Die Volkskrankheit Demenz verunsichert zutiefst. Regelmäßige Meldungen von neuen, vermeintlich wirksamen Medikamenten wecken Hoffnungen auf den medizinischen Durchbruch - doch nach wie vor gibt es keinen Wirkstoff, der diese Krankheit heilen kann. In dieser herausfordernden Situation kommt der Arbeit von Forschern und Medizinern wie Dr. med. Irene Bopp-Kistler eine besondere Bedeutung zu.
Irene Bopp-Kistler: Eine Lebensleistung für die Altersmedizin
Irene Bopp-Kistler, Dr. med., Internistin mit Schwerpunkt Geriatrie, hat die Altersmedizin am Stadtspital wesentlich mitgeprägt und aufgebaut. 1997 gründete sie gemeinsam mit Brigitte Rüegger-Frey die Memory Clinic. Für sie standen neben der Abklärung und Behandlung immer die Betroffenen und Angehörigen im Mittelpunkt. Irene Bopp-Kistler war während vieler Jahre Lehrbeauftragte der Universität Zürich. Sie war Gründungsmitglied der Fachgesellschaft für Geriatrie (SFGG) und langjähriges Vorstandsmitglied. Sie brachte ihr Wissen in zahlreichen Gremien ein, so auch in der nationalen und kantonalen Demenzstrategie und in diversen Vorständen. Ein Herzensanliegen ist ihr die Enttabuisierung der Demenzerkrankung. 2020 wurde sie von Alzheimer Zürich mit dem Fokuspreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Das Standardwerk zu Demenz: Ein Gemeinschaftswerk unter der Herausgeberschaft von Irene Bopp-Kistler
Irene Bopp-Kistler ist die Herausgeberin des Buches „demenz.“, ein Gemeinschaftswerk von 63 Autoren, die insgesamt 68 Beiträge über die verschiedensten Aspekte dieses Krankheitssyndroms erstellten. Bei den anderen Autoren handelt es sich u. a. um Fachleute aus den Bereichen Klinik, Forschung, Pflege, Rechtswesen, Versorgungsstrukturen und auch der Pflege und Betreuung stammen. Die Autoren sind teils beruflich, teils als Angehörige mit Demenzkranken beschäftigt. Entsprechend sind dann auch die Perspektiven auf diese Erkrankung und die Erkrankten unterschiedlich; sie reichen von wissenschaftlicher Objektivität bis hin zum emotionalen Engagement.
Das Buch ist in 10 Kapitel gegliedert und behandelt ein breites Spektrum an Themen rund um Demenz. Die 3. aktualisierte Auflage erzielt die an sich selbst gestellten Anforderungen. Das Kernstück des Buches, das Leben und insbesondere die benötigte Haltung im Zusammenleben und Behandlung von Personen mit Demenz, werden sehr verständlich dargelegt. Besonders hilfreich sind Fallbeispiele aus verschiedenen Blickwinkeln sowie Fotos, Grafiken und Tabellen. Herausforderungen und Behandlungen werden in den Kapiteln interdisziplinär und ausführlich dargelegt. Hervorzuheben sind die emotionalen Aspekte im Zusammenleben mit einer Person mit Demenz. Das vorliegende Buch ist ein kompaktes Übersichts- bzw. Nachschlagewerk, welches sich grundsätzlich nicht nur für Professionelle, sondern auch für alle Interessierten eignet. Es ist sehr empfehlenswert, um einen interdisziplinären und vielschichtigen Eindruck zur Komplexität der Diagnose Demenz mit all seinen Perspektiven zu erhalten.
Diagnostik und die Bedeutung des Ausschlusses von Sekundärdemenzen
Im ersten Kapitel wird angesichts der Tatsache, dass es keine Therapien für Demenzkranke gibt, die Bedeutung der Diagnose hinsichtlich des Ausschlusses von Sekundärdemenzen hervorgehoben. Wenn z. B. Stoffwechselstörungen, Vitaminmangelzustände und Entzündungen als Ursache für geistige Minderleistungen eruiert werden, dann besteht bei angemessener Behandlung Aussicht auf Wiederherstellung der geistigen Leistungsfähigkeit. Hierbei werden u. a. von Bedeutung aus diagnostischer Sicht ist auch die Beobachtung, dass erste Einschränkungen des geistigen Vermögens von den Betroffenen fast schmerzhaft wahrgenommen werden, wenn sie z. B. ihr Handy oder auch den Computer nicht mehr richtig anwenden können. >Eine Abklärung erfindet keine Diagnose, sondern gibt Symptomen einen Namen< (S. 17)!
