Samuel P. Huntingtons Essay "Kampf der Kulturen" (The Clash of Civilizations?) aus dem Jahr 1993, später erweitert zum Buch "Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert" (1996), hat eine intensive Debatte über die Natur internationaler Beziehungen im post-sowjetischen Zeitalter ausgelöst. Huntington selbst bezog sich dabei auf den französischen Historiker Fernand Braudel und dessen "Grammaire des civilisations" (1987).
Huntingtons These im Kern
Huntington entwickelte ein neues konzeptionelles Modell, um die Funktionsweise der internationalen Beziehungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks zu beschreiben. Er argumentierte, dass die Ära der Ideologie zwar zu Ende gegangen sei, die Welt aber zu einem "Normalzustand" zurückgekehrt sei, der durch kulturelle Konflikte gekennzeichnet sei. Seiner Ansicht nach würden zukünftige Konflikte in erster Linie kultureller und religiöser Natur sein. Das Konzept der verschiedenen Zivilisationen als höchster Grad kultureller Identität würde bei der Beurteilung der Wahrscheinlichkeit von Konflikten immer nützlicher werden.
Er ging von der Hypothese aus, dass die grundlegende Quelle von Konflikten in dieser neuen Welt nicht in erster Linie ideologischer oder wirtschaftlicher Natur sein wird. Die große Kluft zwischen den Menschen und die vorherrschende Quelle von Konflikten wird kulturell sein. Die Nationalstaaten werden die mächtigsten Akteure im Weltgeschehen bleiben, aber die wichtigsten Konflikte der Weltpolitik werden zwischen Nationen und Gruppen unterschiedlicher Zivilisationen ausgetragen. Der Zusammenprall der Kulturen wird die Weltpolitik beherrschen. Huntington schien also zu den Primordialisten zu gehören, was bedeutet, dass er glaubt, dass kulturell definierte Gruppen sehr alt und ein natürliches Phänomen sind, während er in seinen frühen Arbeiten eher ein Strukturfunktionalist zu sein schien. Seine Ansicht, dass die Nationalstaaten die mächtigsten Akteure auf der Weltbühne bleiben werden, entspricht ebenfalls eher dem Realismus. In seiner Warnung, dass die westliche Zivilisation untergehen könnte, klingen Arnold J. Toynbee und Oswald Spengler an.
Die Definition von Zivilisationen
Huntington identifizierte die großen zeitgenössischen Kulturkreise, die meist von einem Kernstaat dominiert werden:
- Westliche Zivilisation
- Konfuzianische Zivilisation (China)
- Japanische Zivilisation
- Islamische Zivilisation
- Hinduistische Zivilisation
- Slawisch-orthodoxe Zivilisation
- Lateinamerikanische Zivilisation
- Afrikanische Zivilisation (Existenz als einheitlicher Kulturraum nicht eindeutig, Äthiopien bildet einen eigenen Kulturraum, nordafrikanische Staaten gehören zum islamischen Kulturkreis)
Die Unterschiede zwischen den Zivilisationen sind zu grundlegend, da sich die Zivilisationen durch Geschichte, Sprache, Kultur, Tradition und vor allem Religion voneinander unterscheiden.
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Faktoren für ein wachsendes Zivilisationsbewusstsein
Huntington nannte mehrere Faktoren, die das Wachstum des Zivilisationsbewusstseins fördern:
- Die Welt wird immer kleiner.
- Aufgrund der wirtschaftlichen Modernisierung und des sozialen Wandels werden die Menschen von langjährigen lokalen Identitäten getrennt.
- Das Wachstum des Zivilisationsbewusstseins wird durch die doppelte Rolle des Westens gefördert. Einerseits befindet sich der Westen auf dem Höhepunkt seiner Macht. Gleichzeitig findet unter den nicht-westlichen Zivilisationen ein Phänomen der Rückkehr zu den Wurzeln statt.
- Der wirtschaftliche Regionalismus nimmt zu. Ein erfolgreicher wirtschaftlicher Regionalismus wird das Zivilisationsbewusstsein stärken.
Die deutsche Übersetzung: Kultur vs. Zivilisation
Die deutsche Übersetzung des Titels als "Kampf der Kulturen" anstelle von "Kampf der Zivilisationen" wirft die Frage nach dem Verhältnis der beiden Begriffe auf. Im Deutschen ist die Rede von "Zivilisationen" im Plural ungebräuchlich. Zudem ist mit den deutschen Begriffen der Zivilisation und Kultur seit Beginn ihrer philosophischen Verwendung im 18. Jahrhundert eine wertende Unterscheidung verbunden, zwischen der oberflächlichen Zivilisation und der tiefer reichenden Kultur.
Huntington definiert Kultur in einem umfassenden Sinn als "die gesamte Lebensweise eines Volkes", meint damit aber vor allem "Werte, Normen, Institutionen und Denkweisen", insbesondere Religion. Kulturen sind definiert durch ihre geistig-weltanschauliche Dimension, während die technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung als Prozess der Modernisierung bezeichnet wird. Nur der Modernisierungsprozess ist ein weltweiter, singulärer Prozess: Es gibt nur eine Naturwissenschaft und Technik. Die Kulturen dagegen definieren sich über verschiedene Weltbilder - nur sie sind identitätsbildend.
