Die Erkenntnis, dass Liebe und Zuwendung einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns haben, ist nicht neu. Neu ist jedoch, wie diese Erkenntnisse in der Pädagogik und im Umgang mit Kindern angewendet werden können. Dieser Artikel beleuchtet die Forschungsergebnisse zum Thema "Liebe lässt Gehirne wachsen" und stellt praktische Ansätze vor, wie Erzieher und Eltern eine positive Bindungsentwicklung fördern können. Dabei wird insbesondere auf die Bedeutung von Präsenz, Resonanz und Feinfühligkeit eingegangen.
Die neurobiologischen Grundlagen: Wie Liebe das Gehirn formt
Studien haben gezeigt, dass Liebe und Zuwendung das Gehirn von Kindern tatsächlich wachsen lassen. So wurde beispielsweise festgestellt, dass der Hippocampus bei Kindern mit starker elterlicher Zuwendung um bis zu 10 Prozent größer sein kann als bei Kindern, die weniger Zuwendung erfahren. Ein größerer Hippocampus korreliert mit größerem Glück, Stabilität und Selbstbewusstsein. Liebevolle Eltern investieren viel Zeit, Kraft und Geld in die Beziehung zu ihren Kindern. Es zeigte sich jedoch, dass bei einer einseitigen Bildungsorientierung die bindungsorientierte Pädagogik in den Hintergrund gerät.
Die Forschung zeigt, dass Verliebtsein mit neuronaler Aktivität in Hirnbereichen verbunden ist, die für Belohnung, Motivation, Emotionen sowie sexuelles Verlangen und Erregung zuständig sind. Ein "Cocktail" aus Neurochemikalien, darunter Oxytocin und Dopamin, wird freigesetzt und beeinflusst unser Verhalten und unsere Wahrnehmung. Diese Hormone sorgen dafür, dass soziale Reize - wie der oder die Geliebte - stärker wahrgenommen werden.
Bindungstheorie: Die Basis für eine gesunde Entwicklung
Die Bindungstheorie spielt eine zentrale Rolle im Verständnis, wie liebevolle Beziehungen die Entwicklung prägen. Eine sichere Bindung, die durch Verlässlichkeit und Geborgenheit gekennzeichnet ist, ermöglicht es Kindern, Urvertrauen zu entwickeln und die Welt angstfrei zu erkunden. Dipl.-Päd. Corinna Scherwath betont in ihrem Buch "Liebe lässt Gehirne wachsen", dass eine stabile Entwicklung nicht durch Leistungsfähigkeit geprägt wird, sondern durch ein sicheres Bindungsempfinden, das stärkt und schützt.
Scherwath definiert im zweiten Kapitel ihres Buches die Begriffe Erziehung, Beziehung und Bindung und stellt klar: Es gibt keine Erziehung ohne Beziehung. Sie beschreibt, wie der Übergang von der Erziehung zur Beziehung gelingen kann und beleuchtet die Fachkraft-Kind-Beziehung im Hinblick auf die Entwicklung einer sicheren Bindung.
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Bindungsstile und ihre Auswirkungen
Scherwath stellt dem Modell einer sicheren Bindung vier weitere Bindungstendenzen gegenüber:
- die unsicher-vermeidende Bindungstendenz - „Ich schaff' das schon alleine!“
- die unsicher-ambivalente Bindungstendenz - „Ich weiß nicht, was ich von dir zu erwarten habe!“
- die unsicher-abhängige Bindungstendenz - „Keine Angst, ich bleibe lieber bei dir!“
- die desorganisierte Bindung - „Ich fürchte dich!“.
