Demenz ist eine Erkrankung, die nicht nur das Gedächtnis, sondern auch die Persönlichkeit und die Selbstwahrnehmung der Betroffenen auslöscht. Sie ist eine Herausforderung für die Kranken selbst, aber auch für ihre Angehörigen, die oft hilflos zusehen müssen, wie ein geliebter Mensch langsam verschwindet. Die britische Autorin Nicci Gerrard, bekannt unter dem Pseudonym Nicci French, hat sich in ihrem Buch "Was Demenz uns über die Liebe sagt" intensiv mit diesem Thema auseinandergesetzt. Ausgehend von den Erfahrungen mit ihrem eigenen Vater, der zehn Jahre an Demenz litt, schildert sie die medizinischen, philosophischen und vor allem menschlichen Aspekte dieser Krankheit.
Der persönliche Bezug: Nicci Gerrards Erfahrung
Nicci Gerrard erfuhr am Schicksal ihres Vaters, wie hilflos demente Menschen sind und wie schmerzhaft das auch für deren Angehörige ist. Nach zehnjährigem Leiden entschloss sie sich, dieses Buch zu schreiben. Wie ein roter Faden durchzieht die bewegende Schilderung ihrer persönlichen Erfahrung diesen Text. Sie berichtet, wie ihr Vater zunächst recht gut mit seiner Erkrankung zurechtkam, seine Frau kannte und liebte, mit seinen Freunden reden und sich an seine Vergangenheit erinnern konnte. Doch sein Zustand verschlechterte sich rasant, als er wegen Beingeschwüren ins Krankenhaus musste. Für Nicci Gerrard fühlt es sich bis heute noch an, als hätten sie ihn verlassen, und sie fühlt sich deshalb immer noch schuldig.
Reportage, Philosophie und Mitmenschlichkeit
Gerrards Buch ist teils Reportage über die medizinischen Zusammenhänge und den unwürdigen Umgang mit den Betroffenen in Kliniken und Heimen, teils philosophische Betrachtung über das Erinnern. Die Autorin erlebt in unserer Gesellschaft eine große Gefühlskälte gegenüber den Erkrankten, die nicht mehr selbst für sich einstehen können. Dem setzt sie viele Beispiele entgegen, die Hoffnung machen. Es ist ein in seiner Vielschichtigkeit ganz besonderes Buch, das durch sein Engagement, seine Wärme und Mitmenschlichkeit besticht.
Die Gefühlskälte der Gesellschaft
Gerrard prangert die Gefühlskälte an, die sie in der Gesellschaft gegenüber Demenzkranken wahrnimmt. Sie erzählt von einer Episode in einem Restaurant, als eine Kellnerin über ihren Vater, der Schwierigkeiten beim Bestellen hatte, die Augen rollte. Solche Situationen, die für Außenstehende vielleicht komisch erscheinen mögen, sind für Betroffene und ihre Angehörigen eine grausame Realität.
Gespräche mit Betroffenen und Angehörigen
Um ein umfassendes Bild der Krankheit zu zeichnen, hat Gerrard mit vielen Menschen gesprochen: mit Ehepartnern von Dementen, mit ihren Kindern, mit Freunden, mit Pflegern, Ärzten und Krankenschwestern. Sie alle versuchen, der Krankheit zu begegnen, die so schnell das Stadium drolliger Vergesslichkeit verlässt, um zu einem identitätsauslöschenden Moloch zu werden.
