementen Menschen aufgegriffen. Es geht auch um Sterben und Tod, das Loslassen, das Annehmen, bis hin zur Frage des selbstbestimmten Sterbens - Suizid, Suizidassistenz und Suizidprävention. Themen, die die Zuhörer berührten und die sie nach Ende der Veranstaltung in Gesprächen in kleinen Gruppen aufgriffen.

Helga Schubert: Eine Außenseiterin, die zur Stimme der Liebe und des Lebens wird

Jahrzehntelang wurde das Werk von Helga Schubert kaum wahrgenommen. In der DDR war die Psychotherapeutin und Schriftstellerin wegen ihrer kritischen Haltung zum „realen Sozialismus“ und ihrer religiösen Bekenntnisse eine Außenseiterin. Als sie 2020 für ihren Geschichten-Band „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie bereits 80. Aber noch 13 Jahre jünger als ihr Mann, der Psychologe, Maler und Schriftsteller Johannes Helm, der inzwischen schwer erkrankt ist und dem sie nun ihr neues Buch widmet. Denn die Liebe, die sie dem Mann, den sie im Buch nur „Derden“ nennt, nach unzähligen gemeinsamen Jahren immer noch entgegenbringt, ist durch nichts zu erschüttern. Nicht durch Katheter und Windeln, die ständig gewechselt werden müssen, und auch nicht dadurch, dass Helga Schubert kaum noch aus dem Haus kommt und fast jede Einladung zu Lesungen ausschlagen muss, weil sie niemanden findet, der sich ein paar Stunden oder gar für einen Tag um ihren Mann kümmern möchte. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Manchmal ist Helga Schubert zornig und traurig. Dass die Politik die immer drängender werdenden Probleme von Alter, Krankheit und Pflege verdrängt, macht sie fassungslos. Meistens aber ist sie erstaunlich gelassen, erträgt ihr Schicksal, als sei es ihr von Gott aufgegeben. Als eine Ärztin zu ihr sagt: „Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben!“, denkt sie: „Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte.

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