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Klassifizierung der Demenzen nach beeinträchtigten neuronalen Netzwerken
Die Klassifizierung der Demenzen nach den beeinträchtigten neuronalen Netzwerken ist für Diagnose und Behandlungen von Relevanz: folgende Differenzierung werden vorgenommen:
- „Demenzen der visuell-räumlichen Netzwerke“, hier treten visuelle Beschwerden als Erstsymptome auf.
- „Demenzen des Sprachennetzwerkes“ (primär progressive Aphasie), die als relativ seltene „semantischen Demenzen“ diagnostiziert werden.
- „Demenzen des Netzwerkes der Verhaltenssteuerung, der sozialen Kognition und des logischen Denkens“ werden meist als „Frontallappendemenzen“ diagnostiziert, die häufig schon in der Altersgruppe 50 - 65 Jahre (als präsenile Demenzen) auftreten.
- Die mit Abstand häufigste Form der Demenz ist die „Demenz des Gedächtnisnetzwerkes“, der Alzheimerdemenz.
Es wird diskutiert, ob Demenzen sowohl als psychiatrische als auch als neurologische Erkrankungen klassifiziert werden sollen. Aus der Sicht der Herausgeberin handelt es sich „bei der Demenz um eine Erkrankung des Nervensystems, die auch zum psychischen Leid führt.“ (S. 91).
Der Verlust des Schmerz- und Temperaturempfindens bei Demenzkranken
Für die Pflege und Betreuung Demenzkranker im stationären und auch häuslichen Bereich wird ein wichtiges Krankheitssymptom angeführt, das jedoch vom Autor (Christoph Held) nicht erkannt wird: der Verlust des Schmerz- und Temperaturempfindens (Analgesie). Im Buch wird beschrieben, wie ein Demenzkranker seinen heißen Kaffee ohne Empfindungen des Schmerzes trinkt (S. 111). Diese Symptomatik wird in den Heimen oft beobachtet, wenn z. B. Demenzkranke tagelang mit Bein- oder Handknochenbrüchen keine Schmerzen äußern oder wenn derart heiß geduscht wird, dass die Haut regelrecht verletzt wird. Auch wurde festgestellt, dass Demenzkranke, die im dünnen Nachthemd im Winter bei entsprechender Kälte das Heim bzw. die Häuslichkeit verlassen, keine Kälte spüren.
Kritik an Konzepten ohne Wirksamkeitsnachweise
Kritisch gilt es anzuführen, dass neben der Darstellung des aktuellen Forschungsstandes auch Konzepte und Modelle angeführt werden, die weder in der Pflege und Betreuung Demenzkranker Wirksamkeitsnachweise erbringen konnten noch sich mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbaren lassen. Beispiele hierfür sind der Ansatz von Tom Kitwood (S. 105), das Modell der „Validation“ (S. 302) und das Konzept eines so genannten „Leibgedächtnisses“ (S.
Perspektiven von Betroffenen und Angehörigen
Im Buch »demenz.« nennen namhafte Expert:innen die bisher bekannten Fakten beim Namen und erläutern, was es damit auf sich hat. Betroffene und Angehörige berichten von »ihrer« Demenz und was sie mit ihrem Leben macht. Renommierte Autor:innen vermitteln Perspektiven auf sozial-politischer, medizinischer, vor allem aber auf menschlicher und spiritueller Ebene und zeigen auf, wie den Betroffenen respektvoll begegnet werden kann.
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In diesem Kapitel berichten Betroffene und Angehörige über ihre Erfahrungen und Schicksalsschläge im Alltag mit der Erkrankung Demenz. Die Eigenberichte beschränken sich zumeist auf den Anfang und die Diagnostikphase der Betroffenen, da die Fähigkeiten rasch verloren gehen. Dieses Kapitel widmet sich einerseits den Angehörigen betroffener Menschen mit Demenz. Es werden die Spannungsfelder zwischen Lebensgestaltung und Trauer über den Verlust vertrauter Rollen in einer Beziehung beschrieben. Als Unterstützungsmöglichkeit in schwierigen Situationen bietet sich ein Austausch in einer Angehörigengruppe an. Das Verständnis anderer Angehöriger kann hilfreich sein und hilft in schwierigen Situationen zu leben und zu überleben, vor allem wenn die Krankheit überhandnimmt.
Therapeutische Möglichkeiten und der Fokus auf Lebensqualität
In diesem Kapitel stellt die Autorin therapeutische Möglichkeiten vor. Zum einen werden Medikamentengruppen und ihre Wirkmechanismen dargestellt, welche durch eine multidisziplinäre Breite an Therapiemöglichkeiten ergänzt werden. Die Autorin beschreibt am Anfang dieses Kapitel, dass Medikamente wie ein Gehstock wirken und im besten Fall palliativ wirken. Der Schwerpunkt des therapeutischen Ansatzes steht die Lebensqualität im Alltag: ein verständnisvoller Umgang im Alltag, Unterstützung und Stärkung der Ressourcen von Betroffenen. Hervorzuheben sind Themen wie Logopädie, Therapieangebote mit Ausdruckscharakter und kultureller Teilhabe sowie die Möglichkeiten der Esskultur für Demenzerkrankte.
