Die klinisch-neurologische Untersuchung ist ein grundlegender Bestandteil der neurologischen Diagnostik. Sie ermöglicht es Ärzten, wertvolle Informationen über den Zustand des Nervensystems zu gewinnen und eine Verdachtsdiagnose zu stellen oder eine Arbeitshypothese zu formulieren. Dieses Wissen ist entscheidend, um unnötige diagnostische Prozeduren zu vermeiden und die richtige Behandlung einzuleiten. Um neurologische Untersuchungstechniken erfolgreich anzuwenden, spielen regelmäßige Trainings und eine verständliche, systematische Anleitung eine entscheidende Rolle.
Dieser Artikel bietet eine umfassende Anleitung zu klinisch-neurologischen Untersuchungstechniken, die sowohl für Einsteiger als auch für erfahrene Ärzte von Nutzen sein kann. Er stützt sich auf das Fachbuch "Klinisch-neurologische Untersuchungstechniken" von Peter Urban und weitere Quellen, um eine detaillierte und praxisnahe Darstellung zu gewährleisten.
Bedeutung der klinisch-neurologischen Untersuchung
Eine gute Anamnese und eine sorgfältige klinische Untersuchung ermöglichen es erfahrenen Ärzten, bei mindestens zwei Dritteln der Patienten eine wegweisende Verdachtsdiagnose oder eine tragfähige Arbeitshypothese zu stellen. Dies ist besonders wichtig, da bildgebende und neurophysiologische Techniken zwar weit verbreitet sind, das persönliche "Handanlegen" aber nicht ersetzen können. Die klinisch-neurologische Untersuchung ermöglicht eine individuelle Zuwendung zum Patienten und liefert wichtige Hinweise auf die zugrunde liegende Erkrankung.
Systematisches Vorgehen
Um Fehler zu vermeiden und alle relevanten Aspekte zu berücksichtigen, ist es ratsam, sich von Anfang an eine bestimmte Systematik und Reihenfolge anzueignen - sowohl bei der Anamnese als auch bei der klinischen Befunderhebung. Ein solches Vorgehen stellt sicher, dass man nicht zu früh einer ersten diagnostischen Hypothese nachgeht und andere relevante Aspekte ausblendet, wodurch man vielleicht die richtige Diagnose verpasst. Je strukturierter die Anamnese, desto größer ist auch die Übereinstimmung der Beurteiler.
Anamnese
Die Anamnese ist ein wichtiger Bestandteil der klinisch-neurologischen Untersuchung. Sie dient dazu, Informationen über die Krankengeschichte des Patienten, seine aktuellen Beschwerden und weitere relevante Faktoren zu sammeln. Die Anamnese sollte in einem separaten Raum in ruhiger Atmosphäre erfolgen, um eine ungestörte Kommunikation zu ermöglichen. Der Arzt sollte dem Patienten keinen "gehetzten" Eindruck vermitteln oder signalisieren, dass ein Zeitdruck bei der Anamneseerhebung besteht. Anamnesen in Notfallsituationen (z.B. bei einem Schlaganfall) sind von solchen Erwägungen natürlich ausgenommen.
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Eigenanamnese
Die Reihenfolge der Eigenanamnese lautet wie folgt:
- Aktuelle Beschwerden
- Vorerkrankungen
- Medikamentenanamnese
- Familienanamnese
- Sozialanamnese
Es ist ratsam, die Durchsicht schriftlicher Vorbefunde vor der Erhebung der eigenen Anamnese auf ein Minimum zu beschränken, um eine unnötige Beeinflussung oder Vorfestlegung zu vermeiden. Auch ist immer eine kritische Auseinandersetzung mit externen Befunden notwendig, z.B. durch eigene Inaugenscheinnahme radiologischen Bildmaterials.
