Funktionelle neurologische Störungen (FNS) stellen eine Herausforderung in der neurologischen Diagnostik dar. Die Zeiten, in denen diese Störungen pauschal als psychogen abgetan wurden, sind glücklicherweise vorbei. Heute geht man davon aus, dass veränderte Informationsverarbeitungsprozesse im Gehirn eine entscheidende Rolle spielen. Das zentrale Nervensystem (ZNS) trifft dabei fehlerhafte Entscheidungen, ohne dass sich der Patient dessen bewusst ist. Diese Störungen können und müssen anhand charakteristischer klinischer Befunde nachgewiesen werden, wobei eine reine Ausschlussdiagnose nicht mehr ausreichend ist.
Erscheinungsformen funktioneller neurologischer Störungen
Die Symptome von FNS sind vielfältig und reichen von Lähmungen, Zittern und Dystonien bis hin zu dissoziativen Anfällen, die epileptischen Anfällen oder Synkopen ähneln können. Betroffene leiden oft unter multiplen motorischen und sensorischen Beschwerden. Eine detaillierte Liste der Symptome, erstellt vom Patienten selbst, kann helfen, den Überblick zu behalten und den Schweregrad der Symptome im Alltag besser einzuschätzen.
Es ist wichtig, mögliche körperliche Auslöser der funktionellen Störung zu identifizieren, wie z.B. Verletzungen, Migräne oder Synkopen. Obwohl einschneidende Lebensereignisse wie Missbrauch in der Kindheit bei Patienten mit FNS häufiger vorkommen, sind sie keineswegs immer vorhanden und eignen sich daher nicht zur Diagnose. Die Frage nach dissoziativen Erfahrungen wie Depersonalisation und Derealisation kann jedoch aufschlussreich sein, da diese Gefühle der Trennung vom eigenen Körper oder der Umwelt massive Ängste auslösen können.
Klinische Untersuchung und Diagnosestellung
Die Diagnose von FNS stützt sich auf positive klinische Diagnosekriterien, die sich aus der Anamnese und der neurologischen Untersuchung ergeben. Hierbei spielen Inkongruenz und Inkonsistenz der Symptome eine zentrale Rolle.
Inkongruenz und Inkonsistenz als Schlüsselmerkmale
Inkongruenz bedeutet, dass die Symptome und ihr klinisches Muster nicht mit neuroanatomischen oder neurophysiologischen Gesetzmäßigkeiten übereinstimmen. Ein Beispiel hierfür ist die Wechselinnervation bei Lähmungen, bei der es zu kurzzeitigen, ruckartigen Unterbrechungen bei der Kraftentfaltung kommt, was nicht mit einer organischen Parese vereinbar ist. Inkonsistenz bezieht sich auf die Variabilität der Schwere und Art der Symptome. Oft sind die Symptome zu Beginn der Untersuchung am stärksten ausgeprägt und nehmen an Intensität ab, sobald der Patient seine Aufmerksamkeit von der betroffenen Körperregion ablenkt.
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Das Hoover-Zeichen: Ein wichtiges klinisches Zeichen
Ein bekanntes Beispiel für Inkongruenz ist das Hoover-Zeichen. Es wird bei der Untersuchung von Patienten mit einer vermeintlichen Schwäche oder Lähmung des Beines eingesetzt.
Durchführung des Hoover-Zeichens
Der Patient liegt auf dem Rücken, und der Untersucher versucht, das betroffene Bein gegen Widerstand anzuheben (Hüftextension). Bei einer organischen Lähmung wäre dies nicht möglich. Beim Hoover-Zeichen wird jedoch beobachtet, ob der Patient in der Lage ist, das kontralaterale Bein gegen Widerstand anzuheben (Hüftflexion). Wenn dabei reflektorisch eine Hüftextension im zuvor gelähmten Bein auftritt, spricht dies für eine funktionelle Störung.
Interpretation des Hoover-Zeichens
Das Hoover-Zeichen basiert auf dem Prinzip der synergistischen Kontraktion. Normalerweise führt der Versuch, ein Bein anzuheben, zu einer unbewussten Aktivierung der Hüftextensoren des anderen Beines, um den Körper zu stabilisieren. Bei einer organischen Lähmung wäre diese Aktivierung nicht vorhanden. Das Vorhandensein dieser Aktivierung beim Hoover-Zeichen deutet darauf hin, dass die Lähmung nicht auf einer organischen Ursache beruht.