Kritik an Huntingtons These
Huntingtons These hat eine Vielzahl von Kritiken erfahren:
- Vereinfachung und Homogenisierung: Kritiker bemängeln, dass Huntington die Vielfalt innerhalb der Zivilisationen ignoriert und sie als homogene Blöcke darstellt. Die großen Unterschiede innerhalb der Kulturen, wie beispielsweise zwischen Sunniten und Schiiten in islamischen Ländern, werden verkannt.
- Heterogene Einteilung der Kulturkreise: Es wird kritisiert, dass die Kriterien der Einteilung heterogen sind und sich im einen Fall an der Religion, im anderen an den nationalen Grenzen orientieren.
- Statisches Kulturverständnis: Viele Wissenschaftler werfen Huntington vor, dass er seine Kulturkreise in ungeschichtlicher Weise festschreibt und die Dynamik kultureller Entwicklungsprozesse außer Acht lässt.
- Vernachlässigung der Interdependenz: Edward Said argumentiert, dass Huntingtons Kategorisierung der festen "Zivilisationen" der Welt die dynamische Interdependenz und Interaktion der Kulturen außer Acht lässt.
- Falsche Konfliktlinien: Huntington hat die Konfliktlinien falsch gezogen. Die blutigsten Konflikte finden innerhalb von Zivilisationen statt, nicht zwischen ihnen.
- Kulturalismus: Man hat Huntingtons Buch und These immer kulturalistisch gelesen: nicht Ideologien oder Ökonomien spalten die Welt, sondern Zivilisationen.
Huntingtons Einfluss und Relevanz heute
Trotz der Kritik hat Huntingtons These einen großen Einfluss auf die Debatte über internationale Beziehungen gehabt. Die Attentate des 11. September schienen seine Theorie zu bestätigen, und die These vom "Kampf der Kulturen" wurde zum Schlagwort.
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Allerdings wurde die Theorie oft verkürzt und auf den Gegensatz zwischen dem Westen und dem Islam reduziert. Viele Beobachter sind der Meinung, dass Huntingtons These nur so weit begründet ist, als es um den Zusammenprall zwischen fundamentalistischen Strömungen geht.
Heute, nach 20 Jahren, sollte man die "Clash"-These endgültig als widerlegt betrachten. Sie beruhte schon 1993 auf zweifelhaften Annahmen und ist inzwischen erst recht überholt.
Huntingtons Idee ist eine des 20. Jahrhunderts, weil sie die Welt in Blöcke teilt: die westliche Zivilisation (Europa, USA), die islamische, die konfuzianische, die lateinamerikanische, und so weiter. Es ist seltsam, dass die Südamerikaner demnach nicht zum Westen gehören und sunnitische und schiitische Muslime eine Einheit bilden. Generell widerspricht dieses Blockdenken der vernetzten Welt von heute, in der selbst Rivalen wie die USA und China stark voneinander abhängen.
Vor allem aber ist der kulturelle "Clash" zwischen Huntingtons Blöcken ausgeblieben. Die blutigsten Konflikte finden innerhalb von Zivilisationen statt, nicht zwischen ihnen. Im Kongo bringen Afrikaner Afrikaner um; in Ägypten ermorden Muslime Muslime, im syrischen Bürgerkrieg sind wohl mehr Menschen gestorben als bei der US-Invasion im Irak. In den Neunzigern wiederum ist der Westen auf dem Balkan den Muslimen beigesprungen. Am ehesten noch schien Huntington 2001 richtig zu liegen, aber die Al-Qaida-Terroristen sind nie Gesandte des traditionellen Islam gewesen, sondern Entwurzelte, die im Westen einem islamisch gefärbten Nihilismus verfielen.
Huntington hat die Vorherrschaft von Staaten über Zivilisationen unterschätzt. Regierungen können religiöse Empfindlichkeiten schamlos ausschlachten, aber vielerorts liegt ihr Interesse woanders. Immer mehr Staaten nehmen am Spiel der Globalisierung teil, sie kämpfen um Macht, um Lebensmittel, Wasser, Rohstoffe, Waffen, Investitionen, Zinssätze, Formel-1-Strecken. Staaten ringen um weltliche Dinge - für Gott ist da nur wenig Raum. Im globalen Supermarkt der Güter und Ideen wählt jeder Staat aus, was er mitnimmt. China hat den Kapitalismus kopiert, Konsum, Hedonismus. Meinungs- und Pressefreiheit hingegen erklärt Peking für subversiv. Das liegt weniger am Kampf des Konfuzianismus mit dem Westen als an der Furcht eines Regimes vor seinen eigenen Bürgern.
