Lange Zeit galt es als unumstößliches Dogma in der Medizin: Nervenzellen, anders als die meisten anderen Gewebe, sind nach der Geburt nicht mehr teilungsfähig und können sich nicht vermehren. Doch die moderne Neuroforschung hat dieses Bild grundlegend verändert. Inzwischen ist zweifelsfrei nachgewiesen, dass Nervenzellen sehr wohl in der Lage sind, sich zu teilen und zu erneuern, auch wenn die Menge an neu entstehenden Zellen im Vergleich zur Gesamtzahl der Nervenzellen eher gering ist. Die Frage nach der Bedeutung dieses "Nachwuchses" für die Funktion des Gehirns beschäftigt die Wissenschaftler weiterhin.
Neurogenese im erwachsenen Gehirn: Ein Paradigmenwechsel
Die Vorstellung, dass das Gehirn eines Erwachsenen keine neuen Nervenzellen mehr produzieren kann, wurde durch die Entdeckung der Neurogenese im erwachsenen Gehirn widerlegt. Forscher wiesen nach, dass im Nervengewebe Zellen aus Stammzellen nachwachsen und sich in die Umgebung integrieren können. Besonders aktiv ist diese Neubildung in zwei spezifischen Hirnregionen: dem Riechhirn und dem Hippocampus.
Gerd Kempermann vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin betont: "Gemessen an der Gesamtzahl an Nervenzellen ist die Menge an neuen Zellen eher gering, aber bezogen auf diese Regionen sind die Zuwächse durchaus interessant. Die Frage lautet daher, ob auch wenige neue Zellen einen funktionellen Unterschied bedeuten."
Der Hippocampus im Fokus der Forschung
Die Forschung konzentriert sich besonders auf den Hippocampus, eine Hirnstruktur tief im Schläfenlappen, die als "Eintrittspforte in das Gedächtnis" gilt. Hier werden Wahrnehmungen verarbeitet und für die Langzeitspeicherung vorbereitet.
Die ursprüngliche Vermutung, dass die nachwachsenden Zellen direkt an der Speicherung von Erinnerungen beteiligt sind, wurde jedoch relativiert. Kempermann erklärt: "Das kann nicht sein, denn eine Nervenzelle wächst erst über mehrere Wochen heran. Wenn ein Reiz das auslösen würde, um so abgespeichert zu werden, würden vier Wochen vergehen, bis so eine Erinnerung geschaffen würde. Das kann einfach nicht sein."
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Dennoch spielen die neuen Nervenzellen eine Rolle beim Lernen und Gedächtnis. Experimente mit Mäusen, bei denen die Neubildung von Nervenzellen durch Krebsmedikamente unterdrückt wurde, zeigten, dass diese Tiere Schwierigkeiten hatten, sich Orte in ihrer Umgebung zu merken.
Einfluss von Umwelt und Aktivität
Die Neuroforschung untersucht intensiv, welche Bedingungen die Entstehung neuer Neuronen im Gehirn beeinflussen. Ein überraschendes Ergebnis: Bereits geringe körperliche Aktivität fördert die Neubildung von Nervenzellen. Dieser Effekt verstärkt sich, wenn die Umgebung anregend ist, beispielsweise durch Verstecke und soziale Interaktion mit Artgenossen. Unter solchen anspruchsvollen Umweltbedingungen ist der Hippocampus gefordert, die vielfältigen Eindrücke zu verarbeiten.
Kempermann vermutet, dass der Hippocampus als "aktives Filter" fungiert, das verhindert, dass neue Informationen mit bereits vorhandenen kollidieren und diese überschreiben. Die Integration neuer Schaltstellen in das bestehende Netzwerk könnte dazu beitragen, Daten in ihrer chronologischen Reihenfolge auseinanderzuhalten und das Netzwerk langfristig an neue Anforderungen anzupassen.
