Inkontinenz bei Multipler Sklerose: Ursachen, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische neurologische Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), von der in Deutschland etwa 280.000 Menschen betroffen sind. Die Erkrankung betrifft das Gehirn, das Rückenmark und die Sehnerven. Typisch für MS ist, dass das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheide angreift, die die Nervenfasern umgibt und schützt. Dies führt zu vielfältigen Symptomen, da die Weiterleitung von Signalen im Gehirn beeinträchtigt ist. Die Symptome können sehr unterschiedlich sein, was der MS den Beinamen "Krankheit mit den 1.000 Gesichtern" eingebracht hat.

Zu den zahlreichen Symptomen, die den Alltag und die Lebensqualität der Betroffenen erheblich belasten, gehören Funktionsstörungen der Blase und des Darms. Auch wenn diese Symptome häufig auftreten und ihre Wahrscheinlichkeit mit zunehmender Erkrankungsdauer steigt, sind sie bei Menschen mit MS oft mit Scham behaftet. Daher werden sie oft nicht angegeben und somit auch nicht diagnostiziert. Eine Behandlung kann dann nicht oder nicht rechtzeitig begonnen werden.

Häufigkeit von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Eine aktuelle Datenauswertung des MS-Registers der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) zeigt, dass bei der letzten Untersuchung Darmfunktionsstörungen bei 10,1 Prozent und Blasenfunktionsstörungen bei 35,1 Prozent der MS-Erkrankten vorlagen. Im Laufe der Erkrankung können jedoch bis zu vier von fünf Menschen mit MS Blasenfunktionsstörungen entwickeln. Es wird geschätzt, dass im Laufe der Zeit vier von fünf Patienten mit Multipler Sklerose Probleme mit ihrer Harnblase entwickeln.

Formen der Blasenfunktionsstörung bei MS

Bei MS können verschiedene Formen der Blasenfunktionsstörung auftreten, die durch Schädigungen an den Nerven verursacht werden, welche die Blasenfunktionen regulieren:

  • Imperativer Harndrang: Der "imperative Harndrang", der ein sofortiges Wasserlassen erforderlich macht, verdeutlicht die teilhabeeinschränkende Wirkung von Blasenfunktionsstörungen besonders gut. Am häufigsten tritt bei weiblichen und männlichen MS-Erkrankten der imperative Harndrang als einzelnes Symptom der Blasenfunktionsstörung auf (weiblich: 10,7 % und männlich: 9,9 %).
  • Inkontinenz: Die Inkontinenz, die sowohl in Ruhe als auch bei schon geringer Anstrengung auftreten kann, schränkt das Alltagsleben ebenso erheblich ein, vor allem natürlich dann, wenn auch noch Darminkontinenz oder Verstopfung hinzukommen. Während Inkontinenz bei den weiblichen Erkrankten signifikant häufiger auftritt (weiblich: 7,2 %; männlich: 5,1 %).
  • Blasenentleerungsstörungen: Männliche Erkrankte zeigen deutlich häufiger Basenentleerungsstörungen (weiblich: 6,3%; männlich: 8,3%).
  • Kombinationen: Bei 5,5 % der männlichen und 5,9 % der weiblichen MS-Erkrankten sind zwei oder mehr Arten der Blasenfunktionsstörung dokumentiert.

Auswirkungen auf den Alltag

Die Auswirkungen von Blasenfunktionsstörungen auf den Alltag der Betroffenen sind erheblich. Viele Erkrankte entscheiden sich dafür, zu Hause zu bleiben oder die Flüssigkeitszufuhr einzuschränken, da sie nicht sicherstellen können, dass eine Toilette schnell erreichbar, unmittelbar zugänglich und barrierefrei ist. Dies kann jedoch zu anderen Risiken wie Harnwegsinfekten, Kreislaufproblemen oder einer Beeinträchtigung der Nierenfunktion führen.

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Die Beeinträchtigungen im Bereich der Blase sind breit gefächert und können zu unfreiwilligem Harnverlust führen. Infektionen der Blase und Harnwege stellen nicht nur ein gesundheitliches Risiko für die Organe des Harnwegssystems dar, sondern können auch den Verlauf der Multiplen Sklerose negativ beeinflussen. Blasenentzündungen können spastische Krämpfe und Schwäche begünstigen.

