Hirnorganisches Psychosyndrom und Multiple Sklerose: Ein Vergleich

Die Multiple Sklerose (MS) und das hirnorganische Psychosyndrom sind zwei unterschiedliche Erkrankungen, die jedoch beide Auswirkungen auf das Gehirn und die Psyche haben können. Während die MS eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems ist, die vorwiegend die Myelinscheiden der Nervenfasern betrifft, ist das hirnorganische Psychosyndrom ein Sammelbegriff für psychische Störungen, die durch organische Hirnschädigungen verursacht werden.

Multiple Sklerose: Eine neurologische Erkrankung mit psychischen Auswirkungen

Diagnose und erste Reaktionen

Die Diagnose MS wird in der Regel zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr gestellt, einer Lebensphase, in der Menschen oft mitten in ihrer beruflichen Entwicklung stehen, Familien gründen oder ein Haus bauen. Die Diagnose kann daher zu Erschrecken, Ratlosigkeit und Verzweiflung führen. Fragen wie "Warum bin gerade ich betroffen?", "Wie wird sich die Erkrankung entwickeln?" und "Kann ich meinen Beruf weiter ausüben?" beschäftigen viele Betroffene. Da die Ursachen der MS bis heute nicht vollständig geklärt sind und eine exakte Prognose nicht möglich ist, entsteht bei vielen Patienten eine zusätzliche Belastung.

Psychiatrische Relevanz der MS

Die MS ist eine chronisch verlaufende neurologische Erkrankung, von der in Deutschland etwa 200-250 von 100.000 Einwohnern betroffen sind. Verlauf und Symptomatik sind außerordentlich vielgestaltig und schwer vorhersehbar. Neben klassischen neurologischen Symptomen wie Sensibilitätsstörungen, Lähmungen und Gleichgewichtsstörungen können auch Sehnerventzündungen, Schmerzsyndrome und neuro-urologische Störungen auftreten.

Psychische Erkrankungen und MS

Psychiatrische Symptome sind bei Multipler Sklerose im Rahmen der vieljährigen Krankengeschichte häufig anzutreffen. Hier sind praktisch alle in der ICD-10 enthaltenen Diagnosen zu nennen. Es hat sich im Kontext der Behandlung der MS bewährt, zu unterscheiden zwischen psychiatrischen Störungen, die:

  • unmittelbare Folge der MS als organischer Erkrankung oder der Behandlung sind (kognitive Defizite, Wesensveränderungen, Depression, Psychosen)
  • psychoreaktiv als Folge der Erkrankung auftreten (Probleme mit der Krankheitsverarbeitung, Depression, Angststörungen, Belastungsreaktionen)
  • ohne direkten ursächlichen Zusammenhang mit der MS bereits bestanden oder sich im Krankheitsverlauf entwickeln (Komorbidität)

Psychiatrische Diagnostik und Behandlung

Die psychiatrische Diagnostik ist oft schon der erste Schritt der Therapie. Es wird gemeinsam mit dem Patienten versucht, die Hintergründe der psychischen Beschwerden zu klären. Liegen die Ursachen im neurologischen, psychischen oder sozialen Bereich? In bestimmten Fällen stellt sich z. B. die Frage, warum die Behandlung eines (vermeintlich) neurologischen Symptoms nicht so wirkt, wie erwartet. Darüber hinaus hilft es den Patienten oft schon, dass schwer zu erfassende, aber doch belastende psychische Symptome als solche erkannt und benannt werden. Im Diagnostikprozess werden erprobte Instrumente der psychiatrischen Diagnostik, aus der klinischen Psychologie und Neuropsychologie (z. B. Fragebögen) eingesetzt.

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Die Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen spielt eine große Rolle: In regelmäßigen Teamgesprächen versuchen Ärzte, Pflegekräfte und Therapeuten, die Beschwerden aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen und ganzheitlich zu beleuchten. Konkrete Diagnosen werden schließlich anhand validierter Kriterien der ICD-10 formuliert. Für die anschließende Therapie zählen jedoch nicht nur die Diagnose, sondern vor allem der Fokus auf die persönliche Situation des Patienten: Was ist ihm wichtig? Worunter leidet er? Was möchte er verändern?

