Die Frage, ob Epilepsie eine geistige Behinderung darstellt, ist komplex und bedarf einer differenzierten Betrachtung. Grundsätzlich gilt: Epilepsie verursacht nur sehr selten Defizite in Intelligenz oder Gedächtnis. Allerdings treten Epilepsie und geistige Beeinträchtigung oft gemeinsam auf, was zu der Annahme verleiten kann, dass ein direkter Zusammenhang besteht. Dieser Artikel beleuchtet die vielfältigen Aspekte dieser Thematik und geht auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Epilepsie und geistiger Behinderung ein.
Einführung
Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, die durch wiederholte, plötzliche Funktionsstörungen des Gehirns gekennzeichnet ist. Weltweit sind etwa 1 % der Bevölkerung betroffen. Geistige Behinderung hingegen bezieht sich auf eine Beeinträchtigung der kognitiven Fähigkeiten und der adaptiven Verhaltensweisen. Menschen mit geistiger Behinderung erkranken im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung häufiger an Epilepsie. Es ist wichtig zu verstehen, dass Epilepsie in den meisten Fällen keine direkte Ursache für eine Intelligenzminderung darstellt.
Ursachen und Zusammenhänge
Die Kausalitäten zwischen Epilepsie und geistiger Behinderung sind vielfältig und komplex. Es gibt verschiedene Faktoren, die zu diesem gemeinsamen Auftreten beitragen können:
- Genetische Ursachen: In einigen Fällen können genetische Defekte sowohl Epilepsie als auch geistige Behinderung verursachen. Ein Beispiel hierfür ist die frühkindliche epileptische Enzephalopathie (EIEE), eine heterogene Gruppe schwerer Epilepsien, die im ersten Lebensjahr beginnt. Die X-gebundene Epilepsie mit geistiger Behinderung (EIEE9), verursacht durch pathogene Varianten im Gen für Protocadherin 19 (PCDH19), ist ein weiteres Beispiel.
- Hirnschädigung oder Hirnentwicklungsstörung: Die der Epilepsie zugrunde liegende Hirnschädigung oder Hirnentwicklungsstörung selbst kann das Risiko des Auftretens von Nebenwirkungen erhöhen. Eine präzise Einordnung des Schädigungszeitpunktes (prä-, peri-, postnatal) und die Art der Schädigung (Blutung, Asphyxie, Trauma) sollte festgelegt werden können.
- Symptomatische fokale Epilepsien: Bei Kindern mit Autismus und geistiger Behinderung sind häufiger symptomatisch fokale Epilepsien zu beobachten, die auf eine kortikale Schädigung oder Dysplasie hinweisen.
- Medikamentöse Therapie: Die für eine bestmögliche Anfallskontrolle eventuell notwendige Kombination von Antiepileptika kann das Risiko des Auftretens von Nebenwirkungen erhöhen. Diese sind bei Menschen mit Behinderung viel schwieriger erfassbar als bei gesunden.
Frühkindliche epileptische Enzephalopathie (EIEE)
Die frühkindliche epileptische Enzephalopathie (EIEE) umfasst eine Gruppe von schweren Epilepsien, die im ersten Lebensjahr auftreten. Charakteristisch sind häufige tonische Anfälle mit einem spezifischen Muster im EEG. Viele Patienten mit EIEE entwickeln ein West-Syndrom, das durch BNS-Anfälle, Hypsarrhythmie im EEG und einen Entwicklungsstillstand gekennzeichnet ist. Die X-gebundene Epilepsie mit geistiger Behinderung (EIEE9) wird durch Mutationen im PCDH19-Gen verursacht und betrifft hauptsächlich heterozygote Trägerinnen.
Diagnostik
Eine genaue Diagnose der Anfälle und des Epilepsiesyndroms ist die Grundlage für eine erfolgreiche Therapie. Gerade bei der Erhebung der Anamnese und Anfallsbeschreibung ist man in besonderem Maße auf Informationen von anderen Personen (z.B. Angehörige, Betreuer) sowie gegebenenfalls weitere Quellen (z.B. Videoaufnahmen, Anfallskalender) angewiesen. Bei jeder Epilepsie-Erstdiagnose, bei der eine symptomatische Genese zu vermuten ist, ist eine bildgebende Untersuchung erforderlich, heutzutage ein kraniales Kernspintomogramm (cMRT).
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Therapie
Hinsichtlich Diagnostik und Behandlung gelten prinzipiell die gleichen Grundsätze wie bei nichtbehinderten Epilepsiekranken. Bei der pharmakologischen Therapie ist eine verbesserte Anfallskontrolle über eine Monotherapie anzustreben, um unerwünschte Wirkungen zu minimieren. Wo dies nicht möglich ist, bringt bereits oft eine Reduktion und Vereinfachung einer bestehenden Polytherapie für den Patienten eine erhebliche Verbesserung seiner psychischen, kognitiven und motorischen Möglichkeiten.
Pharmakologische Therapie
Die pharmakologische Therapie der Anfälle unterscheidet sich prinzipiell nicht von der Behandlung von Patienten ohne Intelligenzminderung. Es ist also eine Monotherapie mit dem Ziel der Anfallsfreiheit anzustreben. Bei der Substanzauswahl ist zu bedenken, dass einige Antiepileptika bei Patienten mit geistiger Behinderung erfahrungsgemäß ein erhöhtes Risiko insbesondere psychiatrischer Nebenwirkungen bergen. Keine antiepileptische Substanz sollte prinzipiell ausgeschlossen werden. Lamotrigin scheint gelegentlich eher positive Begleiterscheinungen (z.B. vermehrte Wachheit, Stimmungsstabilisierung, Antriebsvermehrung) zu zeigen, und zwar auch unabhängig vom Effekt gegen die Anfälle.