Sie kommt zu dem Schluss, dass Menschen auf Bindungstraumatisierungen mit der Strategie reagieren: „Ich tue alles, um zu überleben!“
Bindungsorientierte Pädagogik in der Praxis
Ausgehend von der These, dass der aktuelle Anspruch der Gesellschaft an die Frühpädagogik primär ein "Bildungsanspruch" ist, plädiert der Praxistitel dafür, eine einseitige Bildungsorientierung selbstbewusst zu hinterfragen und wieder verstärkt auf eine bindungsorientierte Pädagogik zu setzen. Für die positive kindliche Entwicklung sind stabile Bindungen und Beziehungen also unerlässlich - diese in Kita und Krippe aktiv fördern zu wollen, kann wertvoller Kompass in der täglichen Arbeit von Erzieherinnen und Erziehern sein. Dies ist umso dringlicher, da viele Kinder mehr wache Stunden an der Seite pädagogischer Fachkräfte verbringen als in ihrer eigenen Familie.
Wie eine positive Bindungsentwicklung im pädagogischen Alltag gestützt werden kann, wird anhand verschiedener Ansätze aufgezeigt, z. B. Präsenz, Resonanz und Feinfühligkeit. Anhand vieler Fallbeispiele und Handlungsempfehlungen wird immer der Praxisbezug zum Kita-Alltag hergestellt und z. B. aufgezeigt, wie der Blickkontakt als frühes und zentrales Bindungselement aktiv genutzt werden kann.
Präsenz: "Ich bin da"
Präsenz bedeutet faktische und emotionale Verfügbarkeit. Es geht darum, dem Kind zu signalisieren: "Ich bin da für dich, ich sehe dich, ich höre dir zu." Dies beinhaltet:
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- Blickkontakt: Der Blickkontakt ist ein frühes und zentrales Bindungselement.
- Körperkontakt: Die Nähe und Berührung vermitteln Geborgenheit und Sicherheit.
- Feinfühligkeit: Die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen und angemessen darauf reagieren.
Resonanz: "Ich fühle mit dir"
Resonanz bedeutet, sich in die Gefühlswelt des Kindes einzufühlen und darauf einzugehen. Es geht darum, die Emotionen des Kindes zu spiegeln und ihm das Gefühl zu geben, verstanden zu werden. Scherwath führt den Begriff der „Resonanz“ als zentralen Begriff ein.
Feinfühligkeit: "Ich verstehe dich"
Feinfühligkeit bedeutet, die Signale des Kindes richtig zu interpretieren und angemessen darauf zu reagieren. Es geht darum, die Entwicklungsbedürfnisse und -aufgaben des Kindes zu erkennen und es in seiner Entwicklung zu unterstützen.
Kinder brauchen Kinder: Bindungsorientiertes Arbeiten in der Peer-Group
Kapitel fünf erläutert das bindungsorientierte Arbeiten in der Peer-Group. Notwendig ist eine vorbildliche Haltung für das Leben von Diversität, denn es ist normal, verschieden zu sein!
Schwierige Situationen: Verbunden bleiben
Die Kapitel sechs und sieben beleuchten, wie es gelingen kann, in schwierigen Situationen verbunden zu bleiben, dieser Ansatz wird mit der Aussage „Liebe mich am meisten, wenn ich es am wenigsten verdiene“ zusammengefasst. Vorhandene Regeln sind stets daraufhin zu reflektieren, ob sie wirklich alles regeln. Die Autorin versteht Regeln als Aspekt von Beziehung und sie schließt hier mit der Frage an, ob Kinder Grenzen brauchen. Ein bindungsorientierter Umgang mit starken Emotionen und Impulsivität hat Wirkung, das Unterkapitel trägt den Titel „wenn die Wellen hochschlagen“. Einen besonderen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die Wiederherstellung von Einstimmigkeit, denn „Auf Regen folgt Sonnenschein!“ Dieses Kapitel endet mit Bindungsansätzen für bindungsverletzte Kinder.
