Jährlich erleiden weltweit rund 15 Millionen Menschen einen Schlaganfall. In Deutschland sind pro Jahr ca. 196.000 Menschen betroffen, wobei die Sterblichkeitsrate innerhalb des ersten Jahres nach einem Schlaganfall bei 30 % liegt. Ein Drittel der Betroffenen ist nach dem Ereignis funktionell beeinträchtigt. Häufig sind Gehirnareale betroffen, in denen sich die Programme zur Steuerung des Bewegungsapparates befinden. Je eher ein Schlaganfall erkannt und behandelt wird, desto besser lassen sich die Folgeschäden kontrollieren. Deshalb fordert die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) eine zügige orthetische Versorgung. Zahlreiche klinische Studien belegen die Unentbehrlichkeit von Unterschenkelorthesen (AFOs) in der Rehabilitation nach einem Schlaganfall. Allerdings gibt es in der orthetischen Versorgung von Schlaganfallpatienten viel ungenutztes Potenzial, da bisher noch nicht die technischen Voraussetzungen vorlagen, um alle notwendigen Anforderungen an eine AFO zu realisieren.
Eine frühzeitige und intensive Rehabilitation nach einem Schlaganfall wird zur Verbesserung und Wiederherstellung der motorischen Funktionen empfohlen. Dies führt zur Ausweitung kortikaler Repräsentationsfelder, oftmals korreliert mit einer nachweisbaren Funktionsverbesserung.
Einführung
Die Hyperextension des Knies, auch Genu recurvatum genannt, ist eine häufige Komplikation nach einem Schlaganfall. Sie tritt auf, wenn das Kniegelenk während der Standbeinphase überstreckt, was zu Instabilität, Schmerzen und einem erhöhten Sturzrisiko führen kann. Dieser Artikel untersucht den Zusammenhang zwischen Hyperextension des Knies und Schlaganfall, beleuchtet die Ursachen, Folgen und verschiedene Behandlungsansätze.
Ursachen der Kniehyperextension nach Schlaganfall
Nach einem Schlaganfall können verschiedene Faktoren zur Entstehung einer Kniehyperextension beitragen:
- Muskelschwäche: Eine Schwächung der Kniestreckmuskulatur (Quadrizeps) und/oder der Hüftstreckmuskulatur (Gesäßmuskulatur) kann dazu führen, dass das Knie während der Standbeinphase nicht ausreichend stabilisiert werden kann.
- Spastik: Ein erhöhter Muskeltonus (Spastik) in den Knöchel-Plantarflexoren (Wadenmuskulatur) kann das Knie in eine Überstreckung zwingen.
- Propriozeptive Defizite: Schlaganfallbedingte Beeinträchtigungen der Propriozeption (Wahrnehmung der Körperposition im Raum) können dazu führen, dass der Patient die Knieposition nicht richtig wahrnimmt und das Knie unbewusst überstreckt.
- Kompensationsmechanismen: Eine Hyperextension kann eine Sicherheits- bzw. Kompensationsstrategie sein.
Die Entwicklung eines pathologischen Gangbildes beruht dabei auf der Tatsache, dass die in der menschlichen Evolution zuletzt differenzierten Everoren, Inveroren und die intrinsische Fußmuskulatur bei einem Schlaganfall zuerst betroffen sind. In der Zeit nach dem Schlaganfall entwickeln sich Kompensationsstrategien, die entweder zu einer Hyperextension oder einer Hyperflexion im Knie führen.
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Folgen der Kniehyperextension
Eine unbehandelte Kniehyperextension kann eine Reihe von negativen Folgen haben:
- Instabilität: Die Überstreckung des Knies führt zu einer Instabilität des Gelenks, was das Risiko von Stürzen und Verletzungen erhöht.
- Schmerzen: Die abnormale Belastung des Kniegelenks kann zu Schmerzen und Entzündungen führen.
- Arthrose: Langfristig kann die Kniehyperextension zu einer vorzeitigen Abnutzung des Knorpels im Kniegelenk (Arthrose) führen.
- Eingeschränkte Gehfähigkeit: Die Instabilität und die Schmerzen können die Gehfähigkeit des Patienten erheblich beeinträchtigen.
Diagnostik
Die Diagnose einer Kniehyperextension erfolgt in der Regel durch eine klinische Untersuchung und Ganganalyse. Der Arzt oder Physiotherapeut beobachtet das Gangbild des Patienten und untersucht die Stabilität des Kniegelenks. Zusätzlich können bildgebende Verfahren wie Röntgen oder MRT eingesetzt werden, um andere Ursachen für die Knieprobleme auszuschließen.
