Intelligenz ohne Gehirn: Eine Definition und Beispiele aus der Natur

Die Frage, was Intelligenz ausmacht und wo sie zu finden ist, beschäftigt Wissenschaftler und Philosophen seit langem. Traditionell wurde Intelligenz eng mit dem Vorhandensein eines Gehirns und komplexen Nervensystemen verbunden. Doch Beobachtungen in der Natur, insbesondere bei Lebewesen ohne Gehirn, stellen diese Vorstellung zunehmend in Frage. Dieser Artikel widmet sich dem Konzept der Intelligenz ohne Gehirn, beleuchtet Beispiele aus der Natur und diskutiert die Implikationen für unser Verständnis von Intelligenz.

Intelligenz: Mehr als nur ein Gehirn?

Der Begriff Intelligenz ist vielschichtig und schwer zu definieren. Im Allgemeinen wird Intelligenz als die Fähigkeit verstanden, Probleme zu lösen, sich an neue Situationen anzupassen, logisch zu denken und sich Dinge zu merken. Lange Zeit galt das Gehirn als die notwendige Voraussetzung für diese Fähigkeiten. Doch die Forschung der letzten Jahre hat gezeigt, dass auch Lebewesen ohne Gehirn erstaunliche Leistungen vollbringen können, die auf eine Form von Intelligenz hindeuten.

Professor Hans-Günther Döbereiner von der Universität Bremen, der sich intensiv mit Schleimpilzen beschäftigt, plädiert dafür, unser Verständnis von Intelligenz auf Tiere, Pflanzen und Pilze auszuweiten. Er stellt die Frage, ob Lebewesen auch ohne Gehirn und Nervenzellen denken können. Seiner Ansicht nach wird durch naturwissenschaftliche Forschung immer deutlicher, dass "überlegtes und planerisches Denken" auch in Lebewesen existiert, bei denen man es nicht erwarten würde.

Der Schleimpilz: Ein faszinierendes Beispiel für Intelligenz ohne Gehirn

Ein besonders faszinierendes Beispiel für Intelligenz ohne Gehirn ist der Schleimpilz Physarum polycephalum. Dieser Einzeller, der weder Pflanze noch Tier oder Pilz ist, kann eine beachtliche Größe erreichen. Im Labor wurde ein Exemplar von mehr als 5,5 Quadratmetern Fläche gezüchtet. Was ihn von anderen Einzellern unterscheidet: Der Zellkern teilt sich, ohne dass die Zelle sich teilt - mit dem ungewöhnlichen Ergebnis, dass eine Zelle Millionen, ja Milliarden von Kernen enthalten kann.

Trotz seiner einfachen Struktur weist der Schleimpilz erstaunliche Fähigkeiten auf. Er kann sich in seiner Umgebung orientieren, Nahrungsquellen finden und sogar den kürzesten Weg durch ein Labyrinth finden. In Experimenten wurde gezeigt, dass Schleimpilze komplexe Probleme lösen können, die normalerweise mit Intelligenz assoziiert werden.

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Fähigkeiten des Schleimpilzes

  • Navigation und Nahrungssuche: Der Schleimpilz breitet sich in Richtung einer Nahrungsquelle aus. Hat er die Quelle gefunden, werden ineffiziente Ausprägungen zurückgebildet. Er kann auch in einem Labyrinth den effizientesten Weg erkennen.
  • Ausgewogene Ernährung: Wird der Schleimpilz mit einer Auswahl an Nahrungsquellen konfrontiert, wählt er die Nahrungsquelle mit dem optimalen Zucker- und Proteingehalt aus, die er für sein Wachstum benötigt. Ist keine optimale Quelle vorhanden, kombiniert er die beiden nahrhaftesten Energiequellen so miteinander, dass sie den optimalen Ernährungs-Mix für ihn kreieren.
  • Vermeidung von Wiederholungen: Bei seiner Nahrungssuche passiert der Schleimpilz nie dieselbe Stelle zweimal. Er hinterlässt auf seinem Weg ein Geflecht, mit dem er die Stelle markiert und sie bei einer erneuten Suche vermeidet.
  • Lernfähigkeit: Der Schleimpilz kann lernen, Hindernisse zu überwinden. In einem Experiment wurde er mit einer Salz bestreuten Brücke konfrontiert, hinter der sich eine Nahrungsquelle befand. Zunächst zögerte der Schleimpilz, die Brücke zu überqueren, aber mit der Zeit überwand er seine Abneigung gegen das Salz und erreichte die Nahrungsquelle. Je öfter er sich über salzigen Untergrund gequält hat, desto schneller meistert er den Weg. Bis zu 4-mal schneller als üblich kann er dabei werden.
  • Wissensweitergabe: Trifft ein Schleimpilz auf einen anderen seiner Art, kann er mit ihm verschmelzen und dieses Wissen sogar weitergeben.

Wie funktioniert Intelligenz ohne Gehirn beim Schleimpilz?

