Die Diagnose Demenz stellt Betroffene und Angehörige vor immense Herausforderungen. Weltweit leben Millionen Menschen mit dieser Erkrankung, allein in Deutschland sind es aktuell rund 1,8 Millionen. Glücklicherweise gibt es Möglichkeiten, den Krankheitsverlauf zu verlangsamen und die Lebensqualität der Betroffenen zu verbessern. Eine dieser Möglichkeiten ist die Kunsttherapie.
Was ist Kunsttherapie?
Kunsttherapie ist eine therapeutische Richtung, in der das künstlerische Gestalten und Kreativität bewusst dazu genutzt werden, um Gedanken und Gefühle über Materie statt Worte zum Ausdruck zu bringen. Sie ermöglicht es, körperliche, geistige oder seelische Erkrankungen positiv zu beeinflussen. Malen, Zeichnen und Gestalten, was den meisten Menschen als Kindern Freude macht, ist auch im Alter eine Beschäftigung, die viele Vorteile bringt. Bei der Kunsttherapie geht es darum, sich durch kreative Mittel auszudrücken. Hierzu zählt vor allem die Malerei. Grundlage der Therapieform ist die Tatsache, dass über die kreative Beschäftigung neue Zugänge zum psychischen Zustand erschlossen werden.
Wie kann Kunsttherapie bei Demenz helfen?
Kunsttherapie kann bei Demenz helfen, indem sie:
Emotionen weckt und Ausdruck verleiht: Kunst ruft Emotionen hervor. Die Patienten erleben häufig einen sogenannten Flow-Zustand, bei dem sie völlig in ihrer Tätigkeit aufgehen. Kunsttherapie ermöglicht Demenzkranken auch, ihre Gefühle auszudrücken, ohne dabei die richtigen Worte finden zu müssen. Die Therapie beruhigt, wenn Erkrankte durch ihre Demenz emotional aufgewühlt sind.
Kommunikation fördert: Kunsttherapie hilft Menschen mit Demenz, sich auszudrücken, zu kommunizieren und mit der Umwelt zu interagieren. Das geschieht oft auch auf nonverbale Weise. Das gemeinsame Betrachten von Bildern oder Museumsbesuche regen außerdem Gespräche an - sogar bei Menschen, die sonst kaum noch verbal kommunizieren. Studien des Frankfurter Projekts ARTEMIS zeigen z.B. eine Verbesserung der Kommunikation zwischen Demenzpatienten und ihren Bezugspersonen.
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Erinnerungen aktiviert: Kreatives Gestalten weckt Erinnerungen, selbst wenn das Kurzzeitgedächtnis gestört ist. Farben und Motive sprechen tieferliegende Gedächtnisbereiche an. Das Zentrum für Bilder und Kunstempfinden im Gehirn bleibt bei Demenz länger intakt als das für Kurzzeitgedächtnis - Kunst kann daher dort andocken und Zugänge schaffen, die äußerst lebensbereichernd wirken. Tatsächlich zeigen Erfahrungsberichte aus Malgruppen in Pflegeheimen, dass Senioren durch Malen Erinnerungen aus der Vergangenheit aktivieren - etwa zu Themen wie Kinderzeit oder Weihnachten - und sich dadurch nützlich und wertgeschätzt fühlen. Beim Sehen, Tasten, Riechen, Malen und Hantieren werden Erinnerungen an die Kindheit, Familie, Freunde, den Beruf wachgerufen. Verloren geglaubte Kenntnisse können wieder zu Tage treten und stärken nicht nur Denken und Orientierung, sondern auch das Selbstwertgefühl.
Fähigkeiten und Ressourcen wiederentdeckt: Verloren geglaubte Fähigkeiten und Ressourcen werden wiederentdeckt. Anfangs geht das Malen vielleicht eher schleppend voran. Mit der Zeit entstehen oft ausgefeiltere Bilder. Möglicherweise beginnen die Patienten sogar wieder zu schreiben und versehen ihr Werk mit einer Botschaft. Kunst fördert auch Tätigkeiten, die im ersten Blick nichts damit zu tun haben.
