Lieder über Demenz: Erfahrungen und die Kraft der Musik

Demenz stellt eine der größten Herausforderungen unserer alternden Gesellschaft dar. Betroffene verlieren nach und nach Teile ihrer Identität - Namen, Gesichter und Erlebnisse entgleiten ihnen. Doch ein Bereich bleibt oft erstaunlich lange erhalten: die Verbindung zur Musik. Musik kann Menschen mit Demenz häufig noch erreichen, auch wenn sie sich sonst nicht mehr verbal ausdrücken können. Musik setzt bei den Emotionen an und holt Menschen mit Demenz auf einer emotionalen Ebene ab.

Die Bedeutung von Musiktherapie bei Demenz

Wenn Sprache und Gedächtnis nachlassen, kann Musik zum rettenden Anker werden. Musik wird im Gehirn in Bereichen verarbeitet, die von der Demenz oft erst spät oder gar nicht betroffen sind. Musiktherapeut*innen beschreiben Musik deshalb als Schlüssel zur Vergangenheit. Ein altes Volkslied oder der Lieblingsschlager von früher kann daher Erinnerungen und Gefühle hervorrufen, die scheinbar verloren waren.

Wie Musik Erinnerungen weckt

Musik weckt Erinnerungen - ein altes Lied im Radio kann uns augenblicklich in unsere Jugend zurückversetzen. Vertrautes aus ihrer frühen Vergangenheit können sich Menschen mit Demenz häufig noch gut erinnern. Mit Zufall hat das nicht viel zu tun - sondern mit der Art und Weise, wie unser Gedächtnis funktioniert. Menschen mit Demenz erinnern sich oft an Lieder aus der Kindheit, nicht aber an ihre Ehe. Warum? Das Langzeitgedächtnis besteht aber aus zwei unterschiedlichen Gedächtnissystemen: In einem werden Namen, Geburtstage, Allgemeinwissen und derlei Daten gespeichert. Das ist das semantische Gedächtnis. Diese Inhalte kann man bewusst abrufen, etwa in einer Prüfung. Daneben gibt es aber noch das prozedurale Gedächtnis, in dem lang eingeübte Handlungen abgespeichert sind - zum Beispiel Auto oder Fahrrad fahren. Aber auch Melodien, Kinderreime oder wie man Klavier spielt sind dort dauerhaft abrufbar. Die Gehirnareale, in denen sich vielfach aufgesagte Gedichte, altbekannte Lieder oder auch Tanzschritte befinden, sind weniger vom Abbau betroffen als Gehirnbereiche, in denen Fakten gespeichert werden. Dinge, die wir in jungen Jahren häufig erlebt oder wiederholt haben, bleiben also oft als Erinnerung erhalten.

Nonverbale Kommunikation und emotionale Ausdruck

Auch die nonverbale Kommunikation wird durch Musik erleichtert. Rhythmus, Melodie und Takt sprechen direkt die Gefühlswelt an. Ein fröhliches Marschlied kann Aufmunterung bringen, ein beruhigendes Wiegenlied Ängste nehmen. Oft entwickeln Patienten im Takt der Musik spontane Bewegungen - sie klopfen mit dem Fuß, wiegen den Oberkörper oder fangen sogar an zu tanzen. Diese Körpersprache zur Musik ermöglicht einen emotionalen Ausdruck ohne Worte.

Die Wirkung von Musiktherapie

Musiktherapie ist mehr als nur ein bisschen Singen im Aufenthaltsraum. Sie folgt einem gezielten Konzept, um das Wohlbefinden von Menschen mit Demenz zu steigern. Musik senkt nachweislich den Pegel an Stresshormonen. Langsame, vertraute Melodien helfen unruhigen oder ängstlichen Patienten, sich zu entspannen. Viele Demenzkranke zeigen phasenweise herausforderndes Verhalten wie Aggression oder ständige Unruhe. Musiktherapie hat sich als sanftes Mittel erwiesen, um solche Verhaltensstörungen abzuschwächen.