Ursachen von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Bei MS werden die Nervenbahnen geschädigt, die für die Steuerung der Blasenfunktion zuständig sind. Dies kann zu einem überaktiven Harndrang oder auch zu Harnverhalt führen. Meistens handelt es sich um eine Dranginkontinenz mit plötzlichem, kaum kontrollierbarem Harndrang.

Die Ursache für die bei MS häufig auftretende neurogene Blasenfunktionsstörung wird in der Schädigung von Nervenbahnen gesehen. Je nach Lokalisation der Nervenschädigung kommt es zu unterschiedlichen funktionellen Störungen und Fehlsteuerungen.

Es gibt verschiedene Arten der Blasenstörung, welche durch geschädigte Nervenzellen auftreten kann. Patienten können den Harndrang nicht mehr richtig kontrollieren. Blasenstörungen sowie eine erschwerte oder unvollständige Entleerung der Blase sind mit einem erhöhten Risiko für Harnwegsinfekte verbunden. Sie verursachen Brennen und Schmerzen beim Wasserlassen. Der nächtliche Harndrang und damit verbunden der häufige Gang zur Toilette wirken sich auf das Schlafverhalten aus. Einschlaf- und Durchschlafstörungen sind keine Seltenheit. Werden die Blasenentzündungen nicht behandelt, können sie sich negativ auf andere Begleiterscheinungen der MS auswirken, wie Spastiken oder die Fatigue.

Diagnostik von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Bei Problemen mit der Blase sollte man sich dem Arzt oder Neurologen anvertrauen. Eine sorgfältige Diagnostik mit Hilfe von Ultraschalluntersuchungen, Blasendruckmessung und Elektromyogramm ist wichtig, um weitere Maßnahmen einleiten zu können.

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Eine weiterhin übliche Diagnosetechnik ist die Blasendruckmessung (Urodynamik). Auf die Behandlung von Blasenfunktionsstörungen bei Multipler Sklerose sind Neuro-Urolog*innen spezialisiert. Ziehen Sie Ihre behandelnde Neurologin bzw. Ihren behandelnden Neurologen ins Vertrauen. Dort werden Sie vermutlich erst einmal ein Anamnesegespräch führen. Bereiten Sie sich darauf vor.

Behandlungsmöglichkeiten von Blasenfunktionsstörungen bei MS

Trotz aller belastenden Folgen bleiben bei etwa der Hälfte der Erkrankten die Symptome medikamentös und nicht-medikamentös unbehandelt. Zahlreiche medikamentöse Therapien sowie die Nutzung von Hilfsmitteln können die Symptome jedoch eindämmen und ermöglichen eine freiere Alltagsgestaltung. Auch nicht-medikamentöse Therapien wie Miktionstrainings, Entspannungsübungen und Beckenbodentraining helfen dabei, die Kontrolle über die Blasenfunktion zu verbessern. Physiotherapie schafft eine bessere Koordination der an den Ausscheidungsvorgängen beteiligten Muskeln.

Medikamentöse Therapie

Medikamente können bei Harnwegsinfekten, Blasenentleerungsstörungen und auch Verstopfung helfen. Meist müssen jedoch Medikamente, sogenannte Anticholinergika, zur Ruhigstellung der Blase eingesetzt werden. Für Patienten, die diese Medikamente aufgrund möglicher Nebenwirkungen, wie Verstopfung, Mundtrockenheit oder Sehstörungen, nicht vertragen, ist die Behandlung mit Botulinumtoxin Typ A eine wirksame Alternative. Der Wirkstoff wird bei einer Blasenspiegelung in die Blasenwand gespritzt und löst so die Verkrampfung der Muskulatur, wodurch Harndrang und Inkontinenz gemindert werden. Der kurze Eingriff kann in örtlicher Betäubung oder einer kurzen Narkose durchgeführt werden. Die Wirkung hält sechs bis neun Monate an. Da die Therapie seit über einem Jahr auch für die Indikation der überaktiven Blase bei MS zugelassen ist, werden die Kosten mittlerweile von der Krankenkasse übernommen. Die Behandlung ist sehr gut verträglich. Als Nebenwirkung kann eine leichte Verschlechterung der Blasenentleerung auftreten, sodass sich die Patienten vorübergehend mittels eines Katheters regelmäßig den Restharn aus der Blase entfernen müssen.