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Das Selbstporträt eines dementen Künstlers
Eines dieser Gespräche führte sie mit Patricia Utermohlen, der Ehefrau des Künstlers William Utermohlen, der sich selbst in den verschiedenen Phasen der Krankheit malte. Diese Selbstporträts sind ein wohl einzigartiges Zeugnis der Auslöschung eines Menschen, der sich selbst beobachtet. Pat Utermohlen, die ihren Mann trotz der Krankheit überallhin mitgenommen hat, enthüllt ohne Scheu, dass sie selbst sehr wohl oft Scham empfunden hat, beispielsweise wenn er seinen Darm „an den unpassendsten Orten entleerte. Das war ein Albtraum und sehr peinlich.“ Sie möchte, dass andere, gleichfalls Pflegende, wissen, „dass sie sich ihrer Schamgefühle nicht zu schämen brauchen.“
Angst vor der eigenen Zukunft
Wer einen dementen Familienangehörigen begleitet, bekommt oft selbst Angst, dass ihn das Los der Krankheit irgendwann treffen wird. Typischerweise ist das der Zeitraum zwischen 50 und 60: „Menschen Ihres Alters“, sagt die Ärztin der Gedächtnisambulanz, die Nicci Gerrard ziemlich verstört aufsucht, „bekommen allmählich Angst vor dem Nachlassen ihres Gedächtnisses. Mit dem Alter bereitet das Denken und Erinnern mehr Mühe. Ein Großteil der Vergesslichkeit ist altersbedingt und unproblematisch. Wir alle werden vergesslicher, wenn wir älter werden, das ist normal und natürlich und gehört zum Altersprozess.“ Aber: „Demenz ist nicht natürlich, sondern eine Krankheit.“
Der Versuch, die Welt der Dementen zu betreten
Gerrard geht auf die Suche nach Orten, an denen man Demenzkranke dort abholt, wo sie stehen. Sie besucht ein Heim im englischen Berkshire, in dem die Bewohner in einer anregenden und sicheren Umgebung leben können. „Jedes Bewohnerzimmer hat seine nummerierte Eingangstür mit einem kleinen Fenster daneben, in dem Gegenstände und Bilder stehen, die sich die Bewohner selbst ausgesucht haben. (….) Es gibt kleine Wohnzimmer, ein Kino, einen echten Laden (…) Die Gebäude wurden rund geplant, sodass Sackgassen entfallen; die Bewohner können weit laufen, ohne sich zu verirren (…) Nachts tragen die Mitarbeiter Schlafanzüge; so wissen die Bewohner, wenn sie nachts aufwachen, dass es noch nicht Zeit zum Aufstehen ist.“ Die Heimleiterin erklärt: „Wir versuchen, ihre Welt zu betreten.“
Das Wedeln mit der Gabel: Ein Sinnbild für das Leben
Am Ende des Buches beobachtet die Autorin einen Mann, der an einer belebten Kreuzung steht und mit einer Gabel in der Luft herumwedelt. Sie erfährt nach seinem Tod in Nachrufen, dass er ein Psychoanalytiker und brillanter Musikwissenschaftler gewesen war. Er hat mit seiner Gabel vermutlich den Verkehr dirigiert „zu innerlich gehörter Musik“. Gerrard wird sehr nachdenklich: „Wenn wir zur Welt kommen, haben wir rein gar nichts; nach und nach bauen wir den weitläufigen, reich ausgestatteten Palast unseres Selbst auf: Sprache, Wissen, Beziehungen, Besitztümer, Erfahrungen, Erinnerungen und Liebe. Vor allem Erinnerungen und Liebe. All das fällt weg, wenn das Leben zum Zustand des Nichts zurückkehrt. Wenn wir nicht einmal mehr sagen können: „Ich bin“. Wenn wir gar nichts mehr können. Und doch wedelt der alte Mann mit seiner Gabel in der Luft herum. Vielleicht hört er Musik.“
Demenz und die Liebe: Eine schwierige Beziehung
Gerrard betont, dass Demenz uns lehrt, wie schwierig Liebe ist. Wir hören nicht auf, jemanden zu lieben, wenn er dement ist. Gleichwohl ist es hart, wenn jemand, den man liebt, Demenz hat. Man muss teilweise zehn bis 20 Jahre lang ihr Pfleger sein. Es ist schrecklich, wie einsam sich auch Angehörige dadurch fühlen können. Was Demenz uns auch über die Liebe sagt, ist, wie schmerzhaft das Leben ist. Menschen mit Demenz, die allein gelassen werden, sterben mit einem gebrochenen Herzen.
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Was wir über Demenz wissen sollten
Gerrard hätte gerne gewusst, dass im Laufe der Krankheit ein Stadium erreicht wird, in dem man nicht mehr versuchen kann, Betroffene in der Welt zu behalten, die sie verlassen. Man muss irgendwann ihre Welt betreten. Am Anfang werden viele Angehörige oder Pfleger Demenzkranke ständig korrigieren: Nein, es ist nicht Samstag, nein, ich bin nicht deine Mutter, und nein, diese Erinnerung ist nicht korrekt. Das ist sehr grausam. Irgendwann muss man damit aufhören, ihnen zu widersprechen, und sie stattdessen in ihrer Welt begleiten. Denn es muss für Betroffene so beängstigend sein, wenn man ständig daran erinnert wird, dass das, was sie sagen, nicht wahr ist. Für Angehörige ist es aber auch sehr wichtig, dass sie Zeit für sich selbst haben und sich nicht in dieser Welt einsperren.