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Erinnerungen und Emotionen

Wie bereits beschrieben, können bekannte Lieder verschüttete Erinnerungen an früher wachrufen. Plötzlich erkennen Patienten eine Melodie und erzählen - so gut sie können - von einem längst vergangenen Moment. Musik schafft Freude und Tränen zugleich - sie holt Emotionen an die Oberfläche. Gerade Depression und Apathie, unter denen viele Demenzpatienten leiden, lassen sich durch regelmäßige musikalische Angebote lindern. Die Betroffenen wirken nach einer Musik-Session oft gelöster und zufrieden.

Förderung des Miteinanders

Gemeinsames Musizieren in der Gruppe fördert das Miteinander. Die Patient*innen nehmen ihre Mitmenschen bewusster wahr, singen im Chor oder musizieren im kleinen Kreis zusammen. Dieses Gemeinschaftsgefühl beugt Vereinsamung vor.

Verbesserung der Lebensqualität

Eine Heilung der Demenz ist durch Musiktherapie nicht möglich. Die Krankheit schreitet fort. Aber die Therapie verbessert die Lebensqualität spürbar. Oft kann sogar der Medikamenteneinsatz (etwa Beruhigungsmittel) reduziert werden, wenn stattdessen regelmäßige musische Aktivitäten stattfinden.

Praktische Tipps für den Alltag

Auch Angehörige oder Pflegekräfte können mit ein paar einfachen Mitteln den Alltag Demenzkranker musikalisch bereichern.

  • Musikliste erstellen: Stellen Sie eine Musikliste mit den Lieblingsliedern der Person zusammen - idealerweise Songs aus ihrer Jugend oder frühen Erwachsenenzeit (häufig 1950er- bis 1970er-Jahre, je nach Alter). Alte Schlager, Kirchenlieder oder Volksmusik, die positive Erinnerungen wecken, eignen sich besonders.
  • Musik in den Tagesablauf integrieren: Integrieren Sie Musik gezielt in den Tagesablauf. Zum Beispiel ein Guten-Morgen-Lied jeden Tag nach dem Aufstehen oder ruhige Entspannungsmusik vor dem Schlafengehen. Solche Rituale geben Struktur und Sicherheit.
  • Mitsingen: Scheuen Sie sich nicht, selbst mitzusingen - auch wenn kein Instrument verfügbar ist. Ein bekanntes Kinderlied zusammen zu trällern oder beim Kaffeetrinken die Melodie eines alten Hits zu summen, kann die Stimmung heben.
  • Rhythmusinstrumente nutzen: Rhythmusinstrumente wie Trommeln, Schellen oder Klanghölzer laden zum Mitmachen ein. Selbst Menschen, die kognitiv stark eingeschränkt sind, trommeln oft intuitiv zum Takt, wenn man ihnen eine Handtrommel gibt. Auch das Schlagen eines Holzklotzes oder das Klimpern auf einem Xylofon kann Spaß machen.
  • Bewegung zur Musik: Falls es der körperliche Zustand zulässt, animieren Sie zu Bewegung zur Musik. Das kann leichtes Wiegen im Sitzen, rhythmisches Klatschen oder sogar ein Tänzchen sein.

Erfahrungen von Musiktherapeuten und Angehörigen

Tabea Thurn, eine Musiktherapeutin, berichtet von ihren Erfahrungen mit Demenzpatienten. Sie erzählt von einem Mann mit beginnender Demenz, der durch kirchliche Musik und Lieder noch zu erreichen war. Sie betont, dass es Areale im Gehirn gibt, die vom demenziellen Verfall wenig betroffen sind und für das musikalische Langzeitgedächtnis und die Verortung von Rhythmus relevant sind.

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Individuelle Unterschiede

Allerdings weist Tabea Thurn darauf hin, dass Musik kein Patentrezept ist. Bei einem Mann mit frontotemporaler Demenz, der Sänger in einem Gesangverein war, konnte die Familie ihn leider nicht mehr über Musik erreichen. Sie betont, dass es wichtig ist, die Musik der Jugend oder aus dem jungen Erwachsenenalter auszuprobieren, um herauszufinden, welche Musik eine positive Wirkung hat. Oft funktionieren Kinderlieder und Weihnachtslieder überraschenderweise gut.

