Neurogenese: Neubildung von Nervenzellen im Gehirn – Ein Überblick

Die Neurogenese, die Neubildung von Nervenzellen, ist ein faszinierender Prozess, der unser Verständnis vom Gehirn und seiner Plastizität revolutioniert hat. Lange Zeit galt es als Dogma, dass im erwachsenen Gehirn keine neuen Nervenzellen mehr entstehen. Doch seit Ende der 1990er-Jahre mehren sich die Beweise für das Gegenteil. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Neurogenese, von den beteiligten Mechanismen bis hin zu den potenziellen Auswirkungen auf Gesundheit und Krankheit.

Die Grundlagen der Neurogenese

Die Neurogenese ist der Prozess, bei dem neue Nervenzellen im Gehirn gebildet werden. Dabei teilen sich sogenannte neurale Stammzellen, die sich zu Nervenzellen weiterentwickeln können. Dieser Prozess findet vor allem in der embryonalen Entwicklung statt. Im Erwachsenenalter befinden sich die meisten Stammzellen dagegen im Ruhezustand. Nur gelegentlich werden sie aktiviert und beginnen sich zu teilen, um neue Nervenzellen zu bilden. Welche Mechanismen diese Aktivierung beeinflussen, ist noch nicht vollständig geklärt.

Wo findet Neurogenese statt?

Belegt ist die Neurogenese aus dem Bulbus olfactorius (Riechkolben) und dem Hippocampus, einer Struktur, die für Lern- und Gedächtnisvorgänge wichtig ist. Im erwachsenen Gehirn von Säugetieren kommen Nervenstammzellen nur in bestimmten Bereichen vor, den sogenannten Stammzellnischen. Nur in diesen Nischen können neue Nervenzellen gebildet werden. Neuronale Stammzellen wandern von der subventrikulären Zonen zum Riechkolben.

Die Rolle des Proteins Yap1

Forscherinnen und Forscher des Instituts für Physiologische Chemie der Unimedizin Mainz haben ein neues Schlüsselprotein identifiziert, das die Neubildung von Nervenzellen im Gehirn reguliert: das Protein Yap1. Sie fanden heraus, dass Yap1 ein Jekyll- und Hyde-Protein ist, also eine Doppelrolle hat. Es aktiviert auf der einen Seite die Bildung von neuen Nervenzellen. Bei einer Überaktivierung könnte es auf der anderen Seite aber dazu beitragen, dass Stammzellen im Gehirn sich in Krebszellen entwickeln.

Neurogenese im Erwachsenenalter

Bis Ende der 1990er-Jahre hielt sich das Dogma, dass im Gehirn von Erwachsenen keine neuen Nervenzellen mehr entstehen könnten und dass sich die Zahl der Neurone im Laufe des Lebens permanent verringert. Doch 1998 gelang es dem schwedischen Forscher Thomas Björk-Eriksson von der Universität Göteborg erstmals, die Neubildung von Nervenzellen bei Erwachsenen nachzuweisen. Er untersuchte das Gehirn von verstorbenen Krebspatienten, die radioaktiv markierte DNA-Bausteine injiziert bekommen hatten, um das Tumorwachstum verfolgen zu können. Im Gehirn der Patienten befanden sich markierte Neurone, was belegte, dass auch im hohen Alter noch neue Hirnzellen entstanden waren.

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Bedeutung für Lernen und Gedächtnis

Vermutlich entstehen neue Nervenzellen vor allem bei Beanspruchung der entsprechenden Hirnregionen. So stimulieren fremde Gerüche die Neurogenese im Riechkolben und neue Eindrücke führen zur Bildung von Nervenzellen im Hippocampus. Bleiben Lernreize und Anregungen aus, gehen die neu entstandenen Hirnzellen jedoch wieder zu Grunde und reifen nicht zu funktionstüchtigen Neuronen heran. Daher wirken sich geistige Aktivitäten wie Lesen, Lernen oder Puzzeln ebenso wie soziale Kontakte mit Freunden, Kindern, Enkeln oder Kunden positiv auf die kognitiven Fähigkeiten aus.

Die neugeborenen Neurone im adulten Gyrus dentatus werden innerhalb weniger Wochen vollständig ins hippocampale Netzwerk integriert. Inwiefern diese besondere Form struktureller Plastizität die Informationsverarbeitung im Hippocampus beeinflusst, kann heute nicht zweifelsfrei beantwortet werden. Bisherige Untersuchungen deuten darauf hin, daß die neu geborenen Nervenzellen eine wichtige Rolle bei der räumlichen Orientierung und der Mustererkennung („pattern separation“) spielen. Es wird vermutet, daß sie zur Aufrechterhaltung kognitiver Flexibiliät, also der Integration neuer Gedächtnisinhalte mit bereits bestehende und ohne Zerstörung dieser, beitragen.

Einfluss von körperlicher Aktivität

Auch körperliche Betätigung lässt Neurone wachsen. In Versuchen mit Ratten konnten Forscher um Fred Gage am Salk-Institut in La Jolla nachweisen, dass körperliche Aktivität in einer abwechslungsreichen Umgebung mit Laufrädern und Kletterwänden die Neurogenese fördert. Tiere, die sich so betätigen konnten, bildeten deutlich mehr Neurone aus, als Ratten in kleinen Laborkäfigen. Der zu Grunde liegende Mechanismus ist vermutlich, dass körperliche Aktivität die Konzentration von Wachstumsfaktoren im Blut erhöht. So steigt der Spiegel von VEGF (vascular endothelial growth factor) nach sportlicher Betätigung an. Dieses kann die Blut-Hirn-Schranke überwinden und im Gehirn die Neurogenese stimulieren.