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Anders als es Huntington darstellt, muss Kultur nicht durch Religion definiert sein. In den Städten der Welt wächst eine gemäßigt bis gar nicht religiöse Mittelschicht, die sich für Jobs, Bildung und Wohlstand interessiert. Längst steht auf Youtube eine religionsfreie Spaßkultur zur Verfügung, etwa der virale "Gangnam Style", in dem sich die Kultur der USA und Koreas mischen. Kultur ist keine Festung, Zivilisation keine Blutsbruderschaft, Heimat kann auch eine Community im Netz sein. Die Spannung zwischen Individualismus und Kollektivismus, Glaube und Konsum, Weltbürgertum und Heimatgefühl, sie wächst heute nicht zwischen Kulturblöcken, sondern in jedem Einzelnen. Vor den Bostoner Anschlägen lag sie nicht zwischen Amerika und dem Kaukasus, sondern in der Seele der Brüder Zarnajew, die nach einer Identität suchten.
Die Welt ist unordentlicher, als es Huntington erwartet hat. Nicht "Zivilisationen" werden an Einfluss gewinnen, sondern Netzwerke und Koalitionen. Religiöse Leidenschaft dürfte zwar Konflikte anfachen, aber sie bestimmt kaum das realpolitische Geschäft der Groß- und Mittelmächte. Die Religiösen in Iran wissen: Sollte es zur Konfrontation mit den USA kommen, werden sie allein sein, kein sunnitischer Staat wird in den Krieg ziehen, um die islamische Zivilisation zu retten.
Die Debatte zwischen Fukuyama und Huntington
Während dieser letzten großen Neuordnung war die prominenteste Debatte in den internationalen Beziehungen die zwischen Francis Fukuyamas Essay „Das Ende der Geschichte“ (der prophetischerweise nur wenige Monate vor dem Fall der Mauer erschien) und Samuel Huntingtons „Kampf der Kulturen“, der vier Jahre später veröffentlicht wurde.
Fukuyama selbst räumte ein, dass „das Ende der Geschichte“ „keine Aussage über den empirischen Zustand der Welt, sondern ein normatives Argument über die Gerechtigkeit oder Angemessenheit liberaldemokratischer politischer Institutionen“ sei.
Huntington war anderer Meinung. Wie Fukuyama argumentierte auch Huntington - Mitbegründer von Foreign Policy -, dass die Spaltungen des Kalten Krieges zwischen dem kommunistischen Osten und dem demokratischen Westen, zwischen dem reichen globalen Norden und dem armen globalen Süden „nicht mehr relevant“ seien. Doch während der liberale Internationalist Fukuyama davon ausging, dass das Ende des Kalten Krieges einen dauerhaften Frieden zwischen den Staaten einläuten würde, die sich alle an den allgemeinen Grundsätzen der Wahldemokratie und des gelenkten Kapitalismus (was Fukuyama als „die endgültige Form der menschlichen Regierung“ bezeichnete) orientieren würden, sah der Realist Huntington stattdessen eine Welt voraus, die von anhaltenden Konflikten geprägt sein würde, wenn auch entlang völlig anderer Achsen.
Identitätspolitik als Kern von Huntingtons Werk
Aus heutiger Perspektive kann man Huntingtons Werk noch einmal anders lesen und interpretieren. Auch wenn der englische und deutsche Titel den Blick auf die Kulturen/Kulturkreise und Zivilisationen richten, geht es in dem Buch, wenn man seine Tiefengrammatik beachtet, um das, was heute Identitätspolitik heißt. Diese ist bekanntlich aktueller und brisanter denn je.
Unter der berechtigten Überschrift: „Black lives matter!“ kommt es leider auch zu überzogenen, problematischen Entwicklungen wie der „Cancel culture“-Bewegung. Ist das ein Zufall? Huntington betont zwar markant: „Kultur zählt“. Aber was für ihn wirklich zählt, wird in den unmittelbar an diese These anschließenden Ausführungen deutlich: Es geht ihm nämlich um die „Identität der Kulturen“, also nicht um die Kulturen an sich. Die Grundfrage der Völker und Nationen lautet nach Huntington: „Wer sind wir?“. Das ist unzweifelhaft die Frage nach der Identität.
Huntington und der Weltfrieden
Zu einer ausgewogenen und gerechten Beurteilung von Huntingtons Werk gehört es allerdings auch, darauf hinzuweisen, dass für ihn die Erhaltung des Weltfriedens das vorrangige Ziel war. Und dieser Frieden schien aus seiner Sicht in der neuen, multipolaren und multikulturellen Welt nach dem Ende des Kalten Krieges allzu ungesichert zu sein. Ein „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) hatte er ebenso wenig im Blick wie eine harmonische Welt ohne Bedrohungen und Konflikte. In einer globalisierten Welt, in der es um die Identitätsfrage geht, ist der Friede gefährdet. Eine Unvermeidlichkeit des „Zusammenprallens der Kulturen“, also ein historischer Determinismus oder Fatalismus, lässt sich aus seinem Buch nicht herauslesen. Dass aber eine fatalistische Huntington-Interpretation dem Dschihad-Terrorismus auf der einen und dem nationalistischen Rechtspopulismus und -extremismus auf der anderen Seite in höchstem Maße zuträglich war und ist, steht außer Frage. Der Dialog der Kulturen und die Kultur des Dialogs sind Eckpfeiler des Weltfriedens.
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