Emotionale Wirkung

Tabea Thurn erklärt, dass Musik bei den Emotionen ansetzt und Menschen mit Demenz auf einer emotionalen Ebene abholt. In der Demenz gewinnt die emotionale und sinnliche Wahrnehmung an Bedeutung, und hier dockt die Musik an. Sie regt zur Bewegung an oder löst positive Emotionen aus.

Ermutigung zum Ausprobieren

Tabea Thurn ermutigt Angehörige, es einfach auszuprobieren und ein Lied mitzunehmen, wenn sie einen Angehörigen besuchen. Sie empfiehlt, zu überlegen, welche Musik im Leben eine Rolle gespielt hat, welche Lieder gesungen oder welche Musik gehört wurde. Sie rät, mutig zu sein, auch in Situationen, die vielleicht unangebracht scheinen oder wenn man das Gefühl hat, die Person ist traurig oder schlecht drauf - trotzdem Musik anzumachen.

Künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Demenz

In den letzten Jahren setzen sich immer mehr Künstlerinnen und Künstler mit dem Thema Demenz auseinander. Meistens sind sie der Krankheit in der Familie oder im näheren Umfeld begegnet. Ein Beispiel ist der junge Sänger Equa Tu (alias Hauke Löber aus dem Münsterland), der das Thema Alzheimer-Demenz aus seiner eigenen Familie kennt. Anlässlich des Welt-Alzheimertags veröffentlichte er seinen berührenden Song „Meine Oma“. Er will damit das Thema Demenz in die Öffentlichkeit rücken und gerade jüngere Menschen sensibilisieren, die bisher vielleicht noch nicht damit in Berührung gekommen sind. Im Text heißt es: „Du willst wissen wie ich heiß‘. Ich sag dir meinen Namen nochmal, wir haben Zeit … Meine Oma hat alles vergessen, nur die Lieder nicht.“

Forschungsergebnisse und Studien

Die Forschung untermauert zunehmend, was in der Praxis schon lange beobachtet wird: Regelmäßige musikalische Förderung verbessert Stimmung, Verhalten und oft auch die geistige Ansprechbarkeit von Demenzkranken.

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Neuronale Aktivität und Nostalgie

Eine Studie aus dem Journal »Human Brain Mapping« zeigt, warum Musik ein wirksames Instrument sein kann, Menschen mit Alzheimer und anderen Gedächtnisstörungen zu helfen, in Kontakt mit ihrer Vergangenheit kommen. Auf den Kernspintomografie-Aufnahmen entdeckten die Forschenden eine neuronale Signatur und eine entsprechende Gehirnaktivität, während die Studienteilnehmenden den selbst gewählten Musikstücken lauschten. Musik löst eine Nostalgie aus, die neuronale Aktivierungs- und funktionelle Konnektivitätsmuster unterstützten. Den Forschenden zufolge unterscheidet sich die Aktivierung der Nostalgieregionen deutlich von einer musikalischen Vertrautheit, die etwa durch akustische Merkmale oder den Musikstil entstehen.

Stresshormone und Wohlbefinden

In einem Chor für Menschen mit Demenz verbesserte sich das emotionale Wohlbefinden der Sängerinnen und Sänger nachweislich. Sie hatten zudem weniger Stresshormone im Körper, und auch die Stimmung der Angehörigen hellte sich auf. Eine positive Erfahrung zum Beispiel von einer Chorstunde wirkt mehrere Tage nach.

Herausforderungen und Perspektiven

Trotz der positiven Auswirkungen der Musiktherapie gibt es noch Herausforderungen. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft warnt, dass ohne einen Durchbruch in Prävention oder Therapie die Zahl der Demenzkranken in Deutschland im Jahr 2050 auf bis zu 2,7 Millionen Menschen ansteigen könnte. Es ist daher wichtig, das Potenzial der Musiktherapie weiter auszuschöpfen und in die Forschung zu investieren.

Einbeziehung aller Beteiligten

Die Forschenden um Naomi Thompson vom Institut für Musiktherapieforschung an der Anglia Ruskin University in Cambridge empfehlen, dass alle an der Pflege beteiligten Menschen in die Musiktherapie mit einbezogen werden und etwa individuelle Wiedergabelisten erstellen.

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