Regeneration von Nervenzellen: Ein komplexes Unterfangen
Während die Neurogenese die Neubildung von Nervenzellen beschreibt, bezieht sich die Regeneration auf die Reparatur und Wiederherstellung beschädigter Nervenzellen. Diese Fähigkeit ist im zentralen Nervensystem (ZNS) von Erwachsenen stark eingeschränkt. Schädigungen an Rückenmark oder Gehirn, beispielsweise durch Unfälle oder Schlaganfälle, sind oft irreparabel. Auch Krankheiten wie das Glaukom (Schädigung des Sehnervs) oder Multiple Sklerose (Schädigung der Myelinscheiden) führen zu irreversiblen Nervenzellschäden.
Voraussetzungen für die Regeneration
Damit eine Nervenzelle regenerieren kann, müssen mehrere komplexe Prozesse gleichzeitig ablaufen:
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- Überleben des Zellkörpers: Der Zellkörper der Nervenzelle muss trotz der Durchtrennung des Axons am Leben erhalten werden.
- Proteinproduktion: Die Zelle muss Proteine produzieren, die das Wachstum des Axons ermöglichen.
- Beseitigung von Wachstumshemmern: Wachstumshemmende Faktoren müssen beseitigt oder die Signalwege im Wachstumskegel so verändert werden, dass sie unempfindlich gegenüber diesen Hemmstoffen sind.
- Zielfindung des Axons: Das Axon muss beim Wachstum sein ursprüngliches Zielgebiet wiederfinden.
- Synapsenbildung: Es müssen stabile Synapsen mit anderen Nervenzellen ausgebildet werden.
- Myelinisierung: Das Axon muss wieder von einer Myelinscheide umhüllt werden.
Herausforderungen bei der Therapieentwicklung
Die Entwicklung von Therapien zur Förderung der Nervenzellregeneration ist äußerst komplex. Ein vielversprechender Ansatz, die Unterdrückung eines bestimmten Proteins, birgt das Risiko der Tumorentstehung, da dieses Protein in anderen Zellen die Entstehung von Krebs verhindert.
Nach einem Schlaganfall kann die gesunde Seite des Gehirns neue Verknüpfungen zum geschädigten Bereich aufbauen und so einen Teil der verlorenen Funktion kompensieren. Die Unterstützung solcher Prozesse könnte ein schneller realisierbarer Therapieansatz sein. Schwieriger gestaltet sich die Regeneration nach Sehnervschädigungen oder bei Querschnittslähmung.
Hemmende Faktoren der synaptischen Übertragung
Eine Studie des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) liefert Hinweise darauf, dass die Unfähigkeit adulter Nervenzellen zur Regeneration eng mit ihrer Fähigkeit zur Kommunikation zusammenhängt. Die Forscher fanden heraus, dass zwei Proteine, Munc13 und RIMs, die für die synaptische Übertragung zwischen Nervenzellen entscheidend sind, das Auswachsen von Zellfortsätzen verhindern. Diese Proteine befinden sich im "präsynaptischen Endknöpfchen", dem äußersten Ende eines Axons, und sind am "Vesikel-Priming" beteiligt, einem Prozess, der zur Freisetzung von Neurotransmittern führt.
Experimente, bei denen diese Proteine aktiviert und deaktiviert wurden, zeigten, dass Munc13 und RIMs die Regeneration von Nervenzellen hemmen. Die Forscher vermuten, dass Mechanismen, die die synaptische Übertragung und insbesondere das präsynaptische Endknöpfchen betreffen, die neuronale Regeneration verhindern.
Baclofen als möglicher Therapieansatz
Die Studie untersuchte auch, ob eine Abschwächung der synaptischen Übertragung das Wachstum von Axonen fördern könnte. Mäusen mit einer Rückenmarksläsion wurde das Medikament Baclofen verabreicht, das die Erregbarkeit von Nervenzellen und die synaptische Übertragung verringert. Die Behandlung mit Baclofen regte tatsächlich das Wachstum und die Regeneration von Axonen im verletzten Rückenmark an.