Die Rolle der Persönlichkeit: Selbstkompetenzen für Fachkräfte
Mit den Wirkfaktoren Persönlichkeit setzt die Autorin sich im letzten achten Kapitel auseinander. Persönlichkeit ist eine Voraussetzung für bindungsorientiertes Arbeiten, es braucht bindungsrelevante Selbstkompetenzen, gemeint ist eine Bereitschaft zur Nähe, Freundlichkeit und Herzlichkeit, Empathie und Mitgefühl, Großzügigkeit und Gnade. Bezugspersonen brauchen Selbstkenntnis zur Bedeutung der eigenen Biografie im Bindungsgeschehen, auch spielen positive Selbstüberzeugungen eine wesentliche Rolle. Dazugehörig ist die Selbstfürsorge im Sinne einer guten Bindung zu sich selbst. Eine ressourcenorientierte Lebensweise sichert die Basis, Kraftquellen sind zu nutzen und Strategien zur Selbstregulation einzusetzen wie z.B. das tiefe Durchatmen und bis zehn zählen. Zugrunde liegt die Erkenntnis, dass eine stabile Entwicklung nicht durch die Leistungsfähigkeit eines Menschen geprägt wird, stärkend und schützend für den Menschen ist ein sicheres Bindungsempfinden.
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Kritik und Ergänzungen
Die Betrachtung der Frage, wie Eltern heute mit ihren Kindern umgehen, wird in Scherwaths Buch vermisst. Tagtäglich sehen wir Eltern, die statt in Resonanz mit ihrem Nachwuchs zu gehen, die Kommunikation mit digitalen Medien vorziehen. Nicht das Kind scheint im Mittelpunkt zu stehen, sondern das, was das Handy hergibt. Dieses Verhalten der Eltern kommt dem, was im Buch unter dem Aspekt „Einstellen von Resonanz - Ignorieren als Bindungsstrafe“ (S. 109) beschrieben und erklärt wird, nah. Der Mechanismus, der auf die Kinder in solchen Situationen einwirkt, ist der gleiche: das Verhalten der Eltern wirkt wie diese Form der Bestrafung durch Ignorieren. „Hier wird…mit der Urangst des Kindes gespielt. Nichtbeachtung ist eine gezielte Form des Liebesbezugs. Das Kind … verliert seine Existenz und Wirksamkeit in der Welt. Dies löst in jedem Kind tiefe Verzweiflung und Ohnmachtsgefühle aus.
Die Erkenntnisse und Erfahrungen der Autorin lassen sich auch sehr gut auf die (päd-)agogische Begleitung in anderen Arbeitsfeldern übertragen. An vielen Stellen im Text finden sich Parallelen zur Arbeit mit Menschen mit Beeinträchtigungen, die Verhalten zeigen, das herausfordert. Mitarbeitende haben eine Vorbilderfunktion und bedürfen eines Wissens über die eigene Erziehungsgeschichte, Hemmnisse und Verwundungen. Eine ressourcenorientierte Lebensweise sichert die Basis, Kraftquellen sind zu nutzen und Strategien zur Selbstregulation einzusetzen wie z.B. Energien können auch aus der Teamarbeit geschöpft werden.
Teamarbeit als Basislager
Die Autorin schließt das Buch mit diesem Bild ab: die Arbeit von Fachkräften kann mit einer Bergwanderung verglichen werden. Die Arbeit im Team bildet ein Basislager, einen Stützpunkt pädagogischer Arbeit. Vom Basislager beginnt die Wanderung, es werden Absprachen getroffen, es dient auch dem Schutz bei schlechtem Wetter oder der Versorgung und Regeneration der Wandernden. Die Arbeit im Team ist wesentlich leichter, wenn die Mitglieder sich untereinander unterstützen, jeder die Bereitschaft zeigt, Verantwortung zu übernehmen und wo auch neben der praktischen Unterstützung gegenseitig Trost gespendet wird. Es geht um „empathisches Verstehen, Resonanz und Mitgefühl“ - Zutaten, die regenerative Prozesse unterstützen (S. 127). Genauso braucht es ein Gegenüber, besonders dann, wenn eine Mitarbeitende*r an Grenzen gekommen ist und z.B. eine zu betreuende Personen angeschrien oder anderweitig erniedrigt hat. Kollegiale Loyalität darf niemals über der faktischen und emotionalen Sicherheit gestellt werden, manchmal braucht es ein beherztes Eingreifen und Beistand in dieser Situation.