Ketamin: Wirkmechanismen im Gehirn, Anwendungen und therapeutisches Potenzial

Ketamin, ursprünglich ein Narkosemittel, hat sich in den letzten Jahren als vielversprechende Behandlungsoption für schwere, therapieresistente Depressionen etabliert. Dieser Artikel beleuchtet die vielfältigen Wirkmechanismen von Ketamin im Gehirn, seine Anwendungsgebiete und die damit verbundenen Chancen und Risiken.

Einleitung

Ketamin nimmt eine Sonderstellung unter den Anästhetika ein, da es neben seinen anästhetischen Eigenschaften auch analgetische, antikonvulsive, bronchodilatatorische, lokalanästhetische, sympathomimetische und antidepressive Wirkungen aufweist. Diese Vielfalt an Wirkungen macht Ketamin zu einem interessanten Medikament für verschiedene medizinische Bereiche.

Wirkungsweise von Ketamin im Gehirn

NMDA-Rezeptor-Blockade

Der primäre Wirkmechanismus von Ketamin beruht auf der Blockade des N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptors, einer Andockstelle für den Botenstoff Glutamat. Glutamat spielt eine zentrale Rolle bei der Steuerung des Bewusstseins und der synaptischen Plastizität. Ketamin verschließt konzentrations- und dosisabhängig die Kanalöffnung des NMDA-Rezeptors, wodurch die Signaltransduktion beeinflusst wird. Esketamin, ein Enantiomer von Ketamin, hat eine etwa vierfach höhere Affinität zum NMDA-Rezeptor als Arketamin, was seine stärkere analgetische und anästhetische Potenz erklärt.

Es wird angenommen, dass die antidepressive Wirkung von Ketamin auf einer NMDA-Rezeptor-vermittelten Disinhibition von hemmenden Interneuronen und glutamatergen Neuronen im medialen präfrontalen Kortex beruht. Dies führt zu synaptogenen Mechanismen und einer neurotrophen Stimulation.

Weitere Wirkmechanismen

Neben der NMDA-Rezeptor-Blockade beeinflusst Ketamin auch andere Rezeptoren und Neurotransmittersysteme im Gehirn:

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  • AMPA-Rezeptoren: Ketamin kann die thalamo- und intrakortikale Transmission durch Stimulation von AMPA-Rezeptoren erhöhen.
  • Stickstoffmonoxid (NO) und zyklisches Guanosinmonophosphat (cGMP): Ketamin vermindert die Produktion von NO und cGMP.
  • Cholinerge Übertragung: Ketamin hemmt die cholinerge Übertragung an nikotinergen und muskarinergen Rezeptoren, was zu veränderten Acetylcholin-Konzentrationen in verschiedenen Hirnbereichen führen kann.
  • Opioidrezeptoren: Ketamin besitzt eine geringe agonistische Wirkung an µ- und κ-Opioidrezeptoren, was zu seiner schmerzhemmenden Wirkung beitragen kann.
  • Spannungsabhängige Natriumkanäle: Ketamin blockiert spannungsabhängige Natriumkanäle und hat dadurch lokalanästhetikaähnliche Eigenschaften.
  • HCN1- und L-Typ-Kalziumkanäle: Ketamin blockiert hyperpolarisierungsaktivierte, zyklische Nukleotid (HCN1)- und L-Typ-spannungsabhängige Kalziumkanäle.
  • Entzündungshemmende Wirkung: Ketamin wirkt antiinflammatorisch.
  • Synaptische Wiederaufnahme von Neurotransmittern: Ketamin inhibiert die synaptische Wiederaufnahme von Noradrenalin und Serotonin und kann eine geringere Bindung von Dopamin bewirken.

Es wird auch vermutet, dass Ketamin im Hippocampus für eine "plastische Homöostase" sorgt, indem es synaptische Veränderungen bei unterschiedlichem neuronalem Aktivitätsniveau ausgleicht und lokale "Schaltkreise" stabilisiert.

Neuroplastizität

Subanästhetisches Ketamin hat rasche und lang anhaltende antidepressive Wirkungen. Das neuroplastische Narrativ der Mechanismen schließt die Aktivierung von bei Erwachsenen entstandenen unreifen Neuronen, die zellspezifische transkriptionale Regulation und astrogliale Plastizität ein.

Pharmakokinetik von Ketamin

Nach intravenöser Gabe erreicht Ketamin innerhalb von einer Minute die maximale Plasmakonzentration. Bei nasaler Gabe wird der maximale Effekt bei etwa 50 % Bioverfügbarkeit nach 20 Minuten erreicht. Die Bioverfügbarkeit nach oraler Gabe beträgt aufgrund der First-Pass-Elimination etwa 20 % und nach rektaler Gabe etwa 25 %.

Ketamin hat eine hohe Lipidlöslichkeit und eine geringe Plasmaproteinbindung. Die Eliminationshalbwertszeit der schnellen α-Phase beträgt wenige Minuten, die der langsamen β-Phase 2-3 Stunden. Ketamin wird in der Leber durch mikrosomale Enzyme metabolisiert, wobei multiple aktive Metaboliten entstehen. 90 % des intravenös applizierten Ketamins sind nach 5 Tagen aus dem Organismus eliminiert.

Klinische Anwendungen von Ketamin

Anästhesie und Schmerztherapie

Ketamin wird in der Narkosemedizin und Schmerzbehandlung eingesetzt. Es bietet die Vorteile analgetischer und anästhetischer Effekte ohne kardiorespiratorische Depression. Laryngopharyngeale Schutzreflexe bleiben weitgehend erhalten. Ketamin ist besonders geeignet für Patienten mit schweren Traumen, starken Schmerzen und Kreislaufinstabilität.

