Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, von der über eine halbe Million Menschen in Deutschland betroffen sind. Sie manifestiert sich durch wiederholte Anfälle, die durch abnorme elektrische Entladungen im Gehirn verursacht werden. Die Ursachen für Epilepsie sind vielfältig und reichen von genetischen Veranlagungen bis hin zu erworbenen Hirnschäden. Eine besondere Rolle spielen dabei Entwicklungsstörungen des Gehirns, wie die Heterotopie.
Was ist Heterotopie?
Heterotopie bezeichnet in der Medizin die Ansammlung von Gewebe oder Zellen an einer ungewöhnlichen Lokalisation. Im Gehirn entsteht sie, wenn Nervenzellen während der Entwicklung nicht an ihren vorgesehenen Platz wandern. Dieser Prozess, die neuronale Migration, ist ein komplexer Vorgang, der während der Schwangerschaft abläuft.
Neuronale Migration im Überblick
Die Migration der Neuronen, die den zukünftigen Kortex bilden, beginnt etwa in der 8. Schwangerschaftswoche und endet um die 28. SSW. Die in der Ventrikularzone (VZ) und Subventrikularzone (SVZ) entstehenden Neuronen wandern radial zur Hirnoberfläche über die Fortsätze der Gliazellen in Richtung Pia mater. Auf diese Art formieren sich die Preplate (PP) zwischen der VZ und SVZ und der pialen Oberfläche. Danach teilen die Neuronen durch diese Migration die PP in 2 Teile: die Marginalzone (MZ; zukünftige kortikale Schicht I) und die Subplate (SP). Die neuronale Migration des Neokortex läuft nach dem Inside-out-Muster ab. Das bedeutet, dass die ältesten Neuronen die kortikale Schicht VI ausbilden und die jüngsten Neuronen die Schicht II. Die Neuronen müssen bei der Migration durch die fetale weiße Substanz (intermediäre Zone, IZ) migrieren. Während des dritten Monats der Fetalperiode wachsen die Hemisphären im Verhältnis zur Insula und formieren Frontal‑, Parietal‑, Okzipital- und Temporallappen. Auf diese Weise entsteht die erste Fissur des Neokortex - die Fissura lateralis cerebri. Im 6. Schwangerschaftsmonat entstehen die ersten Fissuren und primäre Sulci. Am Ende des 6. Monats erscheinen parallel zum Sulcus centralis noch der Gyrus postcentralis und der Gyrus praecentralis. Die Entwicklung der primären Sulci setzt sich während des 7. Monats fort. Im Frontallappen entstehen der Sulcus frontalis superior und inferior. Genau in dieser Zeit entwickelt sich das Operculum frontale und bedeckt den frontalen Anteil der Insula. Während des 8. Monats entwickelt sich der äußere Anteil der Hemisphären, was zur definitiven Überdeckung der Fossa lateralis cerebri führt und somit die Insula fast komplett abdeckt. Während dieser Periode entstehen die sekundären Gyri und Sulci, die sich konzentrisch um die primären Sulci formieren. Das Relief der Großhirnhemisphären ist zu diesem Zeitpunkt noch flach. In den letzten 2 Schwangerschaftsmonaten kommt es zu einer kompletten Abdeckung der Insula. Darüber hinaus werden die tertiären Sulci gemeinsam mit Assoziationsfasern geformt.
Wenn dieser Wanderungsprozess gestört wird, können Neuronen an falschen Orten im Gehirn verbleiben. Diese fehlplatzierten Nervenzellansammlungen werden als Heterotopien bezeichnet. Heterotopien können in verschiedenen Formen auftreten und unterschiedliche Bereiche des Gehirns betreffen.
Formen der Heterotopie
Zu dieser Gruppe gehören nach der Klassifikation nach Barkovich aus dem Jahr 2016 die Heterotopien, „Cobblestone“/Pflasterstein-Malformationen und die Gruppe der Lissenzephalien. Die vermehrte Migration basiert auf Defekten, die durch fehlerhafte Verbindung radialer Glia mit der Glia limitans resultieren.
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- Subkortikale Bandheterotopie ("Double Cortex"): Hierbei bildet eine Schicht von grauer Substanz unterhalb der Hirnrinde ein Band.
