Die Debatte um die Auswirkungen digitaler Medien auf unsere kognitiven Fähigkeiten ist vielschichtig und komplex. Insbesondere die These der "Digitalen Demenz", populär gemacht durch den Neurowissenschaftler Manfred Spitzer, hat eine breite öffentliche Diskussion ausgelöst. Dieser Artikel beleuchtet die Kritik an Spitzers Thesen und stellt alternative Perspektiven vor.
Spitzers These der Digitalen Demenz
Manfred Spitzer, ein Neurowissenschaftler und Psychiater, argumentiert in seinem Buch "Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen", dass der übermäßige Gebrauch digitaler Medien zu einer Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten führt. Er behauptet, dass digitale Medien süchtig machen und dumm machen, was zu Gedächtnisverlust, Konzentrationsschwäche, Aufmerksamkeitsstörungen, Ängsten, Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und sozialem Abstieg führen kann. Spitzer fordert eine Beschränkung des Medienkonsums, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Er geht sogar so weit zu sagen: „Computer bringen uns und unsere Kinder um den Verstand.“
Ein Schüler einer Medien-AG äußerte sich kritisch zu Spitzers Thesen. Er wies darauf hin, dass Klischees wie "Computerspiele machen uns zu Amokläufern!" oder "Ballerspiele machen uns aggressiv!" oft unbegründet sind. Der Schüler zitierte Spitzer mit den Worten, dass "Baller- und Gewaltspiele aller Art […] komplett verboten werden" sollten und dass digitale Medien uns "verblöden" würden, da man ja alles googeln könne.
Spitzer geht davon aus, dass Computer dem Lernen hinderlich sind, "weil sie uns geistige Arbeit abnehmen". Diese Aussage ist jedoch pauschal nicht richtig. Natürlich kann die Nutzung von Computern dem Lernen schaden, wenn man beispielsweise ChatGPT als Möglichkeit nutzt, keine Hausaufgaben mehr erledigen zu müssen. Genauso können jedoch Computer das Lernen auch unterstützen. Wenn ich einen Aufsatz am Computer schreibe, halte ich mich nicht unnötig lange mit dem Schreiben auf (Tippen am Computer geht häufig wesentlich schneller als von Hand) und habe mehr Zeit, mich mit dem Inhalt zu beschäftigen. Außerdem kann ich das Ergebnis Freunden schicken, die mir Verbesserungsvorschläge geben können.
Kritik an Spitzers Thesen
Spitzers Thesen sind jedoch nicht unumstritten. Viele Experten kritisieren seine pauschalen Aussagen, seine selektive Auswahl von Studien und seine alarmistische Darstellung der Auswirkungen digitaler Medien.
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Methodische Mängel und selektive Studienauswahl
Ein zentraler Kritikpunkt ist Spitzers Umgang mit wissenschaftlichen Studien. Kritiker werfen ihm vor, Studien aus dem Zusammenhang zu reißen, Korrelationen mit Kausalitäten zu verwechseln und Ergebnisse überzubewerten. So kritisiert er beispielsweise den Fernsehkonsum und dessen angeblichen Zusammenhang mit einer schlechten Bildungskarriere, wobei er Armut als mögliche Ursache außer Acht lässt. Zudem werden Studien des umstrittenen KFN anstelle der renommierten JIM-Studie des MPFS zitiert.
Auch die Beispiele, die Spitzer zur Untermauerung seiner Argumentation heranzieht, werden kritisiert. So verweist er auf Fußröntgengeräte aus den 1970er Jahren, die sich im Nachhinein als schädlich erwiesen haben, um zu zeigen, dass technischer Fortschritt nicht immer segensreich ist. Dieses Beispiel ist jedoch irrelevant für die Diskussion um digitale Medien und dient lediglich dazu, eine allgemeine Skepsis gegenüber neuen Technologien zu schüren.
Vernachlässigung der positiven Aspekte digitaler Medien
Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass Spitzer die positiven Aspekte digitaler Medien weitgehend ausblendet. Digitale Medien bieten zahlreiche Möglichkeiten zur Bildung, Kommunikation, Kreativität und sozialen Teilhabe. Sie ermöglichen den Zugang zu Informationen, fördern die Zusammenarbeit und bieten neue Formen des Lernens.
Im Projekt „mobiles Lehren und Lernen mit Wikis und Tablets“ wird das Internet aktiv in Schule und Lernen eingebunden. Das bedeutet nicht - wie bei Spitzer -, „kurz und oberflächlich etwas zu recherchieren“. Es geht um kritisch-analytische, verantwortungsvolle und konstruktive Mediennutzung. Die Lernenden erstellen Content auf der schuleigenen Wikiplattform. Sie arbeiten auf Blogs projekt-, produktorientiert und selbstbestimmt zusammen. So werden Fakten in einen fachlichen Zusammenhang gestellt und durch konkrete Praxis und Produktion besser verinnerlicht. Als Ausgangsbasis erhalten die Lerngruppen zum Beispiel Links zu Texten, YouTube-Videos, Bildern oder Audiobeispielen, die durch die Lehrenden auf der Wikiplattform für die jeweilige Stunde oder Unterrichtsreihe bereitgestellt werden. Mit dem von Spitzer zelebrierten oberflächlichen Überfliegen und Kopieren hat dies nichts gemeinsam.