Weitere klinische Zeichen
Neben dem Hoover-Zeichen gibt es weitere klinische Zeichen, die auf eine funktionelle Störung hindeuten können:
- Abduktorzeichen: Ähnlich dem Hoover-Zeichen wird hier die Abduktion des kleinen Fingers oder des Beines untersucht.
- Give-way weakness: Plötzliches komplettes Sistieren der Kraft bei zuvor normaler Kraftentfaltung.
- Absinken ohne Pronation im Armvorhalteversuch: Der Arm sinkt ab, ohne dass es zu einer Pronation (Einwärtsdrehung) des Unterarms kommt.
- Entrainment: Bei funktionellem Zittern passt sich das Zittern der betroffenen Extremität dem Rhythmus einer Bewegung an, die der Patient mit einer anderen Extremität ausführt.
- Windmühlenzeichen: Bei Gangstörungen zeigen Patienten ausfahrende, rudernde Bewegungen mit den Armen, halten aber gut das Gleichgewicht.
Differenzialdiagnose
Bei der Diagnose von FNS ist es wichtig, andere mögliche Ursachen für die Symptome auszuschließen. Hierzu gehören:
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- Epilepsie: Dissoziative Anfälle können epileptischen Anfällen ähneln. Wichtige Unterscheidungsmerkmale sind fest geschlossene Augen, eine Dauer von mehr als zwei Minuten und das Fehlen eines Schreis zu Beginn des Anfalls.
- Synkope: Synkopen sind meist kürzer als dissoziative Anfälle, und die Augen bleiben offen.
- Organische neurologische Erkrankungen: Durch eine sorgfältige neurologische Untersuchung und gegebenenfalls apparative Diagnostik (z.B. MRT, EEG) müssen organische Ursachen ausgeschlossen werden.
Therapie funktioneller neurologischer Störungen
Die Therapie von FNS sollte multimodal und interdisziplinär sein. Sie umfasst in der Regel:
- Aufklärung und Psychoedukation: Eine verständliche Erklärung der Erkrankung und ihrer Ursachen ist ein wichtiger erster Schritt.
- Psychotherapie: Insbesondere kognitive Verhaltenstherapie und körperorientierte Psychotherapie können hilfreich sein.
- Physiotherapie: Bewegungstherapie kann helfen, die Körperwahrnehmung zu verbessern und normale Bewegungsmuster wiederherzustellen.
- Ergotherapie: Ergotherapie kann helfen, den Alltag besser zu bewältigen und die Selbstständigkeit zu fördern.
Bedeutung der Diagnosevermittlung
Die Diagnosevermittlung ist ein entscheidender Moment in der Behandlung von FNS. Es ist wichtig, die Diagnose auf eine verständliche und akzeptanzfördernde Weise zu vermitteln. Dabei sollten psychosoziale Faktoren nicht vernachlässigt, aber in nachvollziehbarer Weise mit den neurologischen Symptomen in Zusammenhang gestellt werden.
Aktuelle Entwicklungen und Forschung
In den letzten Jahren hat das Interesse an FNS in der Neurologie wieder zugenommen. Studien belegen die Zuverlässigkeit der klinischen Diagnostik und beleuchten die zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen. Aktuell werden groß angelegte Therapiestudien durchgeführt, um die Behandlung von FNS weiter zu verbessern.
Fallbeispiel: Münchhausen-Syndrom und funktionelle Bewegungsstörung
Ein Fallbericht aus Lübeck verdeutlicht die Bedeutung einer kritischen Auseinandersetzung mit medizinischen Befunden. Eine Patientin präsentierte sich mit angeblichen Bewegungsstörungen und wies Gentests vor, die Mutationen in Dystonie-Genen zeigten. Die Neurologen stellten jedoch fest, dass die Symptome nicht zu den genetischen Befunden passten und die Patientin auffallend auf ihre neurologischen Symptome fixiert war. Die klinische Untersuchung ergab eher eine funktionelle Schwäche, und das Hoover-Zeichen war positiv. Eine erneute Genanalyse ergab keine Mutationen in Dystonie-Genen. Dieser Fall zeigt, dass Patienten heute medizinische Befunde soweit verstehen, dass sie diese an der richtigen Stelle fälschen können.
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