Trotz der Vielfalt an Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten ist eine Demenz nicht heilbar und bedeutet an vielerlei Stellen im Leben der Betroffenen loszulassen. Hervorzuheben ist die aufsuchende Arbeit von professionellen Mitarbeitenden in der Häuslichkeit der Betroffenen in Zürich. In den Beispielen werden lösungsorientierte Ansätze beschrieben, die vordergründig niedrigschwellige Interventionen anbieten und in der Begleitung vor allem Vertrauen aufbauen soll. Nachfolgend werden multidisziplinäre geriatrische Interventionen angeregt.
Demenzfreundliche Kommunen: Ein wichtiger Schritt zur Enttabuisierung
Die Arbeit von Irene Bopp-Kistler und anderen Experten zeigt, dass es wichtig ist, nicht nur über Demenz und demographischen Wandel zu sprechen, sondern auch etwas zu bewegen. Initiativen zur Schaffung demenzfreundlicher Kommunen sind ein wichtiger Schritt, um Betroffene ausfindig zu machen und den Angehörigen ebenso zu helfen.
Herausforderungen und Lösungsansätze
Es besteht Bedarf, verschiedene Wohnformen (Demenz-WGs) zu erarbeiten; dafür könnte der Leerstand vieler Gebäude in den einzelnen Kommunen genutzt werden. Es braucht mehr Angebote, die Normalität und Lebensfreude in den Alltag der Betroffenen bringen. Mehr Mut ist von den Verantwortlichen gefordert, um auf das Thema Demenz aufmerksam zu machen.
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Die Enttabuisierung muss eher mit konkreten Beispielen und Angeboten im Stadtteil beginnen. Es ist beeindruckend, wie offen und begeisterungsfähig die Menschen mit Demenz an Aktionen teilnehmen, selbst, wenn die kulturellen Aktivitäten keinen biografischen Bezug hatten. Sie genießen es, die Gemeinschaft zu erleben, neue Orte kennenzulernen und die Erkrankung in den Hintergrund treten zu lassen. Dass sich bei einigen Veranstaltungen Familien, Betroffene geoutet haben und von ihrer Situation erzählt haben, ist sehr berührend und macht insbesondere die Profis sehr nachdenklich.
Was fehlt zur Demenzfreundlichkeit?
Zur "Demenzfreundlichkeit" im Kreis Düren fehlen noch Betreuungsangebote am Wochenende und in der Nacht. Je mehr Bürger/innen mitmachen, umso mehr kann geschehen.
- Ideelle Unterstützung von der kommunalen Spitze (Bürgermeister).
- Mehr Menschen, die die Erkenntnis teilen und sich für die Ziele der Aktion Demenz einsetzen.
- Der Bekanntheitsgrad der Angebote ist zu gering, sowohl in der Bevölkerung als auch in den Fachkreisen.
Letztendlich wäre ein „demenzfreundliches Quartier“ eine altersgerechtere bzw. Der Blick wurde bisher sehr stark auf die Versorgung, Pflege und Betreuung gerichtet. Dabei können Menschen im Frühstadium einer Demenzerkrankung noch lange Zeit ein unabhängiges Leben führen, das wurde bisher zu wenig berücksichtigt.
Begegnung von Jung und Alt: Ein wichtiger Schritt zur Inklusion
Für ein ganz wichtiges Signal halte ich, dass die Schulleiter der beteiligten Schulen bei der Ingenium-Stiftung, die sich ja ganz speziell mit Demenz befasst, nach Praktikumsstellen für ihre Schüler nachgefragt haben. Dies ist ein wichtiger Schritt, um das Thema Demenz als normalen Bestandteil des sozialen Bereichs für die Schüler, und damit auch für die zukünftigen Erwachsenen, einzustufen und damit Hemmungen und Stigmatisierung abzubauen.
Beeindruckend ist die unbefangene Begegnung von Jugendlichen und Menschen mit Demenz. Durch das Miteinander von Menschen mit und ohne Demenz erleben sie sich als Teil einer kulturinteressierten Gruppe, so dass die krankheitsbedingten Einschränkungen in den Hintergrund treten. Die Angebote nehmen mittlerweile Abstand vom „Betreuungsgedanken“ und entwickeln sich dahingehend, die Selbstbestimmung der Menschen mit Demenz zu wahren.