Die Angst vor der Krankheit
Gerrard gibt zu, dass sie sehr große Angst vor Demenz hat, weil sie uns alles nimmt, was wir lieben. Der Gedanke, dass sich ihre Kinder irgendwann um sie so kümmern könnten, wie sie sich um ihren Vater gekümmert hat, erfüllt sie mit Schrecken. Sie möchte nicht, dass ihre Kinder sie waschen oder füttern - sie möchte vorher gehen. Sie würde lieber die Party verlassen wollen, während sie noch Spaß an ihr hat, als zu verweilen, bis ihre Zeit gekommen ist.
Sterbehilfe als Option?
Gerrard spricht mit einem Paar in den Niederlanden, einem Land, in dem Sterbehilfe legal ist. Sie haben sich dafür entschieden, sich gegenseitig in ihrer Patientenverfügung als Bevollmächtigten einzusetzen. Sprich: Wenn einer an Demenz erkrankt, soll der Partner darüber entscheiden können, wann der Erkrankte in Würde sterben soll. Gerrard würde es wie das Paar machen, wenn es im Vereinigten Königreich erlaubt wäre - und zwar ohne zu zögern.
Wertschätzung für Demenzkranke
Gleichzeitig betont Gerrard, dass es auch Menschen gibt, die recht glücklich mit Demenz leben. Sie erzählt von ihren Erfahrungen, als sie mit Betroffenen getanzt und gesungen hat, und wie viel Freude man daran empfinden kann, mit Demenzkranken Zeit zu verbringen. Das liegt unter anderem daran, dass sie viele ihrer Hemmungen verloren haben und sie offener dafür sind, wer sie sind und wie sie sich fühlen. Das kann eine wundervolle Erfahrung sein. Das müssen Demenzkranke auch wissen: Sie sind nicht weniger wert oder weniger weise als andere. Gerrard möchte, dass wir in einer Gesellschaft alle Menschen mit Demenz wertschätzen - selbst wenn sie nicht mehr so viel von sich selbst in sich haben.
John's Campaign: Mehr Besuchsrechte für Angehörige
Dafür setzt sie sich auch mit ihrer nach ihrem Vater benannten Kampagne „John‘s Campaign“ ein. Seit 2014 kämpfen Sie dafür, dass Pfleger und Angehörige von Demenzkranken, die im Krankenhaus behandelt werden, mehr Besuchsrechte haben. Vor welche Herausforderungen stellt Sie die Corona-Krise? Wir befinden uns gerade im Gerichtsstreit mit der Regierung wegen des Umgangs mit alten und kranken Menschen in der Pandemie. Viele Pflegeheime im Vereinigten Königreich haben am Anfang der Pandemie in ihren Statistiken nicht mal die Menschen gezählt, die in den Einrichtungen an oder mit Covid-19 gestorben sind. Warum - weil ihre Tode nicht zählen? Als sie dann doch gezählt wurden, sahen sie, wie viele Menschen daran gestorben sind. Daraufhin haben sie alles geschlossen, sodass ihre Familien und Angehörige nicht zu Besuch kommen konnten. Manche haben ihre Liebsten über ein Jahr lang nicht gesehen und konnten sie nicht daran erinnern, wer sie sind und dass sie geliebt sind. In einem Fall durfte eine blinde Mutter nur durch ein Fenster mit ihren Kindern reden. Wie grausam kann man sein? Es ist ein Skandal, wie wir die Älteren in der Gesellschaft behandeln.
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Ein Plädoyer für mehr Menschlichkeit
Gerrard plädiert für einen grundlegenden Wandel im gesellschaftlichen Umgang mit Demenzkranken. Wir müssen aufhören, Alter und Krankheit als etwas anzusehen, für das man sich schämen muss. Sie kritisiert, dass es sehr viele Demenzorganisationen gibt, aber wenige Demenzkranke im Vorstand haben.