Behandlungsstrategien
Die Behandlung der Kniehyperextension nach Schlaganfall zielt darauf ab, die Ursachen zu beheben, die Stabilität des Knies zu verbessern und die Schmerzen zu lindern. Es gibt verschiedene Behandlungsansätze, die je nach individuellem Fall eingesetzt werden können:
Physiotherapie
Eine qualifizierte Physiotherapie nutzt die Fersenkipphebel Funktion beim Trainieren physiologischer Gangmuster. So werden zum einen die richtigen cerebralen Verknüpfungen durch motorische Impulse hergestellt und zum anderen einzelne Muskelgruppen durch ein gezieltes Muskelaufbautraining gestärkt.
Physiotherapie spielt eine zentrale Rolle bei der Behandlung der Kniehyperextension. Durch gezielte Übungen können die Muskulatur gestärkt, die Propriozeption verbessert und die Beweglichkeit des Knies wiederhergestellt werden. Zu den wichtigsten physiotherapeutischen Maßnahmen gehören:
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- Kräftigungsübungen: Stärkung der Kniestreckmuskulatur (Quadrizeps) und der Hüftstreckmuskulatur (Gesäßmuskulatur)
- Dehnübungen: Dehnung der Knöchel-Plantarflexoren (Wadenmuskulatur)
- Propriozeptives Training: Übungen zur Verbesserung der Körperwahrnehmung und des Gleichgewichts
- Ganganalyse und Gangschulung: Analyse des Gangbildes und Training eines physiologischen Gangmusters
Die Bodenreaktionskraft erzeugt während „initial contact“ und „loading response“ ein Drehmoment im OSG. Durch die Drehungen im OSG und um den Fersenauftrittspunkt kommt es zu einer passiven Plantarflexion. Der M. tibialis anterior soll exzentrisch gegen diese Bewegung arbeiten und somit den Fuß kontrolliert absinken lassen.
Orthesenversorgung
Je nach Schweregrad der Hyperextension kann eine Orthese erforderlich sein, um das Knie zu stabilisieren und die Überstreckung zu verhindern. Es gibt verschiedene Arten von Orthesen, die bei Kniehyperextension eingesetzt werden können:
- Valenser Schiene: Eine Valenser Schiene kann neben der Unterstützung des Fußhebers und der Korrektur der Supinationsstellung möglicherweise auch das Übertrecken im Kniegelenk verhindern.
- Unterschenkelorthesen (AFOs): AFOs werden häufig zur Behandlung von Fußheberschwäche und zur Stabilisierung des Sprunggelenks eingesetzt. Einige AFOs können auch das Knie stabilisieren und die Hyperextension reduzieren. Es gibt verschiedene Arten von AFOs, wie z.B. starre AFOs (SAFOs), Hinge AFOs und Floor Reaction AFOs (FRAFOs).
- Knieorthesen: Knieorthesen können das Kniegelenk stabilisieren und die Hyperextension kontrollieren. Es gibt verschiedene Arten von Knieorthesen, wie z.B. starre Knieorthesen, dynamische Knieorthesen und Knieorthesen mit einstellbarem Bewegungsumfang.
Um im Therapieverlauf auf Veränderungen des Gangbildes reagieren zu können, sollte die AFO über ein einstellbares Knöchelgelenk verfügen, mit dem der Unterschenkel-Fuß-Winkel verändert werden kann.
Medikamentöse Therapie
Bei Spastik kann eine medikamentöse Therapie mit Muskelrelaxantien eingesetzt werden, um den Muskeltonus zu senken und die Hyperextension zu reduzieren.
Botulinumtoxin-Injektionen
Botulinumtoxin-Injektionen können in die betroffenen Muskeln (z.B. Wadenmuskulatur) injiziert werden, um die Spastik zu reduzieren und die Kniehyperextension zu verbessern.
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Operative Maßnahmen
In seltenen Fällen kann eine Operation erforderlich sein, um die Kniehyperextension zu korrigieren. Dies kann z.B. bei schweren Fehlstellungen oder bei Versagen der konservativen Behandlungsmethoden in Betracht gezogen werden.