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Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Baclofen möglicherweise nicht nur Muskelkrämpfe und unbeschädigte Nervenzellen beeinflusst, sondern auch die Regeneration geschädigter Nervenzellen verbessern könnte.
Die Rolle der Vorläuferzellen bei der Gehirnentwicklung
Die Größe des Gehirns und die Anzahl der Nervenzellen darin variieren stark zwischen verschiedenen Säugetieren. Im Laufe der menschlichen Evolution haben sich die Größe des Gehirns und die Anzahl der Nervenzellen, insbesondere im Neokortex (dem Sitz der höheren kognitiven Fähigkeiten), erheblich vergrößert.
Nervenzellen entstehen aus neuralen Vorläuferzellen. Eine größere Anzahl von Vorläuferzellen bedeutet mehr Nervenzellen und ein größeres Gehirn. Basale Vorläuferzellen wurden als wesentlicher Motor für die Expansion des Neokortex identifiziert.
Die Form bestimmt die Vermehrungsfähigkeit
Forscher des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden haben einen Mechanismus identifiziert, der die Vermehrungsfähigkeit dieser Vorläuferzellen beeinflusst: die Form der Zellen. Menschliche basale Vorläuferzellen haben mehr Zellfortsätze als die von Mäusen und Frettchen. Das Protein PALMDELPHIN, das sich auf der Innenseite der Zellmembran befindet, ermöglicht das Wachstum zusätzlicher Zellfortsätze.
Experimente zeigten, dass die Einführung von menschlichem PALMDELPHIN in den embryonalen Neokortex von Mäusen und Frettchen zu einer Zunahme der Zellfortsätze und einer verstärkten Vermehrung der basalen Vorläuferzellen führte. Umgekehrt führte die Hemmung der PALMDELPHIN-Produktion in fötalem menschlichen neokortikalen Gewebe zu einer Reduzierung der Anzahl der Zellfortsätze und der Vermehrung der basalen Vorläuferzellen.
Diese Ergebnisse zeigen, dass die Form einer Vorläuferzelle ihre Vermehrungsfähigkeit beeinflusst und somit zur evolutionären Expansion des Neokortex beiträgt.
Schutz von Nervenzellen: Ein neuer Ansatz
Da sich Nervenzellen im reifen Zustand nicht mehr teilen können, ist es entscheidend, sie vor Schädigungen zu schützen. Bochumer Forschende haben einen neuen Weg zum Schutz von Nervenzellen entwickelt, indem sie einen in anderen Körperzellen für Krebserkrankungen verantwortlichen Mechanismus umkehrten.
Die Rolle des RAS-Proteins
Das RAS-Protein spielt eine wichtige Rolle bei der Zellteilung und dem Überleben von Zellen. Bei Fehlregulation durch Mutation wird RAS dauerhaft aktiviert und somit zu einem Onkogen.
Die Forscher fanden heraus, dass die dauerhafte Aktivierung des RAS-Proteins in Nervenzellen in Tiermodellen einer Maus die krankhafte Degeneration von Nervenzellen im Gehirn verhindert. In der an der Ruhr-Universität entwickelten RAS-Maus ist selektiv in Nervenzellen des Gehirns zusätzlich zum normalen RAS-Protein ein dauerhaft angeschaltetes RAS-Protein vorhanden.
Identifizierung eines Membrankanals
Um den Mechanismus der Neuroprotektion aufzuklären, identifizierten die Forscher ein auffällig herabreguliertes Protein im Gehirn der RAS-Maus: einen Membrankanal. Sie konnten zeigen, dass die Reduzierung über den MAPK-Signalweg vermittelt wird.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass der Kanal in der äußeren Zellmembran ein relevantes Target für die Optimierung neuroprotektiver Anwendungen im klinischen Umfeld darstellt.