Der Begriff der "Digitalen Demenz" ist irreführend
Der Begriff "Digitale Demenz" selbst wird von vielen Experten als irreführend und alarmistisch kritisiert. Demenz ist eine medizinische Diagnose, die einen krankhaften Verlust kognitiver Fähigkeiten beschreibt. Es gibt keine wissenschaftlichen Beweise dafür, dass die Nutzung digitaler Medien zu einer ähnlichen Form von Demenz führt. Der Begriff suggeriert jedoch eine solche Verbindung und schürt unnötige Ängste.
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Einseitige Betrachtung und fehlende Differenzierung
Spitzer wird vorgeworfen, eine einseitige Betrachtung der Thematik vorzunehmen und die komplexen Zusammenhänge zwischen Mediennutzung und kognitiver Entwicklung zu vereinfachen. Er differenziert nicht zwischen verschiedenen Arten der Mediennutzung, sondern behandelt alle digitalen Medien pauschal als schädlich. Zudem vernachlässigt er individuelle Unterschiede in der Medienkompetenz und den Nutzungsgewohnheiten.
Alternative Perspektiven: Medienkompetenz statt Abstinenz
Anstelle von pauschalen Verboten und Beschränkungen fordern viele Experten einen verantwortungsvollen Umgang mit digitalen Medien. Medienkompetenz ist der Schlüssel, um die Chancen digitaler Medien zu nutzen und ihre Risiken zu minimieren. Kinder und Jugendliche müssen lernen, Medien kritisch zu hinterfragen, Informationen zu bewerten und sich vor schädlichen Inhalten zu schützen.
Förderung der Medienkompetenz
Medienpädagogik sollte in Schulen und Familien gefördert werden, um Kindern und Jugendlichen einen kompetenten Umgang mit digitalen Medien zu vermitteln. Dazu gehört, die Funktionsweise von Medien zu verstehen, kritisch mit Inhalten umzugehen, Risiken zu erkennen und sich verantwortungsvoll in der digitalen Welt zu bewegen. Das baden-württembergische Kultusministerium schließt härtere Regeln für die Schulen nicht aus, will vorher aber Experten anhören. "Wir behalten uns anschließend ausdrücklich eine stärkere Regelung im Schulgesetz zu Verboten vor", sagte ein Sprecher von Ministerin Theresa Schopper (Grüne). "Denn wir sehen, dass die Bildungswissenschaften zunehmend zu einem restriktiven Umgang raten, was die sozialen Medien betrifft. Gleichzeitig gilt es, die verschiedenen Interessen in einen Ausgleich zu bringen."
Einbindung der Eltern
Eltern spielen eine wichtige Rolle bei der Vermittlung von Medienkompetenz. Sie sollten sich mit den digitalen Medien auseinandersetzen, die ihre Kinder nutzen, und mit ihnen über Chancen und Risiken sprechen. Es ist wichtig, Regeln für die Mediennutzung aufzustellen, aber auch Freiräume zu lassen, damit Kinder und Jugendliche ihre eigenen Erfahrungen sammeln können. Schopper will dafür sorgen, dass Kinder durch den "Mediendschungel" geleitet werden. Schon ab Klassenstufe fünf soll ab dem nächsten Schuljahr Medienkompetenz auf dem Lehrplan stehen. Generell sieht Schopper vor allem Lehrer und Eltern in der Pflicht, weniger die Politik. Sie müssten sich die Frage stellen, wie viele Stunden in den sozialen Medien für die Kinder in Ordnung sei.
Aktive und kreative Mediennutzung
Es ist wichtig, Kinder und Jugendliche zu einer aktiven und kreativen Mediennutzung zu ermutigen. Anstatt nur passiv Inhalte zu konsumieren, sollten sie lernen, selbst Inhalte zu erstellen, sich auszutauschen und an Projekten mitzuwirken. Dies fördert ihre Kreativität, ihre Kommunikationsfähigkeiten und ihr Selbstbewusstsein. Genau hier liegt aber das pädagogische Potenzial: Dass Schüler lernen, Inhalte produktiv und ihren individuellen Fähigkeiten entsprechend zu gestalten. Dabei selbstbestimmt vorzugehen und sich auch Fragen, Ziele und Antworten selbst zu stellen.
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Kritische Auseinandersetzung mit Spitzers Thesen im Unterricht
Die Auseinandersetzung mit Spitzers Thesen kann auch im Unterricht stattfinden. Schülerinnen und Schüler können lernen, seine Argumentation zu analysieren, seine Beispiele zu hinterfragen und alternative Perspektiven zu entwickeln. Dies fördert ihre Fähigkeit zum kritischen Denken und zur Medienkompetenz.