Die Frage, wie der Schleimpilz diese erstaunlichen Leistungen vollbringen kann, ist noch nicht vollständig beantwortet. Da er kein Gehirn oder Nervensystem besitzt, müssen andere Mechanismen am Werk sein. Eine mögliche Erklärung ist, dass der Schleimpilz auf chemische Gradienten reagiert und seine Bewegungen durch diese Gradienten gesteuert werden. Eine andere Theorie besagt, dass das Netzwerk aus Venen, das den Schleimpilz durchzieht, eine Art Informationsverarbeitung ermöglicht. Die rhythmischen Pulsationen der Venen könnten dazu dienen, Informationen zu transportieren und Entscheidungen zu treffen.

Professor Döbereiner und seine Arbeitsgruppe forschen intensiv an den Mechanismen, die der Intelligenz des Schleimpilzes zugrunde liegen. Sie untersuchen, wie sich die Adernetzwerke des Schleimpilzes verändern und wie er auf Erinnerungen zurückgreifen kann. In Experimenten wurde gezeigt, dass der Schleimpilz sich an wiederholte Reize erinnern und sein Verhalten entsprechend anpassen kann.

Pflanzen: Intelligente Strategien ohne Gehirn

Auch Pflanzen zeigen erstaunliche Fähigkeiten, die auf eine Form von Intelligenz hindeuten. Obwohl sie kein Gehirn besitzen, können sie auf ihre Umwelt reagieren, Probleme lösen und sogar lernen.

Beispiele für intelligente Verhaltensweisen bei Pflanzen

  • Abwehrstrategien: Die Goldrute (Solidago altissima) sondert einen chemischen Stoff ab, wenn ihre Blätter von Blattkäferlarven gefressen werden. Dieser Stoff signalisiert dem Insekt, dass die Pflanze beschädigt und eine schlechte Nahrungsquelle ist. Benachbarte Goldrutenpflanzen nehmen diese Chemikalien wahr und produzieren eigene Abwehrstoffe gegen die Käferlarven.
  • Anpassung an die Umgebung: Goldruten wachsen schneller, wenn sie von Käfern gefressen werden - allerdings nur, wenn sie von weiteren Goldruten umgeben sind. Ohne Artgenossen in der Nachbarschaft bleibt die Wachstumsrate unverändert, die Goldruten produzieren dann jedoch mehr chemische Abwehrstoffe.
  • Lernen: Mimosen falten ihre Blätter bei Berührung zusammen, um Fressfeinde abzuschrecken. Bei mehrfacher Reizung gewöhnen sie sich daran und reagieren nicht mehr - was man als Lernfähigkeit interpretieren kann.
  • Zählen: Die Venusfliegenfalle schnappt nur zu, wenn zwei ihrer Sinneshaare kurz nacheinander berührt werden, und schüttet erst dann Verdauungssäfte in die geschlossene Falle aus, wenn ihre Sinneshaare noch drei weitere Male Signale auslösen.

Wie funktioniert Intelligenz ohne Gehirn bei Pflanzen?

Die Mechanismen, die der Intelligenz von Pflanzen zugrunde liegen, sind noch nicht vollständig verstanden. Anstelle eines zentralen Nervensystems nutzen Pflanzen chemische Signale und ihr Gefäßsystem, um Informationen zu verarbeiten und Reaktionen zu veranlassen. Jede Pflanzenzelle kann ein breites Lichtspektrum wahrnehmen und über Sinnesmoleküle verfügen, mit denen sie sehr spezifische flüchtige Verbindungen von benachbarten Pflanzen erkennen kann. Die Zellen kommunizieren über chemische Signale, um eine gemeinsame Reaktion in Bezug auf Wachstum oder Stoffwechsel auszulösen.

Basale Kognition: Ein neues Forschungsfeld

Die Beobachtungen von intelligentem Verhalten bei Lebewesen ohne Gehirn haben zu einem neuen Forschungsfeld geführt, der sogenannten "basalen Kognition". Dieses Forschungsgebiet untersucht, wie Intelligenz, Lernen, Gedächtnis und Problemlösung auch von Geweben außerhalb des Gehirns vermittelt werden können.

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Die Bedeutung der basalen Kognition

Die basale Kognition stellt unsere traditionelle Vorstellung von Intelligenz in Frage und eröffnet neue Perspektiven auf die Evolution des Denkens. Sie deutet darauf hin, dass kognitive Fähigkeiten nicht erst mit der Entstehung von Gehirnen entstanden sind, sondern sich bereits in einfachen Zellverbänden entwickelt haben könnten.

Die Erkenntnisse der basalen Kognition haben auch Implikationen für die Forschung im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI). Indem wir uns von der Funktionsweise des menschlichen Gehirns lösen und uns stattdessen von den Prinzipien der basalen Kognition inspirieren lassen, könnten wir neue und innovative KI-Systeme entwickeln.

Die Rolle der Bioelektrizität

Ein wichtiger Aspekt der basalen Kognition ist die Rolle der Bioelektrizität. Die Tatsache, dass geladene Teilchen durch Körper strömen, ist schon seit Jahrhunderten bekannt. Bis vor Kurzem dachten die meisten Biologen allerdings, dass dies hauptsächlich der neuronalen Signalübertragung dient. Seit den 1930er Jahren hat man jedoch immer wieder vereinzelt beobachtet, dass offenbar auch andere Zelltypen Bioelektrizität nutzen, um Informationen zu speichern und weiterzugeben.

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