Selbstbewusstsein stärkt: Ein Bild ist immer ein Erfolg, den man zeigen und auf den man stolz sein kann.
Soziale Kontakte ermöglicht: Schließlich bietet die Kunsttherapie auch die Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen und sich mit anderen Gruppenmitgliedern auszutauschen. Kunsttherapie in der Gruppe fördert das soziale Miteinander. Die Patienten erleben sich als Teil einer Gemeinschaft, was Isolation entgegenwirkt.
Entspannung und Lebensfreude schenkt: Viele Demenzpatienten finden im Malen eine Ruhe-Oase im stressigen Pflegealltag. Die Kunsttherapie ist vor allem dazu geeignet, betroffenen Senioren eine Möglichkeit zur Freude und Entspannung zu schaffen, bei der sie dennoch kreativ tätig werden. Beim Malen oder Zeichnen kommen Demenzkranke zu sich, stehen aber dennoch nicht unter Leistungsdruck. Vielfach entdecken Betroffene auch verborgene Talente oder alte Hobbies neu. Das ist auch dann der Fall, wenn die Erkrankung schon weiter fortgeschritten ist.
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Unruhe und Aggression reduziert: Studienbeobachtungen bestätigen, dass apathische (teilnahmslose) Patienten durch Kunstangebote aktiviert werden, während sehr unruhige oder aggressive Patienten ruhiger werden.
Will man den fortschreitenden Abbau geistiger Fähigkeiten bei Demenz eindämmen, muss man die noch vorhandenen fördern. Kunsttherapie eignet sich dafür besonders gut, da sie den Menschen mit allen seinen Sinnen anspricht.
Wie läuft eine Kunsttherapie-Sitzung ab?
Die Kunsttherapie wird in der Regel durch ausgebildete Therapeut*innen für Gruppen angeboten. Sitzungen finden einzeln oder in Gruppen statt. Häufig finden die Sitzungen einmal wöchentlich in Gruppen statt, z.B. im Seniorenheim, in Tagespflege-Einrichtungen oder in gerontopsychiatrischen Kliniken. Typisch ist eine Dauer von 45 bis 90 Minuten pro Einheit, angepasst an Konzentrationsspanne und Belastbarkeit der Teilnehmer.
Eine qualifizierte Kunsttherapeut*in leitet die Gruppe. Hier arbeiten Therapeuten mit Sinnesreizen. Demenzkranke spüren den Ton auf ihrer Haut oder die Leinwand unter ihren Fingern, riechen die Farbe, hören vielleicht die Musik im Hintergrund. Es werden verschiedene Materialien bereitgestellt (Papier, Leinwand, Pinsel, Schwämme, Ton, Holz etc.), oft auch thematische Impulse gegeben.
Typischerweise beginnt eine Stunde mit einer Begrüßungsrunde und vielleicht einem kleinen Aufwärmritual. Die Teilnehmer können selbst entscheiden, wie und was sie gestalten. Frei oder nach Vorlagen? Skulpturen erschaffen oder Bilder malen? Viele Therapeuten haben gute Erfahrungen gemacht, wenn sie Aquarell-Bilder mit Demenzkranken gemalt haben. Sie beobachten die Patienten während der Sitzung, geben Hilfestellungen und gehen auf Gefühlsausbrüche ein. Denn künstlerisches Schaffen drückt Stimmungen aus und ruft Emotionen hervor. Nicht immer sind diese positiv.
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Zum Abschluss werden die entstandenen Werke häufig in der Runde gezeigt und besprochen. Keinesfalls wird kritisch beurteilt! Im Vordergrund steht die Freude an den unterschiedlichen Ergebnissen. Viele Einrichtungen hängen die Bilder anschließend in den Flur oder veranstalten sogar Ausstellungen, sodass die Senioren ihren Werken noch mehr Wertschätzung erfahren.
Wer kann von Kunsttherapie profitieren?