Lernen und Gedächtnis: Synaptische Plastizität als Grundlage
Unser Gehirn verarbeitet Sinneswahrnehmungen, koordiniert Bewegungen und Verhaltensweisen und speichert komplexe Informationen. Lernen basiert auf einer spezifischen Verstärkung von bestimmten Synapsen, an denen die Signalübertragung durch biochemische und strukturelle Modifikationen erleichtert wird (Langzeitpotenzierung und synaptische Plastizität). Plastische Synapsen verändern ihre Struktur und ihre Übertragungseigenschaften, was die Grundlage für Lern- und Gedächtnisprozesse ist. Manchmal bilden sich beim Lernen neue Synapsen oder nicht mehr gebrauchte Synapsen werden abgebaut.
Der Hippocampus als Schaltstelle
Wie gut wir lernen und uns etwas merken können, ist von Faktoren wie Aufmerksamkeit, Motivation und Belohnung abhängig. Im Gehirn gibt es keinen zentralen Ort, an dem Informationen gespeichert werden, aber der Hippocampus ist eine zentrale Schaltstelle für viele Gedächtnisinhalte.
Die Rolle der Gehirnflüssigkeit bei der Erneuerung von Stammzellen
Eine aktuelle Arbeit zeigt, dass der Fluss der Gehirnflüssigkeit zur Erneuerung von Stammzellen führen kann. Neuronale Stammzellen im Gehirn können sich teilen und zu Nervenzellen weiterentwickeln. Diese Neubildung von Nervenzellen ist wichtig für die Gehirnfunktion.
ENaC als Schlüsselmolekül
Die Forscher fanden heraus, dass das Molekül ENaC (epithelialer Natriumkanal) eine zentrale Rolle bei diesem Prozess spielt. ENaC ist ein Kanalprotein auf der Zelloberfläche, durch das Natriumionen ins Innere hineinströmen können. Im Versuchsmodell konnten die Forscher zeigen, dass sich die Stammzellen nicht mehr teilen konnten, sobald ihnen ENaC fehlte. Umgekehrt fördert eine stärkere ENaC-Funktion die Teilung der Zellen, zum Beispiel wenn die Strömung der Flüssigkeit erhöht wird.
Weitere Tests ergaben, dass die Funktion von ENaC durch Scherkräfte gesteigert wurde, die durch das Hirnwasser auf die Zellen ausgeübt werden. Die mechanische Reizung führt zu einer verstärkten und längeren Öffnung des Kanalproteins und erlaubt so den Einstrom von Natriumionen in die Zelle, die dadurch in der Folge zur Teilung angeregt wird.
Stammzellen und Differenzierung: Ein reversibler Prozess?
Das Forschungsteam von Ana Martin-Villalba vom DKFZ verfolgte die Stammzellen auf ihrem Entwicklungsweg zu ausgereiften Nervenzellen, den Neuronen. Die Forscher fanden heraus, dass Stammzellen ihre Stammzellgene nicht abschalten, sondern einfach auf Standby setzen. Um in diesen Standby-Modus zu gelangen und so den Entwicklungsweg zu einem Neuron zu starten, fahren Stammzellen das als „TOR“ bezeichnete innere Signal zurück, das sie anregt, sich zu teilen und zu vermehren.
Das "Rückflugticket" der Stammzellen
Die Forscher fanden auch heraus, dass Stammzellen immer mit einem „Rückflugticket“ reisen. Durch Ein- oder Ausschalten von TOR können die Zellen sich vom Stammzellstadium zum Neuron oder wieder zurück entwickeln. Im Normalfall verläuft die Reise von der Stammzelle in Richtung Nervenzelle. Wenn Stammzellen ihr TOR-Signal nicht richtig kontrollieren können, treten sie immer wieder die Rückreise an in Richtung Stammzellen, was langfristig die Gefahr der Entstehung von Hirntumoren birgt.
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