- Periventrikuläre noduläre Heterotopie: Knoten von grauer Substanz liegen entlang der Ventrikelwände.
- Fokale kortikale Dysplasie: Ein umschriebener Bereich der Hirnrinde ist fehlerhaft aufgebaut.
- Lissenzephalie: Eine schwere Form der Migrationsstörung, bei der die Hirnoberfläche glatt ist und kaum Windungen aufweist.
Ursachen von Heterotopien
Die Ursachen für Heterotopien sind vielfältig. Spezifische Formen bilateraler periventrikulärer und subkortikaler Heterotopie scheinen auf Mutationen zurückzugehen. Die möglichen Ursachen für Heterotopien im Gehirn werden zur Zeit untersucht. Störungen in der Formation oder Funktion der Mikrotubuli liegen vielen Hirnmalformationen zu Grunde. Bei der Lissenzephalie handelt es sich um eine Störung der Migration, bei der zu wenige Neuronen Richtung Kortex migrieren. Die Mutationen der Tubulin- und MAP-Gene sind für die klassische Lissenzephalie verantwortlich.
- Genetische Faktoren: Mutationen in Genen, die für die neuronale Migration wichtig sind, können Heterotopien verursachen.
- Infektionen: Infektionen während der Schwangerschaft können die Gehirnentwicklung beeinträchtigen und zu Heterotopien führen.
- Andere Faktoren: Auch andere Faktoren wie Sauerstoffmangel oder Medikamenteneinnahme während der Schwangerschaft können eine Rolle spielen.
Heterotopie und Epilepsie
Heterotopien gelten als eine wichtige Ursache für therapierefraktäre Epilepsie. Die fehlplatzierten Nervenzellen in den Heterotopien können zu einer erhöhten Erregbarkeit des Gehirns führen und somit epileptische Anfälle auslösen. Das Risiko für Epilepsie ist bei Menschen mit Heterotopien deutlich erhöht. Viele Patienten erleiden epileptische Anfälle innerhalb der ersten 5 Lebensjahre.
Fallbeispiel
Ein 24-jähriger Mann ohne erwähnenswerte Eigen- oder Familienanamnese hatte seit dem 19. Lebensjahr einfach-partielle Anfälle. Sie beinhalteten entweder Bewusstseinstrübung oder aufblitzende Sternformen im oberen Gesichtsfeld, die nie gemeinsam auftraten. Dann zeigten sich zwei unterschiedliche Typen komplex-partieller Anfälle mit oder ohne Aura. Der eine Typ bestand in Bewusstseinsstörung, Blässe und Reiben der Hände, der andere in somatischen Sensationen, Bewusstseinsstörung, dem Greifen nach nahestehenden Personen und unzusammenhängenden Äußerungen. Mit MRT wurde heterotope graue Substanz gesehen, die sich kontinuierlich, in dünnen unregelmäßigen Bändern subkortikaler Heterotopie beidseits sowohl ins Frontal- als auch ins Parietalhirn sowie nach hinten in den Okzipitallappen ausdehnte. Die Bänder waren in ihrem Mittelteil am dünnsten. Nach unten näherten sie sich den Ventrikeln an und schienen mit periventrikulärem heterotopen Gewebe in Verbindung zu stehen. Das Corpus callosum war hinten verdünnt, beide Seitenventrikel und die Cisterna magna waren vergrößert. Beide Hippocampi waren hinten formverändert und im absoluten Volumen, links mehr als rechts, reduziert. Das Besondere an dem hier dargestellten Fall ist, dass die heterotopen Bänder näher an den Ventrikeln als am Kortex liegen und ihre Mittelteile am dünnsten sind. Diese Kombination der Fehlbildungen wurde bisher noch nicht beschrieben.
Diagnose von Heterotopien
Die Diagnose von Heterotopien erfolgt in der Regel durch bildgebende Verfahren des Gehirns, insbesondere durch Magnetresonanztomographie (MRT). Die MRT kann die abnormen Nervenzellansammlungen sichtbar machen und somit die Diagnose sichern.