Im Rahmen des Aufenthaltes in einer Klinik gibt es die Möglichkeit einer zielorientierten psychotherapeutischen Kurzintervention durch eine/n Arzt/Ärztin oder klinische Neuro-/Psychologen. Die inhaltlichen Schwerpunkte werden in Absprache mit dem Patienten gesetzt, so z. B.:

  • Differenzierung zwischen psychischer Symptomatik und somatischer Erkrankung
  • Krankheitsbewältigung
  • Umgang mit Emotionen
  • Bewältigung familiärer Konflikte

Es werden sowohl tiefenpsychologische und verhaltenstherapeutische Verfahren als auch unterschiedliche Entspannungsmethoden angewendet. Zusätzlich gibt es auch die Möglichkeit einer medikamentösen Behandlung. Es steht dabei das gesamte Spektrum der modernen Psychopharmakotherapie zur Verfügung, allerdings immer unter Berücksichtigung der immunologischen oder symptomatischen Medikation.

Eine enge Zusammenarbeit mit dem niedergelassenen Neurologen, Hausarzt, Psychiater oder Therapeuten ist wichtig: Bei Bedarf und nach Absprache mit dem Patienten wird Kontakt mit dem Behandler aufgenommen, um die Dinge zu besprechen, die im Rahmen der stationären Behandlung erarbeitet wurden. Gemeinsam wird das therapeutische Vorgehen für den Aufenthalt in der Klinik, aber auch für die Zeit nach der Entlassung geplant. Für viele Patienten hat es sich außerdem bewährt, ihr soziales Umfeld in die Behandlung miteinzubeziehen: Paar-, Familien- und Angehörigengespräche sind daher im Bedarfsfall ein wichtiger Bestandteil der Arbeit.

Therapieansätze bei MS

In den letzten Jahren wurde eine neue Ära in der Behandlung vieler autoimmuner Erkrankungen einschließlich der multiplen Sklerose (MS) eingeleitet. Hochwirksame Therapieansätze mit spezifischen monoklonalen Antikörpern und oralen Substanzen verleihen zwar neue Hoffnung für MS-Patienten weltweit, sollten aber nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung und unter engmaschigem Risikomanagement verwendet werden. Durch antiinflammatorische und neuroprotektive Eigenschaften der neuen Therapien können klinische sowie kernspintomographische Stabilisierung, Besserung der Behinderung und somit der Lebensqualität erzielt werden.

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Beta-Interferone als Basistherapie wurden in den 90er-Jahren zugelassen. Sie werden für den Einsatz beim schubförmigen Verlauf und bei Patienten mit erstmaligem demyelinisierendem Ereignis (KIS [klinisch isoliertes Syndrom]) und hohem Risiko für das Auftreten einer klinisch gesicherten MS angewendet. Subkutan applizierte IFN-β1-Präparate sind zusätzlich für sekundär chronisch-progrediente MS mit aufgesetzten Schüben zugelassen. Allerdings ist ihr Nutzen in dieser Phase der Erkrankung limitiert. Beta-Interferone wirken immunmodulierend und reduzieren die Häufigkeit von Schüben gegenüber Plazebo um ungefähr 30%, ohne wesentliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Präparaten.

Glatirameracetat ist eine weitere Basistherapie mit anderem Wirkprinzip. Glatirameracetat eignet sich auch für Patienten in einem frühen Stadium der Erkrankung und für Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (KIS) und einem hohen Risiko, eine klinisch gesicherte multiple Sklerose zu entwickeln. In der Wirksamkeit ist Glatirameracetat mit den Beta-Interferonen vergleichbar, durch die tägliche subkutane Injektion von 20 mg Glatirameracetat kann eine mittlere Schubreduktion um etwa ein Drittel erreicht und die Progression der Behinderung signifikant verlangsamt werden.

