Hildegard von Bingen: Nervenheilkunde, Visionen und das Erbe einer Universalgelehrten

Hildegard von Bingen, eine bemerkenswerte Frau des Mittelalters, hat mit ihren vielfältigen Werken in Mystik, Religion, Medizin, Musik, Ethik, Kosmologie, Seelsorge und Predigt die Gesellschaft ihrer Zeit nachhaltig geprägt. Ihre ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen, die Körper, Geist und Seele in Einklang bringen will, findet bis heute Beachtung.

Leben und Wirken einer außergewöhnlichen Frau

Geboren wurde Hildegard 1098 als zehntes Kind einer adligen Familie in Bermersheim bei Alzey. Schon in jungen Jahren zeigte sie eine besondere Sensibilität und Klugheit. Mit etwa acht Jahren trat sie in das Benediktinerkloster Disibodenberg ein, wo sie von Jutta von Sponheim und später von dem hochgebildeten Mönch Volmar unterrichtet wurde. Im Gegensatz zu den männlichen Klosterschülern erhielten die Mädchen jedoch keine umfassende Ausbildung, sondern lernten vor allem praktische Fertigkeiten wie Handarbeit und Gartenpflege.

Nach dem Tod Jutta von Sponheims im Jahr 1136 wurde Hildegard zur Magistra der Nonnen gewählt. Fünf Jahre später erlebte sie eine tiefgreifende Vision, in der ihr Gott befahl, ihre Visionen niederzuschreiben und zur "Posaune Gottes" zu werden. Zunächst zögerte sie, doch schließlich begann sie 1141 mit der Arbeit an ihrem ersten großen Werk, dem "Liber Scivias" ("Wisse die Wege").

Visionen und göttliche Inspiration

Hildegards Visionen waren ein zentraler Aspekt ihres Lebens und Wirkens. Sie beschrieb diese als ein "feuriges Licht mit Blitzesleuchten", das ihr den Sinn der Schriften erschloss. Die "Stimme vom Himmel" forderte sie auf, dies öffentlich kundzutun.

Die Deutung dieser Visionen ist bis heute umstritten. Einige moderne Neurologen wie Oliver Wolf Sacks sehen in ihnen Migräneanfälle mit einer ausgeprägten Aura von Lichterscheinungen. Andere Wissenschaftler vermuten eine Multiple Sklerose mit Entzündungen des Sehnerven während eines Krankheitsschubes. Hildegard selbst unterschied jedoch klar zwischen göttlicher Inspiration und krankhaften Zuständen.

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Hildegards Medizin: Eine ganzheitliche Sichtweise

Neben ihren theologischen und kosmologischen Schriften verfasste Hildegard auch zwei bedeutende heilkundliche Werke: den "Liber simplicis medicinae: Physica" ("Buch der einfachen Medizin", heute bekannt als "Heilsame Schöpfung - Die natürliche Wirkkraft der Dinge") und den "Liber compositae medicinae - Causae et Curae" ("Ursprung und Behandlung von Krankheiten").

In diesen Werken präsentierte sie ein umfassendes medizinisches Wissen, das auf der Grundlage der hippokratischen Lehre und der Viersäftelehre basierte. Hildegard betonte die Bedeutung einer ganzheitlichen Betrachtung des Menschen, bei der Körper, Geist und Seele eine Einheit bilden. Sie sah Krankheiten als Ergebnis eines Missverhältnisses zu Gott und betonte die Wichtigkeit einer gesunden Lebensführung, die Maßhalten in allen Bereichen, insbesondere in der Ernährung, einschließt.

Hildegard empfahl die Anwendung von Heilpflanzen und Arzneien erst dann, wenn eine gesunde Lebensweise nicht zum Ziel führte. Chirurgische Maßnahmen wie Schröpfen und Aderlass sollten nur als letzte Möglichkeit in Betracht gezogen werden. Sie beschrieb sowohl die Arzneien als auch die chirurgischen Verfahren ausführlich in ihren medizinischen Lehrbüchern.

Sexualität in Hildegards Schriften

Bemerkenswert ist auch Hildegards offene Auseinandersetzung mit dem Thema Sexualität in ihren Schriften. Sie kannte sich bestens mit allen gynäkologischen Problemen aus und beschrieb die weibliche Sexualität für ihre Zeit auf einzigartige Weise. So notierte sie nüchtern, dass das weibliche Ejakulat im Verhältnis zum männlichen so viel sei "wie ein Bissen im Vergleich zum ganzen Brot".

Hildegards Einfluss und Rezeption

Hildegards Werke fanden zu ihren Lebzeiten große Anerkennung und Bewunderung. Sie korrespondierte mit hochrangigen Persönlichkeiten wie Papst Eugen III. und Kaiser Friedrich Barbarossa, die sie um Rat baten. Ihre Schriften wurden von der Kirche geprüft und für rechtgläubig befunden.

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Nach ihrem Tod im Jahr 1179 wurde Hildegard wie eine Heilige verehrt. Papst Benedikt XVI. sprach sie 2012 heilig und erhob sie zur Kirchenlehrerin. Ihre medizinischen Erkenntnisse und ihre ganzheitliche Sichtweise auf den Menschen werden bis heute geschätzt und in der sogenannten "Hildegard-Medizin" angewendet.

Hildegard-Medizin heute

Die Hildegard-Medizin erfreut sich großer Beliebtheit und wird von vielen Menschen als eine sinnvolle Ergänzung zur modernen Medizin betrachtet. Sie basiert auf den Prinzipien der Ganzheitlichkeit, der natürlichen Heilkraft der Dinge und einer gesunden Lebensführung.

Ein wichtiger Bestandteil der Hildegard-Medizin ist die Ernährung. Hildegard empfahl eine ausgewogene, naturbelassene Ernährung mit Dinkel als bevorzugtem Getreide. Sie betonte auch die Bedeutung von Bitterkräutern wie Andorn, Beifuß, Bohnenkraut, Ringelblume und Schafgarbe sowie von Galgant und Ingwer.

Kritik und Kontroversen

Trotz ihrer großen Anerkennung gab es auch Kritik an Hildegard von Bingen und ihrer Lehre. Einige Historiker zweifeln die Echtheit ihrer naturkundlichen Schriften an, da erste Abschriften erst im 14. Jahrhundert auftauchten und möglicherweise erweitert und umgestellt wurden.

Auch die Interpretation ihrer Visionen als Migräneanfälle oder Halluzinationen ist umstritten. Hildegard selbst betonte jedoch immer wieder den göttlichen Ursprung ihrer Visionen und unterschied klar zwischen göttlicher Inspiration und krankhaften Zuständen.

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