Hauptbeschwerden ermitteln
Beginnen Sie immer mit den Hauptbeschwerden und fragen Sie den Patienten, welche Beschwerden ihn zu Ihnen führen. Nur dies ermöglicht eine freie Schilderung der Beschwerden durch den Patienten und vermeidet eine vorzeitige Beeinflussung durch den Untersucher. Zudem fühlt sich der Patient entlastet und ernst genommen. Bei weitschweifigen Schilderungen ist es natürlich notwendig einzugreifen und den Patienten auf die aktuellen Beschwerden zurückzuführen. In dieser Situation kann z.B. die Frage gestellt werden: „Welche Ihrer Beschwerden belastet Sie am meisten?“ Es kann hilfreich sein, die geschilderten Beschwerden abschnittsweise mit eigenen Worten zusammenzufassen und vom Patienten bestätigen zu lassen: „Habe ich Sie richtig verstanden, dass folgende Symptome Ihre Hauptbeschwerden darstellen?“ Selbstverständlich soll sich der Untersucher um eine dem Patienten angemessene klare und verständliche Ausdrucksweise bemühen und medizinische Fachausdrücke vermeiden oder erläutern. Im Laufe des Gesprächs fragen Sie gezielt nach Ihnen bekannten Symptomen, die zu Ihrer Verdachtsdiagnose passen bzw. erfragen Sie immer auch andere Symptome, die diese Verdachtsdiagnose widerlegen würden.
Beispiel:
- Fragen Sie bei Verdacht auf Morbus Parkinson nach Einschränkungen des Geruchsempfindens einseitigem Beginn mit Zittern einer Hand und kleiner werdender Schrift Hinweisen auf eine REM-Schlafverhaltensstörung mit lautem nächtlichen Aufschreien und Um-sich-schlagen
- Fragen Sie aber auch nach subjektivem Restharngefühl nach dem Wasserlassen Urininkontinenz frühzeitig im Krankheitsverlauf aufgetretenen Schwindelbeschwerden bei zu raschem Aufstehen Stürzen
Die zuletzt genannten Angaben würden gegen die Annahme eines Morbus Parkinson und für eine Multisystematrophie vom Parkinson-Typ sprechen. Je mehr Sie über das mutmaßlich vorliegende Krankheitsbild wissen, umso eher sind Sie in der Lage, gezielte Fragen nach bestimmten Symptomen zu stellen. Symptome, die der Patient nicht spontan berichtet, die aber dennoch vorliegen. Dadurch fasst der Patient Vertrauen in Ihre diagnostischen Fähigkeiten und erlangt das Gefühl, an der „richtigen Stelle“ zu sein. Der Patient sollte auch durch den Tonfall und die Körperhaltung des Untersuchers vermittelt bekommen, dass diesem der Patient und seine Sorgen wichtig sind. Dazu gehört auch, dass man eine möglichst ruhige Untersuchungsatmosphäre schafft, ohne ständiges Klingeln des Telefons. Zeigen Sie durch Ihr Auftreten und Ihre Zuwendung Ihr Interesse an den Problemen des Patienten. Achten Sie auf das eigene nonverbale Verhalten (z.B. zunehmende direktive Haltung gegenüber antriebsgestörten Patienten). Verzichten Sie auf Werturteile oder sonstige Kommentierungen (verbal oder nonverbal). Nachdem der Patient seine Beschwerden frei geschildert hat, ist es meist notwendig weitere differenzierende Fragen nach den Symptomen zu stellen. Diese beinhalten Folgendes: zeitliche Dynamik Stärke Lokalisation Art Begleiterscheinungen Beeinflussbarkeit der Symptome
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Zeitliche Dynamik
Wichtig bei der Eigenanamnese ist die Erfassung der zeitlichen Dynamik (Dauer, Verlauf) der Beschwerden. Diese können unterschiedlich auftreten:
- akut (von einer Sekunde auf die andere; Beispiel: Schlaganfall)
- sich subakut über Stunden entwickelnd (Beispiel: periphere Fazialisparese)
- stotternd (Beispiel: Neuritis nervi vestibularis)
- sich langsam progredient entwickelnd (Beispiel: zunehmende Hemiparese bei einem Tumor)
Dabei sollte nach dem Lebensalter zu Erkrankungsbeginn (einige Erkrankungen sind in einem bestimmten Lebensalter unwahrscheinlich) und der Art der ersten Symptome gefragt werden, die eine differenzialdiagnostische Zuordnung ermöglichen (Beispiel: einseitiger Tremor bei Morbus Parkinson). Von Bedeutung ist auch die Frage, ob die aktuellen Beschwerden schon früher einmal aufgetreten sind. Bei immer gleicher Symptomatik kann dies z.B. an eine Anfallserkrankung mit identischer Symptomatik denken lassen.