Natalizumab ist ein humanisierter monoklonaler IgG4-Antikörper gegen das Epitop „very late antigen-4“ (VLA-4) auf Immunzellen und der erste monoklonale Antikörper zur Therapie der MS. Natalizumab ist in Deutschland in erster Linie zur krankheitsmodifizierenden Monotherapie der hochaktiven, schubförmig remittierend verlaufenden multiplen Sklerose (releasing-remitting MS, RRMS) zugelassen, nämlich bei Patienten, die unter einem Basistherapeutikum hohe klinische und radiologische Aktivität zeigen, oder Patienten mit Erstmanifestation einer rasch fortschreitenden (klinisch oder kernspintomographisch) schweren RRMS. In der Phase-III-Studie AFFIRM konnte eine Schubreduktion von 68% gezeigt werden. Zum ersten Mal konnte auch ein positiver Einfluss auf andere klinische Parameter wie Freiheit von Krankheitsaktivität, Fatigue, kognitive Störungen und somit eine Besserung der Lebensqualität festgestellt werden.

Hirnorganisches Psychosyndrom: Psychische Störungen aufgrund organischer Ursachen

Definition und Ursachen

Das hirnorganische Psychosyndrom ist eine häufige Form der akuten organischen Psychose (Delir), das mit Bewusstseinsstörungen, Gedächtnisstörungen, Orientierungsstörungen, Ich-Erlebensstörungen, Wahn und Halluzinationen einhergeht. Als Ursachen hierfür wurden vielfältige Veränderungen im zentralen Nervensystem ausgemacht, die auf Hirntumore, Schädel-Hirn-Traumata, frühkindliche Hirnschädigungen, Vergiftungen, Infektionen (z. B. Gehirn-/ Hirnhautentzündung), Epilepsie oder Durchblutungsstörungen des Gehirns zurückzuführen sind. Eine ähnliche Form der organischen Psychose kann im Rahmen von hohem Fieber, bei Vergiftungen, Infektionen oder Flüssigkeitsmangel (Dehydrierung) auftreten.

Akute und chronische Formen

Die traditionelle Einteilung organischer psychischer Störungen in akute vs. chronische, hirnlokale vs. hirndiffuse sowie primäre (aufgrund von zerebralen Erkrankungen) vs. sekundäre organische Störungen spiegelt in erster Linie ätiopathogenetische Prozesse wider. So wird hier die Ausprägung organischer Psychosyndrome in Abhängigkeit vom zeitlichen Verlauf, von der topografischen Neuropsychologie und Psychopathologie sowie von der Art der zugrunde liegenden organischen Veränderungen mehrdimensional klassifiziert.

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Klinisch plausibel ist eine Einteilung in organische Syndrome ersten Ranges, zu denen der akute exogene Reaktionstypus nach Bonhoeffer, das organische amnestische Syndrom, die Demenz sowie isolierte hirnlokale Symptomenkomplexe zählen, sowie in psychoorganische Symptome zweiten Ranges, zu denen das psychoorganische Symptom im engeren Sinne, das chronische hirnlokale Psychosyndrom und organische Randsymptome gehören. Bei der ersten Syndromgruppe dominieren Störungen des Bewusstseins oder der zentralen kognitiven Leistungen, welche sie klinisch in der Regel gut von den funktionellen Störungen differenzieren. Dieser Typus umfasst die akuten Begleitpsychosen bei schweren körperlichen Allgemeinkrankheiten und bei schweren akuten Hirnkrankheiten gleichermaßen. Während das organische Psychosyndrom die chronische Form einer bei organischer Hirnschädigung auftretenden psychischen Symptomatik darstellt, handelt es sich bei den symptomatischen Psychosen um akute Reaktionen des Gehirns auf direkt oder indirekt wirkende Schädigungen, bei denen noxenunspezifisch psychopathologische Merkmalskombinationen beobachtet werden (Bonhoeffer 1917).

Symptome und Diagnose

Als ineinander übergehende Prägnanztypen lassen sich die Verwirrtheit (charakterisiert durch inkohärentes formales Denken, oneiroide oder agitierte expansive Bilder, zu denen oft Perseverationsneigung und Echolalie hinzukommen), das Delir (charakterisiert durch szenische Halluzinationen und wahnähnliche Erlebnisse mit Verkennungen sowie spezifische motorische Phänomene wie Flockenlesen, stereotype Abulie und Nesteln), die Amentia (mit imponierender formaler Denkstörung, Ratlosigkeit und illusionären Verkennungen bei nur angedeuteter Bewusstseinstrübung) und der Dämmerzustand abgrenzen. Neben Bewusstseinsveränderungen können beim akuten exogenen Reaktionstypus auch wahnhaftes Erleben und halluzinatorische Syndrome auftreten, nicht selten in Form von szenischen Halluzinationen. Auch pseudoneurasthenische Symptome und häufig eindrucksvolle Schwankungen von Antrieb und Stimmung sind zu beobachten.