Die Rolle der interdisziplinären Zusammenarbeit
Damit im Verlauf der Rehabilitation Folgeerscheinungen durch das pathologische Gangbild minimiert werden können, muss das interdisziplinäre Team ein gemeinsames Therapiekonzept verfolgen. Um das Therapieziel, die bestmögliche Annäherung an das physiologische Gangbild, zu erreichen, ist eine gemeinsame Grundlage zur Beurteilung der unterschiedlichen Ausprägungen des Schlaganfalles notwendig. Das vorliegende interdisziplinäre Konzept beschreibt die Gangtypen nach der N.A.P. Gait Classification und unterbreitet Vorschläge für die Versorgung mit einer AFO.
Die Behandlung der Kniehyperextension nach Schlaganfall erfordert eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Physiotherapeuten, Orthopädietechnikern und anderen Fachkräften. Nur so kann ein individueller Behandlungsplan erstellt werden, der die spezifischen Bedürfnisse und Ziele des Patienten berücksichtigt.
Fallbeispiel
Ein 50-jähriger, relativ mobiler Patient nach Schlaganfall mit Hemiparese hat neben einer Fußheberschwäche das Problem, dass er während der Standbeinphase im Knie überstreckt bzw. dass das Knie dann durchschlägt. Der Patient kann ohne Hilfsmittel (bzw. nur mit Handlauf) die Treppe alternierend hoch und runter gehen. Beim Runtergehen kommt es nicht zu einer Überstreckung im Knie - er kann das Körpergewicht auf dem betroffenen Bein übernehmen und das Knie dabei in physiologischer Weise stabilisieren.
In diesem Fall könnte eine Valenser Schiene in Betracht gezogen werden, um die Fußheberschwäche zu unterstützen und möglicherweise auch die Kniehyperextension zu verhindern. Allerdings ist es wichtig, die Meinung eines Orthopädietechnikers einzuholen, um die bestmögliche Lösung zu finden. Eine individuell angepasste, zweigelenkige, bilateral geführte Orthese (vom Fuß über Sprunggelenk und Knie bis Mitte des Oberschenkels) könnte eine Option sein, um das Knie ausreichend zu stabilisieren. Es ist jedoch zu beachten, dass eine solche Orthese recht schwer sein kann und möglicherweise zu einer Tonuserhöhung führen könnte. Die "Walk On Reaktion" (Orthese von Otto Bock) hat in diesem Fall kein befriedigendes Ergebnis gebracht.
Neuro-orthopädische Rehabilitation
Die neurologische Schlaganfallrehabilitation bietet gerade für motorische Störungen an der oberen oder unteren Extremität eine große Vielfalt an therapeutischen Möglichkeiten. Neben den klassischen Therapiekonzepten, die eine überlegene Wirksamkeit im Vergleich zu anderen Therapiekonzepten, z. B. MRP, nicht nachweisen konnten, haben sich insbesondere aufgabenspezifische und repetitive Therapieansätze etabliert. Diese werden sowohl im direkten Patientenkontakt verabreicht oder erfolgen Geräte-gestützt. Gerade die Geräte-gestützten Verfahren haben in den letzten Jahren zunehmend an Raum gewonnen.
Repetitives Training
An der unteren Extremität spielt das repetitive Durchführen gleicher Bewegungen eine Schlüsselrolle im Training. Im Vergleich zum konventionellen Ansatz lässt sich die Therapieintensität individuell steigern, ein höherer Grad der Automatisation wird durch die Durchführung vieler hundert Gangzyklen erzielt. Am Laufband wird insbesondere bei schwer betroffenen Patienten mit variabler Gewichtsentlastung gearbeitet, die durch eine Aufhängevorrichtung mit Gurtsystem erfolgt. Mit Therapiefortschritt wird die Gewichtsentlastung reduziert. Die physiotherapeutische Assistenz vermeidet während des Trainings eine Hyperextension am Knie in der Standphase, achtet auf die „Abrollbewegung am Fuß bei Fußkontakt“, auf die Gangsymmetrie und die physiologische Hüftrotation. Die Stabilisierung des Rumpfes ist ein weiteres Therapieziel.
Eigenständiges Training und Lagerung
Das rehabilitative Training ist auf Dauer angelegt, um Therapieeffekte zu generieren und diese nachhaltig zu festigen. Hierzu sind Therapiemöglichkeiten auch außerhalb des therapeutischen Settings erforderlich. Gerade aus neuro-orthopädischer Sicht spielt neben dem funktionellen Gedanken auch der präventive Aspekt eine Rolle. Bei Paresen an der oberen Extremität ist eine optimierte Lagerung zur Tonusregulation und Schmerzreduktion essenziell. Eine vorangehende Schulung von Patient/Angehörigen, möglichst noch in der Klinik und ein fachlich angeleitetes Trainieren ist Voraussetzung bei diesem Eigentraining.
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