Fremdanamnese
Die Fremdanamnese wird bei Patienten erhoben, die selbst nicht in der Lage sind, Auskunft zu geben (z.B. bei Bewusstseinsstörungen, Demenz oder Sprachstörungen). In diesem Fall werden Angehörige oder andere Bezugspersonen befragt.
Klinische Untersuchungstechniken
Nach der Anamnese erfolgt die klinische Untersuchung. Diese umfasst verschiedene Bereiche, die systematisch untersucht werden:
Inspektion
Die Inspektion beginnt bereits beim Betreten des Zimmers und umfasst die Beobachtung des Patienten in Ruhe und bei Bewegung. Geachtet wird auf:
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- Allgemeinzustand und Ernährungszustand
- Hautfarbe und -beschaffenheit
- Körperhaltung und Bewegungsabläufe
- Auffälligkeiten im Gesicht (z.B. Asymmetrien, Lidfehlstellungen)
- Sprache und Artikulation
- Bewusstseinszustand und Orientierung
Untersuchung der Hirnnerven
Die Untersuchung der Hirnnerven ist ein wichtiger Bestandteil der neurologischen Untersuchung. Jeder der zwölf Hirnnerven wird einzeln geprüft, um Funktionsstörungen zu erkennen.
Nervus olfactorius (I)
Der Nervus olfactorius ist der Riechnerv. Die Prüfung erfolgt durch Vorhalten verschiedener Geruchsstoffe (z.B. Kaffee, Zitrone) unter die Nase des Patienten, wobei ein Nasenloch zugehalten wird.
Nervus opticus (II)
Der Nervus opticus ist der Sehnerv. Die Prüfung umfasst:
- Visusprüfung (Sehschärfe) mit Sehzeichen
- Gesichtsfeldprüfung (Konfrontationsperimetrie)
- Funduskopie (Betrachtung des Augenhintergrunds)
Nervus oculomotorius (III), Nervus trochlearis (IV) und Nervus abducens (VI)
Diese drei Nerven steuern die Augenbewegungen. Die Prüfung umfasst:
- Beobachtung der Pupillenweite und -reaktion auf Licht
- Prüfung der Augenbeweglichkeit in alle Richtungen
- Untersuchung auf Doppelbilder (Diplopie)
- Prüfung auf Nystagmus (unwillkürliche Augenbewegungen)
Nervus trigeminus (V)
Der Nervus trigeminus ist ein gemischter Nerv, der sowohl sensible als auch motorische Funktionen hat. Die Prüfung umfasst:
- Prüfung der Sensibilität im Gesicht (Stirn, Wange, Kinn) mit einem Wattebausch und einer Nadel
- Prüfung des Cornealreflexes (Blinzelreflex bei Berührung der Hornhaut)
- Prüfung der Kaumuskulatur (Masseter und Temporalis)
Nervus facialis (VII)
Der Nervus facialis ist der Gesichtsnerv. Die Prüfung umfasst:
- Beobachtung der Gesichtsmimik (z.B. Stirnrunzeln, Lidschluss, Mundwinkelbewegung)
- Prüfung des Geschmacks auf der vorderen Zungenhälfte
- Prüfung der Speichel- und Tränenproduktion
Nervus vestibulocochlearis (VIII)
Der Nervus vestibulocochlearis ist der Hör- und Gleichgewichtsnerv. Die Prüfung umfasst:
- Hörprüfung (z.B. mit einer Stimmgabel oder einem Audiometer)
- Gleichgewichtsprüfung (z.B. Romberg-Test, Unterberger-Tretversuch)
Nervus glossopharyngeus (IX) und Nervus vagus (X)
Diese beiden Nerven werden meist zusammen geprüft, da sie ähnliche Funktionen haben. Die Prüfung umfasst:
- Prüfung des Gaumenbogens und der Uvula (beim Sprechen und Schlucken)
- Prüfung des Würgereflexes
- Beobachtung der Stimme (Heiserkeit?)