Besonders wirksam ist die kreative Therapieform bei Betroffenen, die sich noch nicht in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Krankheit befinden. Allerdings wirkt die kreative Therapieform auch auf Menschen in fortgeschrittenen Stadien beruhigend. Grundsätzlich kann sie in allen Demenzphasen versucht werden. Aber auch im mittleren Stadium profitieren viele - hier steht dann eher die Entspannung und Beschäftigung im Vordergrund. Selbst im fortgeschrittenen Stadium kann kreatives Tun beruhigend wirken. Wichtig ist immer, die Tagesform zu berücksichtigen - an einem schlechten Tag kann schon das Dabeisitzen und Zuschauen ein Erfolg sein.
Kann man Kunsttherapie auch zu Hause anwenden?
Nicht nur ausgebildete Therapeut*innen können kreative Aktivitäten anbieten - auch pflegende Angehörige und Betreuer in Heimen können Elemente der Kunsttherapie in den Alltag integrieren. Legen Sie z.B. regelmäßig einen „Malnachmittag“ ein. Stellen Sie Papier und Farben auf den Tisch, vielleicht ein paar alte Fotos oder Postkarten als Anregung, und malen Sie zusammen drauflos. Es geht nicht darum, Kunstwerke zu schaffen, sondern gemeinsam eine schöne Aktivität zu haben. Ein wenig Hintergrundmusik kann die Stimmung heben - wählen Sie bekannte Lieder, die der Person gefallen. Legen Sie Malkittel oder Schürzen bereit, damit Kleckse nicht stören.
Wichtig: keine Bewertung und kein Druck. Loben Sie ehrlich („Das ist aber ein fröhliches Bild!“) und vermeiden Sie Verbesserungsversuche („Die Proportionen stimmen nicht…“ o.Ä.). Dicke Malkreiden oder Filzstifte liegen oft besser in der Hand als dünne Bleistifte. Auch das Ausmalen vorgedruckter Mandalas oder Bilder kann beruhigend wirken, wenn freies Malen zu überfordernd ist. Schlagen Sie z.B. vor, gemeinsam etwas zum Thema „Früher Weihnachten bei uns“ zu zeichnen, oder „Haustiere, die wir hatten“. Solche Inhalte verankern das kreative Tun in vertrauten Gefilden. Oft kommen währenddessen Geschichten oder Anekdoten zum Vorschein, die dem Demenzkranken ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Halten Sie ggf. Nicht jeder Tag ist gleich. Vielleicht klappt es morgen besser. Loben Sie jeden noch so kleinen Fortschritt. Freuen Sie sich über das gemeinsame Erlebnis, auch wenn das Bild abstrakt oder simpel ausfällt.
Durch solche einfachen Ansätze kann auch zu Hause eine Art kreative Betreuung stattfinden. Angehörige berichten, dass Malen zu zweit eine ganz neue Qualität in den Kontakt bringt: Man kann nebeneinandersitzen, Pinselstriche austauschen, ab und zu lachen - ohne viele Worte, aber in inniger Verbundenheit.
Was muss man bei der Kunsttherapie beachten?
Jeder kann malen, basteln, töpfern und gestalten. Patienten benötigen weder eine Ausbildung, noch spezielles Talent oder Vorkenntnisse. In der Kunsttherapie geht es einzig darum, dass Menschen mit Demenz etwas erschaffen. Sie begegnen sich selbst und nutzen Kunst, um auf ihre individuelle Art zu kommunizieren. Dabei ist es nicht wichtig, wie gut die Bilder, Skulpturen und sonstigen Werke werden. Es gibt nur eine einzige Voraussetzung: Dem Patienten macht es Spaß, künstlerisch zu gestalten. Ist das bei Ihren Angehörigen der Fall? Dann ist Kunsttherapie eine gute Möglichkeit, Demenz hinauszuzögern.
Die Atmosphäre im Kunsttherapie-Raum ist bewusst entspannt und druckfrei, was sich positiv auf das Verhalten auswirkt. Es entstehen manchmal überraschend ausdrucksstarke Bilder. Dieses Erfolgserlebnis steigert das Selbstbewusstsein.
Kritik und Forschung
Zwar zeigen klinische Studien bislang keine eindeutige Verbesserung der Gedächtnisleistung durch Kunsttherapie, doch belegen zahlreiche Erfahrungsberichte und Pilotprojekte Verbesserungen des Wohlbefindens und der Lebensqualität.
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