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Behandlung therapieresistenter Depressionen

Ketamin hat sich als wirksames Antidepressivum in der Behandlung einer therapieresistenten Depression und anderer schwerer neuropsychiatrischer Störungen bewährt. Esketamin zur intranasalen Anwendung wurde 2019 von der FDA und der EMA zugelassen. Der rasche Wirkbeginn von Ketamin ist relativ einzigartig unter den klinischen Antidepressiva, wobei es kurz- und langfristige Effekte aufweist.

Ketamin kann auch bei Suizidalität, Angst-, anhedonischen oder bipolaren Störungen, PTBS, Ess- und Zwangsstörungen, Depressionen bei malignen Erkrankungen sowie in der Alkohol-, Cannabis-, Heroin- und Kokainsuchtbehandlung sehr hilfreich sein. Es wird als ein resilienzerhöhendes Mittel zur Stressprophylaxe untersucht.

Weitere Anwendungsgebiete

Weitere Anwendungsgebiete von Ketamin umfassen:

  • Therapieresistenter Status Asthmatikus
  • Schmerzbehandlung in der Notfallmedizin und bei kurzfristigen Diagnoseverfahren
  • Multimodale Regime zur Reduktion akuter Opioidtoleranzphänomene
  • Reduktion postoperativer Schmerzchronifizierung
  • Behandlung von Krampfanfällen (auch therapieresistenten Formen)
  • Clusterkopfschmerz
  • Chronische Migräne
  • Fibromyalgie
  • Komplexes regionales Schmerzsyndrom (CRPS)

Dosierung und Anwendung

Der Wirkstoff wird ausschließlich durch Fachpersonal angewendet. Die Dosierung beträgt bei der Schmerzbehandlung 0,25 bis ein Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. Zur Narkoseeinleitung werden bei intravenöser Gabe ein bis zwei Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht benötigt, bei intramuskulärer Gabe vier bis sechs Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht.

Für die Behandlung therapieresistenter Depressionen wird der Nasenspray beginnend mit 28 oder 56 Milligramm in der ersten Woche, auf maximal 84 Milligramm zweimal wöchentlich im ersten Monat dosiert. Anschließend erfolgt eine Erhaltungstherapie mit maximal 84 Milligramm einmal wöchentlich bis zur neunten Woche, gefolgt von einer etwaigen Dosisreduktion auf maximal 84 Milligramm alle zwei Wochen.

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Nebenwirkungen und Risiken

Der Wirkstoff Ketamin ruft bei zehn bis 30 Prozent der Behandelten Träume und Halluzinationen hervor. Weiterhin kommt es häufig zu einem Anstieg des Blutdrucks, der Herzfrequenz und des Speichelflusses. Bei der Anwendung als Nasenspray treten häufig Schwindel, Übelkeit, Müdigkeit, Benommenheit, Erbrechen und erhöhter Blutdruck auf. Patienten werden deshalb nach der Verabreichung für eine gewisse Zeit nachbeobachtet.

Gegenanzeigen

Ketamin darf nicht angewendet werden bei:

  • Bluthochdruck oder Schilddrüsenüberfunktion
  • Erhöhtem intrakraniellem Druck (Hirndruck)
  • Gleichzeitiger Anwendung von Xanthinderivaten wie Theophyllin (bei Asthma)
  • Gleichzeitiger Anwendung mit Ergometrin

Bei Herz-Kreislauf-Problemen, schweren psychischen Problemen, erhöhtem Augeninnendruck sowie erhöhtem Hirndruck sollte Ketamin nur nach strenger ärztlicher Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden.

Wechselwirkungen

Bei einer gleichzeitigen Anwendung von anderen Medikamenten können Wechselwirkungen auftreten. Schilddrüsenhormone und sogenannte Sympathomimetika können die Nebenwirkungen von Ketamin verstärken (Blutdrucksteigerung). Ketamin kann die Wirkung und Nebenwirkungen von Opioiden und Opiaten verstärken, was zu verstärkten Effekten auf das zentrale Nervensystem führen kann beziehungsweise das Risiko für eine Atemdepression erhöht. Auch die Wirkung von neuromuskulären Blockade-Hemmstoffen kann verstärkt werden.

Ketamin wird über das Enzym CYP3A4 abgebaut. Wirkstoffe, die dieses Enzym blockieren, können eine Dosisreduktion von Ketamin erforderlich machen. Umgekehrt kann bei Gabe von CYP3A4-Induktoren eine Dosiserhöhung notwendig werden.

Langzeitrisiken

Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass häufiger Ketamin-Konsum zu Gehirnveränderungen führen kann. Eine wissenschaftliche Übersichtsarbeit mit Daten von 440 chronisch Konsumierenden deutet auf strukturelle Veränderungen im Gehirn hin, wobei diese umso ausgeprägter waren, je länger und intensiver der Konsum stattfand.

Wichtige Hinweise

Nach einer Narkose mit Ketamin sollten Patienten mindestens 24 Stunden nicht aktiv am Straßenverkehr teilnehmen oder schwere Maschinen bedienen, da der Wirkstoff das Reaktionsvermögen stark beeinträchtigen kann. Nach einer ambulanten Operation sollte man sich nur in Begleitung nach Hause begeben.

Das Ketamin-Nasenspray ist nur für Erwachsene ab 18 Jahren zugelassen. Die Sicherheit und Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren ist nicht erwiesen.

Es liegen bisher nur unzureichende Daten zur Anwendung von Ketamin bei Schwangeren vor. Vor der Anwendung wird daher der Arzt den individuellen Nutzen gegen das bestehende Risiko abwiegen. Der Wirkstoff geht laut Studien an Tieren in die Muttermilch über, jedoch scheint eine Wirkung auf den Säugling bei therapeutischen Dosismengen unwahrscheinlich.

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