Nervus accessorius (XI)
Der Nervus accessorius steuert die Muskeln Trapezius und Sternocleidomastoideus. Die Prüfung umfasst:
- Prüfung der Kraft des Musculus trapezius (Schulterheben gegen Widerstand)
- Prüfung der Kraft des Musculus sternocleidomastoideus (Kopfdrehung gegen Widerstand)
Nervus hypoglossus (XII)
Der Nervus hypoglossus ist der Zungennerv. Die Prüfung umfasst:
- Beobachtung der Zunge in Ruhe und bei Bewegung (z.B. Herausstrecken, seitliche Bewegung)
- Prüfung auf Zungenatrophie oder Faszikulationen (unwillkürliche Muskelzuckungen)
Motorische Untersuchung
Die motorische Untersuchung umfasst die Beurteilung der Muskelkraft, des Muskeltonus, der Reflexe und der Koordination.
Muskelkraft
Die Muskelkraft wird nach der Medical Research Council (MRC) Skala eingeteilt:
- 0 = Keine Muskelkontraktion
- 1 = Sichtbare oder tastbare Muskelkontraktion, aber keine Bewegung
- 2 = Bewegung möglich, aber nicht gegen die Schwerkraft
- 3 = Bewegung gegen die Schwerkraft möglich, aber nicht gegen Widerstand
- 4 = Bewegung gegen Widerstand möglich, aber schwächer als normal
- 5 = Normale Muskelkraft
Muskeltonus
Der Muskeltonus wird durch passive Bewegung der Gelenke beurteilt. Er kann normal, erhöht (Spastik, Rigor) oder vermindert (Hypotonie) sein.
Reflexe
Die Reflexe werden mit einem Reflexhammer ausgelöst und beurteilt. Es werden sowohl Muskeleigenreflexe (MER) als auch Fremdreflexe geprüft.
Muskeleigenreflexe (MER)
- Bizepssehnenreflex (C5/6)
- Trizepssehnenreflex (C7)
- Brachioradialisreflex (C6)
- Patellarsehnenreflex (L3/4)
- Achillessehnenreflex (S1/2)
Fremdreflexe
- Bauchhautreflexe (Th10-12)
- Kremasterreflex (L1/2)
- Plantarreflex (S1/2)
Ein pathologischer Plantarreflex (Babinski-Zeichen) ist ein wichtiger Hinweis auf eine Schädigung der Pyramidenbahn.
Koordination
Die Koordination wird durch verschiedene Tests geprüft:
- Finger-Nase-Versuch
- Knie-Hacke-Versuch
- Diadochokinese (schnelle, wechselseitige Bewegungen)
Sensible Untersuchung
Die sensible Untersuchung umfasst die Prüfung verschiedener Qualitäten der Sensibilität:
- Oberflächensensibilität (Berührung, Schmerz, Temperatur)
- Tiefensensibilität (Vibration, Lagesinn)
Untersuchung der Hirnleistung
Die Untersuchung der Hirnleistung umfasst die Beurteilung von:
- Bewusstsein und Vigilanz
- Orientierung (örtlich, zeitlich, personell)
- Aufmerksamkeit und Konzentration
- Gedächtnis (Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis)
- Sprache (Verständnis, Sprachproduktion)
- Exekutiven Funktionen (Planung, Problemlösung)
- Visuell-räumliche Funktionen
Zur Beurteilung der Hirnleistung können verschiedene standardisierte Tests eingesetzt werden, z.B. der Mini-Mental-Status-Test (MMST) oder der Montreal Cognitive Assessment (MoCA).
Vegetative Funktionen
Die Untersuchung der vegetativen Funktionen umfasst die Beurteilung von:
- Blutdruck und Herzfrequenz
- Atmung
- Schweißsekretion
- Blasen- und Darmfunktion
- Sexuelle Funktion
Spezielle Untersuchungstechniken
Neben den genannten Basisuntersuchungen gibt es eine Reihe von speziellen Untersuchungstechniken, die je nach Fragestellung eingesetzt werden können. Dazu gehören z.B.:
- Provokationstests bei Schwindel (z.B. Dix-Hallpike-Test)
- Untersuchung auf Meningismus (z.B. Nackensteifigkeit, Kernig-Zeichen, Brudzinski-Zeichen)
- Untersuchung auf extrapyramidale Syndrome (z.B. Tremor, Rigor, Akinese)
- Untersuchung auf zerebelläre Ataxie (z.B. Gangbild, Standunsicherheit, Dysarthrie)
- Elektrophysiologische Untersuchungen (z.B. EEG, EMG, NLG)
- Bildgebende Verfahren (z.B. CT, MRT)
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