Die Rolle der MRT in der Epilepsiediagnostik
Oberarzt PD Dr. Tobias Engelhorn von der Abteilung für Neuroradiologie des Universitätsklinikums Erlangen betont: „Die Epilepsie-Bildgebung ist ein Spiel mit eigenen Regeln“. Er erklärt, dass besonders dünnschichtige Sequenzen und eine spezielle Schichtführung im MRT verwendet werden, die entlang des Temporallappens und nicht in Richtung der vorderen Schädelbasis ausgerichtet ist. Durch die rasante Weiterentwicklung von immer leistungsstärkeren MRT-Geräten verbessern sich die Möglichkeiten zum Teil extrem subtile Strukturveränderungen nachzuweisen allerdings stetig. „Jedoch streiten sich die Gelehrten zum jetzigen Zeitpunkt noch darüber, wie viel mehr man in einem 3- oder 7-Tesla-Gerät tatsächlich sieht“ räumt Dr. Engelhorn ein. „Fakt ist, dass wir dank höherer Magnetfeldstärken überhaupt erst in der Lage sind, bestimmte Abweichungen zu detektieren. Dazu zählt die kortikale Heterotopie, bei der die graue Substanz im Zuge der Entwicklung des Gehirns nicht nach außen an den Mantel gewandert ist, sondern in der weißen Substanz versprengt liegt. Die größte Herausforderung in der Epilepsiediagnostik ist und bleibt, dass jedes Gehirn wie ein Fingerabdruck ist: Keines gleicht dem anderen. Das heißt, jeder Mensch hat einzigartige Normvariationen, die ihn von anderen unterscheiden. „Für uns stellen sich daher immer dieselben Fragen: Ab wo hört die Abweichung von der Norm auf und wo fängt die Pathologie an? Deshalb setzen die interdisziplinären Profis in Epilepsiezentren zur Absicherung ihrer Ergebnisse auf verschiedene Untersuchungsverfahren: Die Kliniker im EEG-Labor auf die Hirnstromableitung, die Nuklearmediziner u.a. auf die Perfusions-Szintigraphie und die Neuroradiologen eben auf das MRT. Ein weiterer Vorteil hoher Feldstärken bei der Epilepsiediagnostik im MRT sind die vielen funktionellen Verfahren, die sich dadurch realisieren lassen: Darunter das Messen von Molekularbewegungen (Diffusion) und der Gehirndurchblutung oder Darstellung der Stoffwechselmetabolite mittels der MR-Spektroskopie. Wenn schlussendlich alle Befunde der verschiedenen Fachdisziplinen auf eine bestimmte Auffälligkeit hinweisen, werden weitere detaillierte Nachforschungen angestellt. Denn auch ein so typischer Befund wie etwa eine Hippocampus-Sklerose bedarf weiterer Tests. Liegt die Malformation im linken Schläfenlappen, gilt es abzuklären, inwieweit Sprache oder Gedächtnis durch einen chirurgischen Eingriff beeinträchtigt werden könnten. „Gerade die Strukturen im Schläfenlappen sind sehr komplex. Hier könnten noch höhere Feldstärken in Zukunft helfen, einzelne veränderte Zellcluster zu visualisieren“, hofft Dr. Engelhorn.
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Neben der MRT können auch andere Untersuchungsmethoden wie das Elektroenzephalogramm (EEG) eingesetzt werden, um die Diagnose zu unterstützen und die epileptische Aktivität im Gehirn zu beurteilen.
Therapie von Heterotopie-bedingter Epilepsie
Die Therapie von Epilepsie, die durch Heterotopien verursacht wird, kann eine Herausforderung darstellen. Medikamente können die Anfälle oft nicht vollständig kontrollieren. In einigen Fällen kann eine Operation in Erwägung gezogen werden, um die Heterotopie zu entfernen oder die Ausbreitung der epileptischen Aktivität zu begrenzen.
Epilepsiechirurgie als Option
Da das Gehirn nicht repariert werden kann und sich Nervenzellen nicht im Nachhinein umorganisieren können, ist eine Ausheilung der Epilepsie (also ein Leben ohne Anfälle und ohne Therapie) bei den Betroffenen unwahrscheinlich. Allerdings kann sich in einzelnen Fällen bei einem schweren Verlauf die Möglichkeit einer Epilepsiechirurgie mit Entfernung der anfallsauslösenden Läsion ergeben.