Einigen Patienten, insbesondere mit schweren Mehrfachbehinderungen, ist es nicht möglich, Tabletten oder Kapseln zu schlucken. Hier muss frühzeitig an andere Applikationsformen gedacht werden, vor allem Tropfen oder Säfte, auch wenn diese zum Teil deutlich teurer sind. Beim Aufdosieren eines Antiepileptikums ist daran zu erinnern, dass zum einen die Überdosierungsgrenze bei geistig oder körperlich behinderten Menschen aufgrund ihrer Hirnschädigung schon bei Serumkonzentrationen erreicht sein kann, die man bei der Behandlung nichtbehinderter Patienten als in der Regel noch gut verträglich erlebt hat.
Nichtmedikamentöse Maßnahmen
Zur Behandlung der Epilepsie gehören auch und gerade bei geistig behinderten Patienten nichtmedikamentöse Maßnahmen, (z.B. Tagesstrukturierung, Regulierung des Schlaf-Wach-Rhythmus) sowie Maßnahmen, die anfallsbedingten Schaden verhüten sollen. Dies betrifft besonders den Umgang mit Sturzgefahr im Rahmen von Anfällen.
Epilepsiechirurgie
Behinderung und epilepsiechirurgischer Eingriff schließen sich nicht aus, sofern die dazu notwendige aufwendige Diagnostik möglich ist.
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Besondere Herausforderungen
Die Behandlung von Menschen mit Epilepsie und geistiger Behinderung stellt besondere Herausforderungen dar:
- Erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen: Menschen mit Intelligenzminderung Antiepileptika anders, manchmal auch schlechter vertragen.
- Schwierige Erfassung von Nebenwirkungen: ZNS-typische Nebenwirkungen wie Schwindel, Doppeltsehen, Ataxie und Müdigkeit, sondern auch um psychische und kognitive Nebenwirkungen sind bei Menschen mit Behinderung viel schwieriger erfassbar als bei gesunden.
- Komorbiditäten: Psychiatrische Komorbidität ist bei Menschen mit Epilepsien häufig, besonders depressive Störungen. Besondere Probleme bei geistig behinderten Menschen sind deren Verhaltensstörungen und deren Entwicklung zu psychotischen Symptomen, oft in Verbindung mit Anfällen.
- Kommunikationsschwierigkeiten: Fremdbeobachtung und -einschätzung sind umso wertvoller, je weniger der Patient selbst in der Lage ist, seine Befindlichkeit einzuschätzen und sie insbesondere auch in ausreichendem Maße mitzuteilen.
Epilepsie, Autismus und geistige Behinderung
Epilepsie, Autismus und geistige Behinderung zeigen eine enge Assoziation. Das zusätzliche Auftreten eines Autismus bei Epilepsien bedeutet, dass auch eine schwere geistige Behinderung deutlich häufiger zu erwarten ist. Die große Bedeutung aus psychiatrischer Sicht besteht darin, dass die Gruppe dieser Kinder ganz besonders schwer in ihrer psychosozialen Anpassung beeinträchtigt ist. Weitere begleitende psychiatrische Störungen (wie ADHS oder Depression) und Symptome (wie Selbst- oder Fremdaggression oder Schlafstörungen) findet man bei diesen Kindern besonders häufig.
Rechtliche Aspekte und Unterstützung
Menschen mit Epilepsie können vom Versorgungsamt ihren Grad der Behinderung (GdB) feststellen lassen und einen Schwerbehindertenausweis sowie sog. Merkzeichen beantragen. Die Höhe des GdB richtet sich nach Schwere, Häufigkeit, Art und tageszeitlicher Verteilung der Anfälle. Ab einem GdB von 50 gilt ein Mensch als schwerbehindert. Unterstützung und Hilfen für Menschen mit Behinderungen sind hauptsächlich im SGB IX - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen geregelt.
Leben mit Epilepsie und geistiger Behinderung
Das Leben mit Epilepsie und geistiger Behinderung kann eine Herausforderung sein, aber mit der richtigen Unterstützung und Behandlung können Betroffene ein erfülltes Leben führen. Wichtig sind:
- Eine gute medizinische Versorgung: Regelmäßige Kontrollen beim Neurologen und eine individuelle Therapieplanung sind essentiell.
- Unterstützung im Alltag: Angehörige, Betreuer und Therapeuten können helfen, den Alltag zu strukturieren und anfallsbedingte Risiken zu minimieren.
- Soziale Teilhabe: Angebote zur sozialen Teilhabe, wie z.B. Werkstätten für behinderte Menschen, können die Integration fördern.
- Information und Aufklärung: Eine gute Aufklärung über die Erkrankung und ihre Behandlung ist wichtig, um Ängste abzubauen und die Selbstbestimmung zu fördern.
Was tun bei einem epileptischen Anfall?
Bei einem epileptischen Anfall ist es am wichtigsten, dass Helferinnen und Helfer Ruhe bewahren und Betroffene vor Verletzungen schützen. Dauert der Anfall länger als fünf Minuten an oder treten mehrere Anfälle kurz hintereinander auf, sollte der Rettungsdienst (Notruf 112) informiert werden.
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