Nicht-medikamentöse Therapie

  • Miktionstraining:
  • Entspannungsübungen:
  • Beckenbodentraining: Übungen zur Stärkung des Beckenbodens sind wichtig.
  • Physiotherapie: Physiotherapie schafft eine bessere Koordination der an den Ausscheidungsvorgängen beteiligten Muskeln.

Hilfsmittel

Zur Behandlung von Inkontinenz und zur Vermeidung von Harnwegsinfekten ist die regelmäßige oder dauerhafte Harnableitung über einen Katheter eine wirksame Methode. Sich selbst einen Blasenkatheter zu setzen ist sicherlich nicht einfach oder angenehm. Sprechen Sie mit Ihrem Arzt. Bei Inkontinenz des Darms können MS-Erkrankte Analtampons nutzen. Zudem stehen für Menschen mit stärker eingeschränkter Blasenfunktion Hilfsmittel, wie Einlagen und Inkontinenzwindelhosen, zur Verfügung, welche es ermöglichen, mit weniger Einschränkungen an alltäglichen Aktivitäten teilzunehmen.

Tipps für den Alltag

  • Ausreichend trinken: Viele Menschen versuchen ihrem Problem damit zu begegnen, dass sie nur noch sehr wenig trinken. Genau das Gegenteil wäre jedoch richtig! Wenn Sie zu wenig trinken, können sich Blasen- und Nierensteine entwickeln. Wenn Sie unter Verstopfung leiden, hilft es, wenn Sie mindestens 1,5 Liter Flüssigkeit pro Tag zu sich nehmen und sich ballaststoffreich ernähren, beispielsweise mit Vollkornprodukten, Obst und Gemüse. Die tägliche Trinkmenge sollte mindestens 2 Liter betragen, die regelmäßig und auf den Tag verteilt zu sich genommen werden sollen. Dabei solltet ihr hauptsächlich stilles Wasser oder ungesüßte Tees zu euch nehmen.
  • Ernährung: 2 Esslöffel Kürbiskerne täglich. Die kleinen grünen Helfer liefern wertvolles Kalium, Kalzium und Magnesium, welche für eine einwandfreie Zusammenarbeit von Nerven und Muskeln sorgen. Die in den Kernen enthaltenen Pflanzenhormone hemmen den Harndrang zusätzlich. Auch die B-Vitamine stärken das Nervensystem, welches die Blasenfunktion steuert. Achte auf deine Ernährung. Auch bei Blasenschwäche gibt es einige Dinge, auf die du achten solltest. Verschiedene Lebensmittel wirken harntreibend.
  • Harndrang nicht unterdrücken: Wichtig ist, dass du deinen Harndrang nicht unterdrückst, denn das kann deine Nieren und auch die Harnröhre schädigen und zu Entzündungen führen.
  • Offenheit: Wer Probleme mit der Blasenentleerung oder der Darmfunktion bei sich entdeckt, sollte sich daher vertrauensvoll an einen Arzt oder seine MS-Schwester wenden. Mit der MS-Schwester können Patienten nicht nur über ihre Gedanken und Sorgen im Umgang mit diesen schambesetzten Themen sprechen.

Forschungsprojekte

Wegen der hohen Bedeutung der Blasenfunktionsstörungen beteiligt sich der DMSG-Bundesverband als Konsortialpartner an einer Studie mit dem Namen „MS-Vita“ unter Leitung von Professor Dr. Hasseler von der Fakultät Gesundheitswesen an der Ostfalia Hochschule am Standort Wolfsburg unter Beteiligung des MS-Registers, des DMSG-Landesverbandes Niedersachsen und der AOK Niedersachsen, die durch den Innovationsfond des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA Förderkennzeichen 01VSF23024) mit 1,4 Millionen Euro gefördert wird. Ziel dieser Studie ist es, die Versorgungssituation der Menschen mit MS, die unter diesen Symptomen leiden, besser zu verstehen und nachhaltig zu verbessern. Begleitet wird das Projekt unter Leitung von Frau Prof. Dr. M. Hasseler u.a. vom MS-Register, dem DMSG-Bundesverband (www.dmsg.de) und dem DMSG-Landesverband Niedersachsen mit dem Ziel MS-Betroffene (MS-Erkrankten und Angehörige) partizipativ in die Forschung und Verbesserung der Versorgung von Blasen- und Darminkontinenz einzubeziehen.

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