Weitere Therapieansätze
Zerebrale Organoide oder Mini-Gehirne gelten als vielversprechend für die regenerative Medizin. Im Hinblick auf die oben beschriebenen Fragestellungen können diese Technologien dazu beitragen, die Wissenslücke zu schließen, die zwischen den Resultaten aus Mausmodellen und dem Wissen über Fehlbildungen im menschlichen Gehirn klafft. Die Identifikation eines Netzwerks von Genen und Signalwegen, die für kortikale Fehlbildungen verantwortlich sind, wird - zusammen mit dem Verständnis für die funktionalen Aspekte dieser Krankheiten - wegweisend sein bei der Suche nach gemeinsamen molekularen und zellulären Mechanismen. Das kann dazu beitragen, neue Strategien für einen therapeutischen Ansatz zu entwickeln.
Genetische Beratung
Auf der Grundlage von klinischen Befunden und entsprechenden bildgebenden Verfahren in Verbindung mit den Ergebnissen der genetischen Diagnostik kann im Einzelfall eine Einordnung des Krankheitsbildes und eine verbesserte genetische Beratung betroffener Familien erfolgen.
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Forschungsperspektiven
Die Erforschung der Heterotopien und ihrer Ursachen ist ein wichtiges Feld der Neurowissenschaften. Durch ein besseres Verständnis der Mechanismen, die der neuronalen Migration zugrunde liegen, können neue Therapieansätze entwickelt werden, um Epilepsie und andere neurologische Störungen zu behandeln.
Die Rolle von iPS-Zellen
Die Möglichkeit der zellulären Reprogrammierung von Körperzellen hat das Modellieren menschlicher Erkrankungen und Fehlbildungen revolutioniert. In kürzester Zeit haben sich reprogrammierte Zelllinien zu einer unverzichtbaren und flexiblen zellulären Plattform sowohl für die Grundlagenforschung als auch für die regenerative Medizin entwickelt. So konnte ein passendes Modell zur Entwicklung des menschlichen Gehirns etabliert werden, das die einzigartige Möglichkeit bietet, Modellsysteme von Fehlbildungen zu validieren und sich der Komplexität des menschlichen Gehirns anzunähern. Menschliche IPS-Zellen werden aus den Körperzellen von Patienten generiert und können in neuronale Stammzellen und Neurone differenziert werden. Mit Hilfe des CRISPR/Cas9-Systems, einer kürzlich entwickelten Technologie zum Genome-Editing, können Kontroll- und Patientenzelllinien mit demselben genetischen Hintergrund hergestellt werden, die sich nur durch Mutationen in bestimmten Genen unterscheiden. So kann die Rolle dieser spezifischen Gene in der Entwicklung des Gehirns untersucht werden. Dadurch lassen sich allgemeine zelluläre Mechanismen identifizieren, die der Bildung von Heterotopien zugrunde liegen. Außerdem können die zellulären und funktionalen Eigenschaften der umprogrammierten neuronalen Stammzellen und Neurone untersucht und so verschiedene Entwicklungsprozesse eingehend unter die Lupe genommen werden.
Das Verbundprojekt HETER-OMICS
Unter Heterotopie versteht man in der Medizin die Bildung von Gewebe oder Zellen an atypischen Stellen. Dies kann auch im Gehirn auftreten, wenn sich während der Entwicklung Nervenzellen nicht richtig anordnen können. Betroffene leiden häufig an Epilepsie, Entwicklungsverzögerungen oder geistiger Behinderung. Die Ursachen dieser Erkrankung sind noch weitgehend unbekannt und entsprechende Therapien fehlen. Ziel des Verbundes HETER-OMICS ist es, mit verschiedenen Tier- und Zellmodellen umfassende zelluläre und molekulare Analysen durchzuführen. Dadurch werden die Veränderungen, die der Erkrankung zugrunde liegen, in den Zellen weiter charakterisiert. Zudem werden klinische Daten von Betroffenen erhoben. Im Verbund forschen Arbeitsgruppen aus fünf Ländern gemeinsam an der Lösung dieser Fragen. Mit der Fördermaßnahme wird das Ziel verfolgt, ergänzende Expertisen und Ressourcen von einschlägig qualifizierten Arbeitsgruppen aus den teilnehmenden Ländern zusammenzuführen. Durch kooperative Forschungsansätze sollen Fortschritte bei der Therapie seltener Krankheiten ermöglicht werden, die allein auf nationaler Ebene nicht zu erreichen wären.
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