Sport beeinflusst anscheinend schon die Gehirnentwicklung von Feten im Mutterleib. Mäusejunge, deren Mütter während der Trächtigkeit im Laufrad trainierten, bildeten 40 Prozent mehr Nervenzellen im Hippocampus aus als Nachkommen von trägen Müttern. Eine wichtige Rolle scheint dabei der Wachstumsfaktor FGF-2 (fibroblast growth factor 2) zu spielen. Bewegung erhöht die Konzentration von FGF-2, das über die Plazenta-Schranke in den Nachwuchs gelangen kann.

Neurogenese und Erkrankungen

Eine stark verminderte Zahl neugebildeter und heranreifender Neurone, unabhängig vom Lebensalter der Betroffenen, könnte ein Marker für Hirnerkrankungen sein. Im Vergleich zu den Hirngesunden fanden sich bei den Alzheimer-Patienten konstant mehrere Zehntausend neue Hirnzellen weniger. Sie wiesen zudem noch im Schnitt einen vergleichsweise geringeren Reifegrad auf.

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Neurogenese und Glioblastom

In ersten vorklinischen Untersuchungen haben die Mainzer Forscherinnen und Forscher gemeinsam mit Wissenschaftler/-innen vom King’s College London sowie von der Friedrich-Alexander-Universität Nürnberg-Erlangen gezeigt, dass neurale Stammzellen mehr Yap1 herstellen als alle anderen Zellen. Die Inaktivierung von Yap1 führte dazu, dass auch zunehmend weniger Stammzellen aktiviert wurden. Durch die Aktivierung von Yap1 wurden dagegen die inaktiven Stammzellen stimuliert, sich zu teilen und neue Nervenzellen zu bilden. Bei einer Überaktivierung von Yap1 wurden allerdings vermehrt Proteine gebildet, die mit dem sogenannten Glioblastom in Verbindung gebracht werden. Dabei handelt es sich um eine Hirntumorart, die schnell wächst und sehr aggressiv ist.

Neurogenese im Alter stimulieren?

„Wir konnten erstmals zeigen, dass das Protein Yap1 maßgeblich an der Aktivierung neuraler Stammzellen beteiligt ist. Unsere Erkenntnisse können es ermöglichen, neuartige Wege zu finden, um die Neurogenese zu stimulieren. Dadurch könnte die Gedächtnis- und Lernfähigkeit des Gehirns im Alter aufrechterhalten werden“, erläutert Univ.-Prof. Dr. Benedikt Berninger, Arbeitsgruppenleiter am Institut für Physiologische Chemie der Universitätsmedizin Mainz. Wissenschaftler*innen des Exzellenzclusters für Alternsforschung CECAD an der Universität zu Köln haben entdeckt, wie Mitochondrien die Zellerneuerung und die neuronale Plastizität im Gehirn der erwachsenen Maus steuern.

Mitochondrien und Neurogenese

Die Forschungsgruppe um Professor Dr. Matteo Bergami vom Exzellenzcluster für Alternsforschung CECAD an der Universität zu Köln untersuchte diese Prozesse anhand von Mausmodellen mithilfe von Bildgebung, Signalverfolgung mit Viren, und elektrophysiologischen Techniken. Sie fanden heraus, dass bei der Reifung neuer Neuronen die Mitochondrien (die Kraftwerke der Zellen) entlang der Dendriten sich zunehmend durch Fusion verbinden und dadurch länglichere Formen bilden. Dieser Prozess ist entscheidend für die Aufrechterhaltung der Plastizität neuer Synapsen und die Anpassung bereits bestehender neuronaler Netze als Reaktion auf komplexe Erfahrungen.

Die Ergebnisse von Bergami und seinem Team deuten darauf hin, dass das Tempo der mitochondrialen Fusion in den Dendriten die neuronale Plastizität der neuen Nervenzellen steuert, nicht aber deren Reifung an sich. Zudem deuten sie darauf hin, dass die Fusion eine viel komplexere Rolle als bisher angenommen bei der Kontrolle der synaptischen Funktion und ihrer Fehlfunktion bei Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson spielen kann.

Neue Therapieansätze

Pharmaunternehmen suchen derzeit nach Substanzen, die eine Neubildung von Nervenzellen stimulieren und somit den Untergang von Neuronen ausgleichen könnten. Entsprechende Wirkstoffe befinden sich aber noch in der präklinischen Phase der Entwicklung. Das Wissen über Unterschiede im Proteom von neurogenen und nicht-neurogenen Hirnregionen ist sehr wichtig. Es könnte dabei helfen, Wege zu finden, um eine nicht-neurogene Region künftig mit der Fähigkeit zur Neurogenese auszustatten. Ebenso wichtig ist es, eine gute Umgebung für die Integration neuer Nervenzellen in der Großhirnrinde für eine Zellersatztherapie zu generieren, indem man Faktoren aus dem Riechkolben, wo ständig neue Nervenzellen integriert werden, aktiviert.

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