Differenzialdiagnose

Organische Ursachen akuter psychischer Syndrome stellen die wichtigste Differenzialdiagnose bei psychiatrischen Akutaufnahmen, im Konsiliardienst und ambulanten Notdienst dar. Gerade mit der wachsenden Zahl älterer Patienten treten Delirien sehr häufig auf. Mögliche organische Ursachen müssen daher differenzialdiagnostisch fundiert durch Anamnese, körperlichen Befund, Labor und Bildgebung ausgeschlossen werden. Typische EEG-Befunde können beim Delir helfen. Bestätigt sich eine organische Ursache, ist die Therapie primär ursachenorientiert und erst in einem zweiten Schritt symptomatisch mit antipsychotischer, antidepressiver oder sedierender Medikation.

Amnestisches Syndrom

Ein amnestisches Syndrom (ICD-10: F04) kann als pathologischer Zustand definiert werden, in dem sich Gedächtnis und Lernen im Vergleich zu allen anderen kognitiven Funktionen bei einem wachen und kontaktbereiten Patienten als deutlich gestört erweisen (Victor et al. 1971). Im Gegensatz zum Delir fehlt die Bewusstseinstrübung, in Abgrenzung zur Demenz stehen die intellektuellen Einbußen nicht im Vordergrund, wenn sie überhaupt vorhanden sind. Organische Amnesien können sowohl als klar umschriebene Leistungsstörung als Folge lokaler Schädigungen auftreten, oder aber auch als integraler Bestandteil eines komplexeren Ausfallmusters, etwa bei demenziellen Erkrankungen. Während die Fähigkeit, neues Material zu lernen, erheblich reduziert ist, findet sich das kurzfristige Behalten beim amnestischen Syndrom nicht gestört. Auch die im Langzeitgedächtnis bereits verlässlich etablierten Gedächtnisinhalte erweisen sich gegenüber der Schädigung oft als stabil. Die Richtung der Gedächtnisstörung ist die der gelebten Zeit, zielt also nach vorne (anterograde Amnesie).

Transitorische globale Amnesie

Seit der Erstbeschreibung wurde die transitorische globale Amnesie (TGA) unter vielfältigen Aspekten beleuchtet, wobei in den letzten Jahren besonders Neuropsychologie und funktionelle Bildgebung methodisch im Vordergrund standen. Eine TGA ist durch eine Reihe diagnostischer Kriterien gekennzeichnet, unter denen das plötzliche Auftreten einer vorwiegend anterograden Amnesie, die nach maximal 24 h wieder abklingt, die charakteristischste ist. Bei den Patienten setzt abrupt eine Störung des Neugedächtnisses ein, so dass sie nicht mehr in der Lage sind, neue Gedächtnisinhalte zu speichern. Bewusstseinstrübungen oder anderwärtige Kommunikationseinschränkungen liegen nicht vor. Die Orientierung zur Zeit und zur Situation ist oft deutlich beeinträchtigt, die zur Person jedoch nie.

Vergleich und Unterscheidung

Obwohl sowohl MS als auch das hirnorganische Psychosyndrom psychische Symptome verursachen können, sind die Ursachen und Mechanismen unterschiedlich. Bei MS sind die psychischen Symptome oft eine Folge der chronischen Entzündung und der neurologischen Beeinträchtigungen, während sie beim hirnorganischen Psychosyndrom direkt auf organische Hirnschädigungen zurückzuführen sind.

Die Kenntnis der Unterschiede zwischen diesen beiden Erkrankungen ist entscheidend für eine korrekte Diagnose und eine angemessene Behandlung. Während bei MS die Behandlung auf die Modulation des Immunsystems und die Linderung der Symptome abzielt, konzentriert sich die Behandlung des hirnorganischen Psychosyndroms auf die Behandlung der zugrunde liegenden organischen Ursache und die Linderung der psychischen Symptome.

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